Migration

Vom Pfeifen im Walde

15.09.2025   Lesezeit: 10 min  
#migration 

Wie an der polnisch-belarussischen Grenze aus normalen Menschen mutige Fluchthelfer:innen wurden. Eine Reportage.

Von Valeria Hänsel und Kerem Schamberger

Ob sie nie Angst habe, wenn sie allein im Wald auf bewaffnete Soldaten trifft? Małgorzata Klemens winkt ab. „Ich habe zu viel gesehen, um Angst zu haben“, sagt sie fast beiläufig. Wir sitzen gemeinsam in ihrem Garten inmitten des Naturschutzgebiets von Bialowieza im Nordosten Polens. Um uns herum: satte Wiesen, Wald, zwitschernde Vögel. Auf dem Weg hierher haben wir uns immer wieder auf den sich zwischen Bäumen, Gräsern und Farnen verlierenden Sandwegen verfahren. Der Garten von Gosia, wie Małgorzata von allen nur genannt wird, ist ein kleines Paradies. Doch die Idylle wird immer wieder gestört: Auf dem ungeteerten Weg vor dem Haus rattern wiederholt Militärfahrzeuge vorbei. Das hat einen Grund: Nur wenige hundert Meter entfernt befindet sich der hochgerüstete Grenzzaun zu Belarus. Für Gosia ist die Militärpräsenz nicht nur Alltag, sondern auch eine Bedrohung. 2021 sind schwerbewaffnete Soldaten auf ihr Grundstück gekommen und haben ihr eine Waffe an den Kopf gehalten. Selbst das aber hat sie nicht davon abgehalten, zu bleiben. 

Gosia ist Fotografin. Vor Jahren hat sie sich in das abgelegene Waldgebiet zurückgezogen, um sich hier auf Naturfotografie zu spezialisieren. Aber es kam anders. Vor vier Jahren entwickelte sich eine neue Fluchtroute in die EU. Angeheizt durch den belarussischen Machthaber Lukaschenko, versuchten vermehrt Schutzsuchende – viele aus dem Irak, aber auch aus Afghanistan – von Belarus aus nach Polen zu gelangen. Damit begann sich der Bialowieza-Nationalpark und die Region Podlasie zu verwandeln: Aus dem Grenzgebiet wurde eine militärische Sperrzone. Auf der Jagd nach Geflüchteten patrouillieren Soldaten und Grenzpolizei durch die Wälder. Auch bewaffnete Bürgerwehren treiben im letzten Urwald Europas ihr Unwesen. Gosia bekommt all das hautnah mit. Die Naturfotografie ist dadurch in den Hintergrund getreten. Stattdessen hilft sie Menschen, die zu verhungern drohen. Und mit ihrer Kamera dokumentiert sie das Unrecht, das hier geschieht. 

Entgrenzte Gewalt und Pushbacks 

Zur Abschottung gegen Geflüchtete ist entlang der Grenze über fast 200 Kilometer ein massiver Zaun errichtet worden. Er ist 5,50 Meter hoch, mit doppeltem NATO-Stacheldraht mit besonders großen Klingen bestückt und mit Wärmebildkameras ausgestattet. Militärkräfte und Drohnen kontrollieren die Straße, die an dem Zaun entlangführt. „Die Grenzarchitektur ist aber nicht dafür gemacht, etwas zu beschützen. Sie ist gemacht, um Menschen zu verletzen“, hatte uns eine Aktivistin der Gruppe „We Are Monitoring“ bereits in Warschau mit auf den Weg gegeben. Als wir vor dem Wall stehen, wird klar, was sie meinte: Wer die Mauer überqueren will, muss aus fünf Metern Höhe in den Stacheldraht am Boden springen, dessen messerscharfe Klingen Fleischwunden bis auf die Knochen schneiden. 

Was treibt Menschen in derartige Verzweiflungstaten? Klar ist: Menschen auf der Flucht, die in Polen oder Deutschland Asyl beantragen wollen, haben kaum eine andere Wahl – denn die Fluchtrouten über das Mittelmeer sind noch gefährlicher. Doch auch hier in den polnischen Wäldern sind sie enormer Gewalt ausgesetzt. 

Das bezeugen auch Gosias Fotos und Videos. Trotz massiver Einschüchterung hat sie sich immer wieder an die Tatorte in den Wäldern begeben und auf den Auslöser gedrückt. In ihrem Garten betrachten wir Aufnahmen, auf denen Sicherheitskräfte Menschen mit Stöcken verprügeln; von schwer verletzten Geflüchteten im Stacheldraht; von Menschen, die in Wäldern aufgefunden wurden, dehydriert, halb verhungert, tief verängstigt. Der Sadismus, der hier eingesetzt wird, erinnert an Berichte aus Kriegsgebieten. 

So sollen Soldaten den Wald mit Tonaufnahmen von Hundegebell beschallen, um Menschen – viele ohnehin schwer traumatisiert – aus ihren Verstecken oder in den Wahnsinn zu treiben. Sobald sie von Polizei und Grenzschutz aufgegriffen sind, werden sie meist wieder über die Grenze gebracht. Sogar Verletzte kommen häufig nicht zur Behandlung ins Krankenhaus, sondern werden in Militärlastern und sogar Sanitätsfahrzeugen über die Grenze gefahren und tief im Wald ausgesetzt. Selbst aus Krankenhäusern finden Pushbacks statt. Auch das hat Gosia mit ihrer Kamera festgehalten. Ein Foto zeigt eine Frau aus Somalia. Sie steht auf der anderen Seite des Zauns und blickt resigniert durch die Lücken dicker Metall-streben hindurch in die Kamera. Am Leib hat sie einen Kittel, den sie im Krankenhaus der Kleinstadt Hajnówka erhalten hat. Bedruckt ist er mit Eisbären, verschneiten Bergen und Sternen. 

Naturschutzpark als Militärgelände 

Auf unserer Reise durch die polnischen Wälder begleitet uns Katarzyna Czarnota. Sie hat selbst jahrelang Geflüchtete in den Wäldern versorgt. Nun rekonstruiert sie als Mitglied von Border Forensics, einer Partnerorganisation von medico, Fälle von Grenzgewalt. Dabei nutzt sie auch die Aufnahmen von Gosia. Während in den offiziellen Berichten oft Todesursachen wie Unterkühlung oder Dehydration angegeben sind, kommen ihre Nachforschungen zu anderen Ergebnissen. Sie zeigen, dass Menschen in den Wäldern ihren Verletzungen erlagen oder verdurstet sind, weil Militär und Polizei Aktivist:innen daran gehindert haben, sie zu erreichen und zu versorgen. 

In Polen wird die Gewalt gegen Geflüchtete mit dem Narrativ gerechtfertigt, sie seien „hybride Waffen“, geschickt von Lukaschenko und Putin. Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist die „Verteidigung der Ost-flanke Europas“ zu einem wichtigen Element des herrschenden Diskurses geworden. Dabei dient er auch der Rechtfertigung der Entmenschlichung, der Schutzsuchende hier ausgesetzt sind. Doch die Präsenz Tausender Soldaten und anderer Sicherheitskräfte im Nationalpark , die martialisch aufgerüstet und mit modernster Waffentechnologie ausgestattet sind, ist nicht alleine mit einigen Hundert Geflüchteten zu erklären. Der Wald ist vielmehr zu einem Testgebiet für schweres militärisches Gerät und neueste Rüstungs- und Überwachungstechnologien geworden. Auf unserer Fahrt über die schmalen Straßen im Waldgebiet stoßen wir immer wieder auf gewaltige Baustellen. Katarzyna erklärt uns, dass Straßen in Richtung Belarus verbreitert werden, damit auch Militärfahrzeuge und Panzer auf ihnen fahren können. Wald wird gerodet, Sumpfgebiete werden trockengelegt, Flora und Fauna massiv beeinträchtigt: Im Bialowieza-Nationalpark wird für Krieg trainiert. 

Die Militarisierung der Grenzregion macht es immer schwieriger, Militär und Grenzpolizei für die Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Hinzu kommt die Abschaffung von Grundrechtsstandards: Ende März hat die sich als liberal verstehende „Bürgerkoalition“ unter Führung von Ministerpräsident Donald Tusk das Recht auf Asyl für die ostpolnische Grenzregion offiziell suspendiert. Bis wohin genau die Aussetzung geografisch gilt, ist unklar. Letztlich hat die Regierung damit die seit 2021 gängige Praxis der Pushbacks formalisiert und legalisiert. Zwar soll es laut Rechtsverordnung Ausnahmen geben, etwa für Schwangere und unbegleitete Minderjährige. In der Praxis ist das aber nicht der Fall. 

Nicht alle machen mit 

„In Polen sehen wir eine Versicherheitlichung von Migration, die für die gesamte EU immer relevanter wird“, erklärt Katarzyna. Was 2021 mit militärischer Abriegelung in einem Nationalpark begann, hat sich längst zur neuen Normalität europäischer Flüchtlingsabwehr entwickelt. Die systematische Aussetzung des Asylrechts an der polnischen Grenzregion verstößt zwar gegen Europarecht und die Genfer Flüchtlingskonvention – doch ein Vertragsverletzungsverfahren hat die EU nie angestrengt. Auch Deutschlands Grenzkontrollen und Zurückweisungen nach Polen und Österreich sind rechtswidrig. Die Bundesregierung, einer der mächtigsten Akteure im europäischen Gefüge, hat damit das Signal gesendet: Völker- und Europa-recht sind im Zeitalter der Aufrüstung und Renationalisierung nicht mehr bindend, auch Grundrechte können unter Berufung auf den Notstand ausgesetzt werden. Im Ergebnis entsteht eine Rechtlosigkeit, in der „Asyl“ zur leeren Hülle verkommt. Jüngst hat Griechenland das Asylrecht für Menschen aus Nordafrika suspendiert. 

Auch die nichtstaatliche Gewalt hat sich ausgebreitet. So attackieren rechtsradikale Bürgerwehren in Polen inzwischen auch Menschen, die von Deutschland aus nach Polen zurückgepusht werden. Vorangetrieben wird diese Entwicklung nicht nur von Rechtsaußen, sondern vor allem von liberal-konservativen Regierungen. „Hätte die rechte Vorgängerregierung unter der PiS das Recht auf Asyl ausgesetzt, wären die Menschen auf die Straße gegangen“, glaubt Katarzyna. „Die Tusk-Regierung konnte es tun.“ In der Grenzregion beugen sich keineswegs alle dem Regierungskurs. Weiterhin versorgen Helfer:innen die Geflüchteten im Wald, so gut es geht. Katarzyna und Gosia wissen von vielen hier, die nicht die Polizei rufen, wenn Schutzsuchende an ihre Türen klopfen, sondern diskret Unterstützung leisten. „In den Dörfern an der Grenze gibt es zwar in fast jeder Familie Mitglieder der Grenzpolizei“, erzählt Katarzyna. „Aber es gibt auch fast immer jemanden, die oder der schon Menschen auf der Flucht geholfen hat.“ 

Auch aus anderen Teilen des Landes sind Aktivist:innen ins Grenzgebiet gekommen, um hier praktische Solidarität zu leisten. Viele haben sich zu dem Netzwerk Grupa Granica zusammengeschlossen. Ihre Hilfe wird von Warschau aus unterstützt: Dort betreibt die Initiative We Are Monitoring ein „Alarmphone“. Melden sich Geflüchtete, die in den Wäldern Unterstützung brauchen, werden Aktivist:innen in den sogenannten Basas informiert. Das sind Orte im Waldgebiet, von denen aus diese sich mit Kleidung, Essen und Erste-Hilfe-Sets auf die Suche nach den Schutzsuchenden machen – in der Hoffnung, sie vor dem Militär oder der Grenzpolizei zu finden. Gleichzeitig dokumentiert We Are Monitoring die staatliche Gewalt: Seit 2021 hat die Initiative rund 11.300 Pushbacks und über 100 Todesfälle registriert. Die tatsächlichen Zahlen dürften weitaus höher liegen. Auch wenn diese Arbeit legal ist, kam es schon mehrfach zu Hausdurchsuchungen, Aktivist:innen landen immer wieder auf Polizeiwachen. 

Legale Gewalt, illegale Hilfe? 

In einem kleinen Dorf im Waldgebiet treffen wir Ewa Moroz-Keczynska. Die Ethnologin ist Leiterin der Bildungsabteilung im Nationalpark Bi-alowieza. Ewa ist hier geboren und nach ihrem Studium in Warschau hierher zurückgekehrt. Kaum jemand versteht das hiesige Ökosystem so gut wie sie. Sie ist zutiefst beunruhigt über die Verunreinigung der Gewässer und den Rückzug der Wölfe durch den Bau des Grenzzauns. Die Menschen der Region kennen Ewa, viele von klein auf. Heute wird sie von den meisten bewundert und um Rat gefragt. Von anderen wird sie gemieden. Aber auch die Rechten aus der Region trauen sich nicht, sie öffentlich anzugreifen. Warum sie ihre Umgebung so polarisiert? Ewa ist eine zentrale Figur in der Unterstützung von Geflüchteten. Es begann 2021. „Als ich im Wald ausgehungerte Menschen entdeckte, konnte ich nicht wegschauen“, erinnert sie sich. Sie half mit Kleidung und Essen. Im März 2022 wurde sie festgenommen, als sie mit vier anderen Aktiven zusammen einer kurdischen Familie half, aus dem Wald herauszufinden und ins Dorf zu gelangen. 

Das nächste Mal sehen wir Ewa im September, als sie gemeinsam mit den anderen Aktivist:innen auf der Anklagebank sitzt. Genannt werden sie die Hajnówka 5. Unter Berufung auf Artikel 264a des polnischen Strafgesetzbuches hat die Staatsanwaltschaft eine Anklage für „Beihilfe zum illegalen Aufenthalt in Polen“ konstruiert. Ihnen drohen bis zu fünf Jahre Haft. Der Prozess wurde nach Bialystok in den größten Gerichtssaal verlegt, damit er all den Journalist:innen und der interessierten Öffentlichkeit Platz bieten kann. Alle warten gespannt auf das Urteil. Auch medicos polnische Partnerorganisationen sind vor Ort: die Anwält:innen der Helsinki Foundation for Human Rights und das Kollektiv Szpila, die die Angeklagten von Anfang an unterstützen und vor Gericht eine Experteneinschätzung zum Vorwurf abgeben. Ihr Ziel ist es, ein positives Präzedenzurteil zu schaffen, das ein für alle Mal klar macht: Flucht und Solidarität dürfen nicht kriminalisiert werden. 

Am Ende des Verfahrens steht Ewa für ihr Abschlussplädoyer auf. Sie schaut den Vertreter:innen der Staatsanwaltschaft ins Gesicht und fragt: „Wenn die Rettung von Gesundheit und Leben ein Verbrechen ist, was ist dann Gleichgültigkeit? Wenn wir heute verurteilt werden, ist das nicht nur eine Verurteilung der Hilfe, sondern auch normalen menschlichen Anstands. Unser Freispruch würde einer ganzen Gemeinschaft, die in der schwierigsten Zeit Menschlichkeit über Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit gestellt hat, das Stigma des Verbrechens nehmen. Lassen Sie mich weiterhin daran glauben, dass es sich lohnt, anständig zu sein.“ Der Richter spricht die Angeklagten in allen Punkten frei. Denn Hilfe ist ist kein Verbrechen, so sagt er. 

Seit 2021 unterstützt medico Netzwerke, die an der polnisch-belarussischen Grenze die Rechte Schutzsuchender verteidigen. Auch an anderen Orten entlang der EU-Außengrenze leisten unsere Partnerorganisationen humanitäre Nothilfe, medizinische Versorgung, psychologischen Beistand und Rechtsberatung für Flüchtlinge und Migrant:innen. Für das Recht auf ein Leben in Würde – überall.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 03/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Valeria Hänsel

Valeria Hänsel ist Migrationsforscherin und bei medico international als Referentin für Flucht und Migration und Politiken des Europäischen Grenzregimes tätig.

Twitter: @Valeria_Haensel
Bluesky: @valeriahaensel

Kerem Schamberger

Kerem Schamberger ist Kommunikationswissenschaftler und in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international für den Bereich Flucht und Migration zuständig. 

Twitter: @KeremSchamberg
Bluesky: @keremschamberger
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