Zehn Jahre ist es nun her, dass sich Hunderttausende Menschen das Recht auf Bewegungsfreiheit erkämpften. Von Kriegs- und Krisenregionen in Ländern wie Syrien und Afghanistan aus machten sie sich auf den Weg in die Türkei. Sie überquerten zu Fuß Gebirge und legten hunderte von Kilometern zurück. Mittels Schlauchbooten erreichten sie die griechischen Inseln und reisten von dort aus weiter entlang der sogenannten Balkanroute. In Ungarn brachen sie aus dem Lager Röszke aus und machten sich auf den Weg nach Westen. Im griechischen Idomeni überwanden sie unter Tränengas-Beschuss Zäune mit Stacheldraht und kämpften sich durch den Grenzfluss nach Mazedonien. Viele Menschen in Europa erkannten die Zeichen der Zeit und taten das ihre: Moscheen und Kirchen in Serbien und Mazedonien beherbergten Menschen auf der Durchreise, Anwohner:innen versorgten sie mit Essen. Aktivist:innen aus ganz Europa halfen Booten in Griechenland beim Anlanden, verteilten entlang der sogenannten Balkanroute Kleidung, scouteten Reiserouten und statteten die Menschen mit dem Nötigsten für tagelange Märsche aus. Auch in Deutschland öffneten Gemeinden Häuser und Turnhallen, Freiwillige halfen beim Ankommen und gaben Sprachunterricht. Das Wort Willkommenskultur war in aller Munde.
Der sogenannte Sommer der Migration brachte dem europäischen Grenzregime eine historische Niederlage bei. Das jahrelang erbaute System der selektiven Abschottung – prominent geprägt durch die Europäische Grenzschutzagentur Frontex, das Dublin-Abkommen und Migrationsdeals mit nordafrikanischen Staaten – brach in wenigen Tagen weitgehend zusammen. Bundeskanzlerin Merkel erklärte vor dem europäischen Parlament: „Selbst wenn wir versuchen würden, uns vollständig abzuschotten, wäre damit niemandem gedient – auch uns selbst in Europa nicht.“ Deutlich wurde, dass sich das Globale nicht durch Mauern vor der Tür halten lässt; und dass keine Grenze für immer ist.
Europa geriet 2015 in Bewegung, damit auch medico. Schon viele Jahre hatten wir zur Externalisierungspolitik der Europäischen Union, der Auslagerung des Grenzschutzes auf den afrikanischen Kontinent, gearbeitet. Gemeinsam mit Partnerorganisationen in Mauretanien, Mali, Marokko und Niger klagten wir die Instrumentalisierung von Entwicklungszusammenarbeit für Migrationsabkommen und die Auslagerung der Folgen unserer imperialen Lebensweise an. Mit der Fluchtbewegung von 2015 folgten wir den Routen und erweiterten unsere Arbeit zunehmend an die europäischen Außengrenzen und ins Innere Europas. So unterstützte medico gemeinsam mit moving europe den Info-Bus, der Menschen auf der Balkanroute unabhängige Informationen zur Verfügung stellte und Netzwerke entlang der Route ausbaute.
Das Grenzregime schlägt zurück
Doch der Wind drehte sich, schnell und heftig. Wie in einem Domino schlossen die Staaten entlang der sogenannten Balkanroute ihre Grenzen. Kroatien, Slowenien und Mazedonien folgten dem Beispiel Ungarns und errichteten massive Grenzzäune mit Nato-Stacheldraht. Es entstanden Bilder von Menschen, die über Monate in Orten wie Idomeni vor der mazedonischen Grenze und in Bihać vor der kroatischen Grenze festsaßen; die in Calais vor dem Ärmelkanal in Zelten ausharrten; die mit Tränengas beschossen und von Bereitschaftspolizei und Militär attackiert wurden. Im März 2016 wurde der EU-Türkei-Deal geschlossen, mit katastrophalen Folgen: Aus den Hotspot-Zentren auf den griechischen Inseln, die der Registrierung dienten, wurden Freiluftgefängnisse. So entstand auch das berüchtigte Lager Moria auf Lesbos. Eben dort unterstützte medico die Selbstorganisation von Geflüchteten und lokale Solidaritätsstrukturen. In Athen wurde das Hotel City Plaza für Geflüchtete geöffnet und von medico unterstützt. Im „besten Hotel Europas“ entstand ein selbstverwaltetes, solidarisches Wohnprojekt, in dem 400 Menschen Zuflucht fanden.
An dem politischen Backlash ändert das nichts. Es dauerte kein Jahr, bis Merkels „Wir schaffen das“ in den Satz „2015 kann, darf und soll sich nicht wiederholen“ umgeschlagen war. Der demokratischer Aufbruch wurde zum inakzeptablen Kontrollverlust umgedeutet, die Krise des Europäischen Grenzregimes zur „Flüchtlingskrise“. Seither prägt die Rhetorik der „Überforderung“ die europäische Migrationspolitik. Auch die Bundesregierung verschärfte in den folgenden Jahren ihre Abschiebungspolitik und die sogenannte „freiwillige Rückkehr“ – Programme, die Menschen zur Ausreise bringen sollten. Als Reaktion hierauf veröffentlichte medico die Dokumentationswebsite „Rückkehr Watch“, die aufzeigt, wie viel Zwang hinter der angeblichen Freiwilligkeit steckt. Parallel baute medico die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen, die Menschen nach Abschiebung und Rückkehr begleiten, aus: in Ländern wie Afghanistan mit AMSO, in Mali mit der AME oder Sierra Leone mit NEAS.
Die Ereignisse von 2015 lösten auch eine Auseinandersetzung um das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) aus. Die Europäische Kommission erhoffte sich eine „Vertiefung der Europäisierung“: Anfangs ging es dabei neben eines einheitlichen Abschottungs- auch um einem gemeinsames Aufnahmesystem und die Etablierung von Grundrechtsstandards. Doch im Verhandlungsprozess ging dieser Ansatz fast vollständig verloren. Die Staaten einigten sich vor allem darauf, die Migrationsabwehr zu verstärken und noch weiter vorzuverlagern, die Grenzen aufzurüsten, Lager- und Haftsysteme auszubauen und Grundrechtsstandards abzusenken. Der Prozess der Renationalisierung verstärkte sich und die europäische Abschottungspolitik wurde immer gewaltvoller: Es kam zur Normalisierung illegaler und gewaltvoller Praktiken wie Pushbacks, die das Grenzregime bis heute fundamental prägen.
Vorläufiger Höhepunkt dieser Entrechtungspolitik war 2020 der „Neue Pakt für Migration und Asyl“ 2020, jenem Jahr, in dem auch das Lager Moria in Flammen aufging – ein loderndes Symbol der gescheiterten europäischen Flüchtlingspolitik. Ersetzt wurden Moria und andere Lager durch die dystopisch anmutenden Closed Controlled Access Centres (CCACs) auf den griechischen Inseln, in denen zwischen Stacheldraht und Sicherheitsschleusen modernste KI-gesteuerte Überwachungstechnologie zum Einsatz kommt. Die EU-finanzierten Lager gelten als die neue Infrastruktur des GEAS, das bis 2026 von den EU-Staaten in nationales Recht überführt werden soll. In Reaktion hierauf weitete medico die Unterstützung von Partnerorganisationen aus, die sich gegen das Lagersystem und für menschenwürdige Unterbringung einsetzen, sei es auf Lesbos das Welcome Office, das die Selbstorganisation geflüchteter Frauen und queerer Menschen begleitet, oder das Legal Centre Lesvos, das sich illegalen Pushbacks-Praktiken mit juristischen Mitteln entgegenstellt. 2022 gründe sich in Italien das Willkommens-Netzwerk Maldusa, das auf See und an Land aktiv ist. medico unterstützt ihr soziales Zentrum in der sizilianischen Stadt Palermo und eine Monitoring-Station auf Lampedusa.
Neue Fluchtrouten und selektive Menschenrechte
2021 bildete sich eine neue Fluchtroute über Belarus nach Europa. Damit rückte die ausgelagerte und damit weitgehend unsichtbar gemachte europäische Grenzgewalt erneut näher an Deutschland heran. Schutzsuchende Menschen reisten per Flugzeug aus Ländern wie dem Irak nach Belarus und versuchten von dort aus, die grüne Grenze nach Polen zu überqueren. Der belarussische Machthaber Lukaschenko erleichterte ihnen die Einreise mit dem Ziel, die EU zu destabilisieren. Anstatt die angestrebte Eskalation zu verweigern und Menschen angemessen in Empfang zu nehmen, ließen sich Polen und die EU auf die Provokation ein. Asylsuchende Menschen wurden als „hybride Waffen“ gelabelt und in den Wäldern im Grenzgebiet von Militär und Grenzpolizei gewaltsam festgesetzt. Bis heute versuchen dort Hunderte, über den inzwischen hochgerüsteten Grenzzaun nach Europa zu gelangen. Die Grupa Granica, ein Zusammenschluss von lokalen Aktivist:innen, versorgt die Menschen mit dem Nötigsten, um ihr Überleben zu sichern – Essen, Kleidern und Medizin. Seit 2021 unterstützt medico das Netzwerk, aktuell zudem die Helsinki Foundation for Human Rights und das Szpila Kollektiv, die das Recht auf humanitäre Hilfe vor Ort praktisch und juristisch verteidigen.
Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 erlebte Europa neuerlich einen Moment der „Willkommenskultur“. Hunderttausende fliehende Ukrainer:innen wurden an polnischen und deutschen Bahnhöfen in Empfang genommen. Die mehrheitlich weiße Fluchtbewegung aus der Ukraine wurde anders wahrgenommen als jene Menschen, die gleichzeitig über die belarussische Grenze kamen: Sie galten als der Solidarität und des Schutzes würdig, die Rhetorik der „Überforderung“ blieb außen vor. In diesem Geiste aktivierte die EU die sogenannte Massenzustromsrichtlinie und umging damit die Asylbürokratie. medico unterstützte vor allem diejenigen Geflüchteten, die von der staatlichen Solidarität weitgehend ausgenommen waren: Schwarze Menschen und Roma und Romnja. Gemeinsam mit Asmara’s World organisierten wir Transporte nach Polen und Deutschland. In Warschau und an der ukrainischen Grenze leistet die Partnerorganisation Towards Dialogue bis heute die nötige Hilfe für ankommende Romn:ja.
Im Sommer der Migration hatte sich die östliche Migrationsroute nach Europa, aus Afghanistan über den Iran und aus Syrien über den Libanon bis in die Türkei, etabliert. Daher weiteten auch wir unsere Unterstützungsarbeit an die vorverlagerten Grenzen der EU in Asien aus – wie mit unserem Partner Cedar Centre for Legal Studies, eine Anwaltskanzlei, die Geflüchtete aus Syrien unterstützt. Auch in den afghanisch-iranischen und iranisch-türkischen Grenzgebieten leisten medico-Partner:innen Unterstützung und verteidigen die Rechte der Migrierenden. Über das Bundesaufnahmeprogramm BAP haben wir uns zudem für die Aufnahme unserer Partner aus Afghanistan eingesetzt – bis es kürzlich abrupt ausgesetzt wurde. Und auch in Afrika entstanden neue Kooperationen. So begleiten wir seit 2024 die Organisation Boza Fii, die sich im Senegal gegen die europäische Abschottungspolitik einsetzt und Menschen unterstützt, die bei der Überfahrt auf die kanarischen Inseln zurückgepusht wurden.
In den letzten Jahren werden Grenzübertritte und humanitäre Hilfe immer drastischer kriminalisiert. Gegenwärtig verschärft die EU das sogenannte Facilitator’s Package, das die Beihilfe zur Grenzüberquerung kriminalisiert. Doch schon jetzt sitzen tausende geflüchtete Menschen in Europa im Gefängnis, mit dem Vorwurf anderen dabei geholfen zu haben, eine Grenze zu überqueren. Doch das militarisierte Grenzregime lässt den Menschen keine Wahl – wenn sie Asyl suchen wollen, sind sie auf Hilfe angewiesen. Deshalb hat medico 2024 den Fonds für Bewegungsfreiheit ins Leben gerufen. Damit unterstützen wir Menschen, die an den Rändern Europas unrechtmäßig inhaftiert sind oder sich verteidigen müssen. Wir finanzieren Prozess- und Anwaltskosten, unterstützen im Alltag und schaffen mit öffentlichen Kampagnen Aufmerksamkeit – weil Migration kein Verbrechen ist.
Was bleibt?
In den vergangenen zehn Jahren ist Europa weit nach rechts gerückt. In mehreren Ländern sind autoritäre Regierungen im Amt, in anderen droht eine rechte Machtübernahme. Der Grundstein hierfür wurde auch in einer von Rassismus und Chauvinismus durchzogenen Migrationspolitik gelegt. Konservative, liberale bis hin zu grün-alternativen Fraktionen haben dem nichts entgegengesetzt, sondern mitgemacht und ein repressives Grenzregime aufgebaut. In den letzten Monaten haben sich die Entwicklungen noch einmal zugespitzt. Das Asylrecht wird grundlegend in Frage gestellt, Aufnahmeprogramme werden ausgesetzt. Selbst die Einigungen, die im zehnjährigen Prozess um die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems getroffen wurden, gehen vielen Staaten nicht mehr weit genug, vereinbarte Gesetzespakete werden nicht in nationales Recht überführt. Obwohl die Zahl der Ankommenden aktuell vergleichsweise gering ist, wird auf einen vermeintlichen Notstand rekurriert. Die Bundesregierung weist Asylsuchende an der deutschen Grenze zurück und bricht dabei sehenden Auges mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der Dublin-Regelung, Schengen und der Genfer Flüchtlingskonvention. In Folge dessen war es für Polen und Griechenland ein Leichtes, das Recht auf Asyl auszusetzen und darauf zu hoffen, dass die EU-Kommission kein Vertragsverletzungsverfahren einleiten wird.
Aus dem politischen Sommer ist ein kalter Winter geworden, der weit über die Migrationspolitik hinausweist: Die Abschaffung von Asylrechten und die Entrechtung von Schutzsuchenden bedroht die Grundrechte aller und ist deshalb auch ein Angriff der auf die demokratische Gesellschaft als solche. Was bleibt, ist die Erfahrung von 2015, ein Impuls von unten, eine Bewegung mit einer demokratisierenden Kraft, die unsere Gesellschaft herausgefordert, bereichert und weiterentwickelt hat. Was möglich war, bleibt möglich.
Weltweit sind Menschen auf der Flucht vor Krieg, Armut und Hoffnungslosigkeit. Unsere Partnerorganisationen leisten humanitäre Nothilfe, medizinische Versorgung, psychologischen Beistand und Rechtsberatung für Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten. In Herkunfts- und Transitländern, bei uns, in Netzwerken der Solidarität. Für das Recht auf ein Leben in Würde – überall.