Die Folgen des politischen Backlashs, der in Reaktion auf den „Sommer der Migration“ im Jahr 2015 einsetzte, waren nicht auf Europa begrenzt. Im Zuge der restriktiven Kontrolle von Migration verschärfte die EU ihre Abschottungspolitik auch in Westafrika massiv. So weitete sie beispielsweise im Rahmen des Valletta-Prozesses Rückübernahmeabkommen stark aus. Verkauft wurden diese als Zusammenarbeit auf Augenhöhe, faktisch aber wurden Entwicklungsgelder, Budgethilfen oder Infrastrukturprojekte an die Bedingung geknüpft, dass die Regierungen von Transitländern wie Niger, Mali und Tschad ihre Grenzen im Sinne europäischer Interessen sichern und zur Rücknahme von Migrant:innen bereit sind. Unter dem Deckmantel der „Bekämpfung von Fluchtursachen“ hat die EU Mobilität systematisch eingeschränkt, Freizügigkeit innerhalb der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) unterlaufen und Rückführungen forciert.
So geriet auch das kleine Sierra Leone, das bis heute von den Folgen eines langen Bürgerkrieges gezeichnet ist, in den Fokus europäischer Abschiebepolitik. Seit einigen Jahren werden immer mehr Menschen hierher abgeschoben – auch Menschen, die gar keine sierra-leonische Staatsangehörigkeit besitzen. Diese Abschiebungen sind nur möglich, wenn die Regierung in Freetown bereit ist, Reisedokumente für die Betroffenen auszustellen und die Menschen aufzunehmen. Wie verschiedentlich berichtet wird, zahlen deutsche Behörden dabei sogar häufig Handgelder direkt an Regierungsbeamte, um sogenannte Emergency Traveling Certificates zu erhalten, die die Rückführung ermöglichen. Was hat Sierra Leone davon? Als eines der ärmsten Länder der Welt und in hohem Maße abhängig von europäischen Finanzhilfen hat es kaum eine Wahl.
Die aggressive Externalisierung der Grenzpolitik hat auch die Verschiebung von Verantwortlichkeit zum Ziel: Es sind nicht mehr nur die europäischen Staaten, die Migration kontrollieren. Vielmehr werden afrikanische Regierungen dazu gebracht, die Belange ihrer Bürger:innen oder von Menschen aus Nachbarstaaten den Logiken europäischer Interessen unterzuordnen. Das greift tief in die gesellschaftlichen Realitäten westafrikanischer Länder ein. In Sierra Leone ist es weit verbreitet, dass junge Menschen zeitweilig weggehen, um Arbeit, Ausbildung oder andere Chancen zu suchen, oft mit dem Ziel, die Familie zu unterstützen. Es gibt sogar eine eigene Bezeichnung: „Temple Run“, benannt nach einem Computerspiel, in dem es um Rennen, Springen, Rutschen, Fliehen, Fallen, Weiterlaufen und das Erreichen nächster Level geht. Der Begriff zeigt, wie normalisiert und systematisch diese Art von Mobilität ist, die historisch gewachsene ökonomische und soziale Netzwerke innerhalb der Region stützt. Eben das wird durch die EU-Politik zunehmend kriminalisiert: Statt Bewegungsfreiheit innerhalb der Region zu respektieren, werden neue Formen unfreiwilliger Zirkularität produziert: Menschen, die in Europa keinen Aufenthalt erhalten, werden abgeschoben, versuchen es erneut, scheitern, stranden, kehren zurück und brechen wieder auf. Migration wird zu einem Zustand des permanenten Unterwegsseins – nicht als selbstbestimmte Praxis, sondern als erzwungene Bewegung zwischen Grenzen, Hotspots und Abschiebezentren – oder in der erzwungenen Illegalität.
Oft landen abgeschobene Menschen nach Jahren in Europa vollkommen mittellos in Freetown, meist ohne Gepäck und Plan, aber voller Scham. Viele stehen vor dem Nichts, staatliche Unterstützung gibt es nicht. In dieser Situation übernimmt die medico-Partnerorganisation Network of Ex-Asylum Seekers (NEAS) die ersten Schritte: Die Aktivist:innen der Organisation begleiten die Ankommenden, helfen bei der Suche nach einer Unterkunft, vermitteln Kontakte und geben Orientierung. Mit psychosozialer Beratung werden Menschen gestärkt, die gewaltsam abgeschoben wurden oder sich einer sogenannten freiwilligen Rückkehr unterziehen mussten, die also Stress, traumatische Erlebnisse und gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren haben. Als Vereinigung abgeschobener Migrant:innen, die alle selbst die Erfahrung von Ausgrenzung und gewaltvoller Rückkehr kennen, kann NEAS wichtige Räume schaffen: Die Betroffenen vernetzen sich, teilen und dokumentieren Erfahrungen und machen sichtbar, was die Externalisierung der europäischen Grenzen für konkrete Auswirkungen auf das Leben von Menschen hat. Im Netzwerk entsteht ein praktisches Wissen, das über die unmittelbare Selbsthilfe hinausgeht.
Ausgehend von den Erfahrungen der Betroffenen organisiert NEAS politische Kampagnen – für soziale Teilhabe, für Rechte, für das Überleben der Betroffenen. Mit Symposien, Radioprogrammen und anderen Veröffentlichungen zeigen die Aktivist:innen auf, wie sehr die Migrationspolitik auch der eigenen Regierung das Recht auf Bewegungsfreiheit systematisch verletzt. Und sie sensibilisiert die Öffentlichkeit dafür, dass die Rückkehr in den seltensten Fällen „freiwillig“ geschah, sondern Ergebnis von Druck und Zwang ist. Gleichzeitig versucht NEAS jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Entscheidungen zur Migration selbstbestimmt und auf Grundlage verlässlicher Informationen zu treffen.

Rückkehr-Watch
Bundesregierung und EU setzen seit Jahren verstärkt auf die "freiwillige" Rückkehr von Migrant:innen in ihre Herkunftsländer. Das Ziel: Möglichst viele von ihnen sollen wieder gehen, möglichst schnell, möglichst günstig, möglichst reibungslos und auf eine von der Öffentlichkeit akzeptierte Weise. Unser großes Recherche- und Dokumentationsprojekt aus dem Jahr 2021 thematisierte diese immer noch aktuelle Praxis.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 03/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!