Polen

Wider den rechten Mainstream

25.08.2025   Lesezeit: 10 min  
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Repression und die Frage der Solidarität: Interview mit Alexandra und Gierdka vom feministischen Szpila-Kollektiv.

Anwältin Gierdka und Psychologin Alexandra engagieren sich im Szpila-Kollektiv, einem Zusammenhang, der Aktivist:innen unterstützt, die von staatlicher Repression betroffen sind, weil sie Geflüchteten geholfen haben. Weil die zwei medico-Partnerinnen selbst im Aktivismus verortet sind, vertrauen ihnen die Menschen. Im Interview sprechen sie über ihre Arbeit.

medico: Ziel des Szpila-Kollektivs ist es, Menschen, die aufgrund ihres politischen oder sozialen Engagements Repression ausgesetzt sind, rechtliche und psychologische Hilfe zu leisten. Etwa, wenn sie Geflüchteten in der polnisch-belarussischen Grenzregion helfen. Wie macht ihr das?

Alexandra: Derzeit betreiben wir zwei Telefon-Hotlines. Eine ist für allgemeine Unterstützung gedacht; jede:r, die:der staatlichen Repressionen ausgesetzt ist, kann uns rund um die Uhr, das ganze Jahr über kontaktieren. Die zweite Hotline wurde im September 2021 eingerichtet, als sich die humanitäre Krise an der polnisch-weißrussischen Grenze verschärfte. Sie ist für Menschen gedacht, die Geflüchteten an der Grenze helfen und aufgrund ihres Engagements staatlicher Verfolgung ausgesetzt sind.

Szpila, was auf Polnisch so viel wie „Ärger machen“ bedeutet, fungiert dabei als eine Art logistisches Zentrum. Wir vermitteln Kontakte zu Anwält:innen, geben grundlegende rechtliche Informationen und bieten psychologische Unterstützung. 

Warum ist die Arbeit gegen Repression gerade jetzt in Polen so wichtig?

Alexandra: Unser Hauptslogan lautet: „You will never walk alone.“ Das nehmen wir sehr ernst. Repression ist eine der einsamsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Wenn jemand auf einer Polizeiwache ist, muss die Person wissen, dass es Solidarität gibt und dass Menschen draußen auf sie warten.

Viele Jahre lang war es sehr schwer, Anwält:innen zu finden, die bereit waren, Aktivist:innen zu unterstützen. Das ist immer noch so. Etwas einfacher war es nur während der Proteste gegen das Abtreibungsverbot 2020/2021, als die Repression vor allem privilegierte weiße Frauen traf. Da waren die Leute schockiert: „Wie kann die Polizei nur solche Gewalt anwenden?“ Für uns war das überhaupt nicht überraschend.

Abgesehen davon richtet sich die Repression meist gegen diejenigen, die öffentlich schwerer zu verteidigen sind. Nach den Parlamentswahlen im Herbst 2023, als die neue Regierung unter Donald Tusk und seiner „Bürgerkoalition“ an die Macht kam, dachten die Menschen, dass sich alles ändern würde. Sie glaubten, dass die Menschenrechte siegen und Gerechtigkeit herrschen würde. Aber das ist nicht geschehen. Tatsächlich wurde unsere Arbeit noch schwieriger. Viele Anwält:innen haben die Zusammenarbeit mit uns eingestellt, weil sie glaubten, der Kampf sei vorbei. Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, Aktivist:innen einen sicheren Raum zu bieten, in dem sie politisch agieren können und wissen, dass ihnen, egal was passiert, jemand zur Seite steht. Dazu gehören unsere rechtliche und psychologische Hilfe sowie Medienarbeit und Advocacy-Bemühungen.

Könnt ihr uns einen Eindruck davon vermitteln, wie euer Arbeitsalltag aussieht?

Gierdka: Wir stehen ständig in Kontakt mit Aktivist:innen. Selbst wenn an einem Tag niemand die Hotline anruft, haben wir dennoch laufende Fälle. Oft sitzen wir vor dem Computer, füllen Tabellen aus und bezahlen Rechnungen; das ist sehr unscheinbar und wenig aufregend, denn die Leute stellen sich unsere Arbeit meist spektakulär vor, als würden wir uns einen Superheldinnenumhang überwerfen, um Menschen aus der Polizeistation zu retten. In Wirklichkeit koordinieren wir ständig, sind in viele rechtliche Prozesse involviert, nicht nur in Gerichtsverfahren, sondern auch in Schulungen, Beratungen und strategischen Planungen.

Wenn etwas Dringendes passiert, werden wir sofort aktiv. Wir koordinieren Anwält:innen, beobachten die Situation genau, prüfen, ob sie die betroffene Person treffen können und ob diese etwas brauchen. Wir vermitteln nicht einfach einen Rechtsbeistand und verschwinden dann. Wir bleiben während des gesamten Prozesses involviert. Das Ergebnis ist, dass sich die Menschen sicher und unterstützt fühlen. Sie wissen, dass sie sich auf uns verlassen können. Dieses Gefühl der Sicherheit ist wichtig, sowohl für sie als auch für uns.

Alexandra: Manchmal denken die Leute, wir seien eine große, formelle Organisation mit einem Büro. Das sind wir nicht. Szpila ist ein informelles Kollektiv. Außerhalb davon haben wir beide noch andere Jobs, die wir zum Leben brauchen. Szpila ist unser politisches Engagement.

Ihr habt auch Workshops für Menschen in der Grenzregion erwähnt. Wie sehen die aus?

Gierdka: Wir machen zwei Arten von Workshops. Der eine ist praktisch, es geht um Grundrechte, wenn man mit der Polizei oder anderen staatlichen Stellen in Kontakt kommt. Wir zeigen den Leuten, was sie tun können, wenn sie von der Polizei angesprochen, durchsucht oder festgenommen werden. Wir betonen auch, wie wichtig es ist, die eigenen Rechte zu kennen und zu wissen, wie man sich in solchen Situationen verhalten soll.

Die zweite Art von Workshops befasst sich mit staatlicher Repression im Allgemeinen: Welche Strategien wenden Regierungen an, um zivilen Widerstand zu kontrollieren oder zu unterdrücken und wie kann man innerhalb seiner Gruppe oder Organisation Strategien dagegen entwickeln? Das ist besonders relevant für Gruppen, die in der Grenzregion von Podlasie arbeiten, wo viele Geflüchtete ankommen.

Ihr unterstützt auch die „Hajnówka Five”, eine Gruppe von Menschen, die sich solidarisch mit Geflüchteten gezeigt haben und jetzt wegen angeblicher Beihilfe zum illegalen Aufenthalt vor Gericht stehen. Ein Urteil wird für Anfang September erwartet. Wie sieht eure Unterstützung für sie aus und wie schätzt ihr den Fall ein?

Alexandra: Dieser Fall zeigt gut, wie wir arbeiten. Alles fing am 22. März 2022 an, als die Grenzpolizei die Angeklagten in zwei Autos festnahm, in denen auch kurdische Geflüchtete saßen. Die Behörden beantragten sofort Untersuchungshaft, also haben wir angefangen, Unterstützungserklärungen von Akademiker:innen, Künstler:innen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu sammeln. Diese halfen uns, dem Gericht zu zeigen, dass es sich nicht um Schlepper:innen, sondern um humanitäre Helfer:innen handelt. Anfangs waren die Vorwürfe noch schwerer: Es wurde ihnen vorgeworfen, illegale Grenzübertritte organisiert zu haben. Dank des öffentlichen Drucks lehnte das Gericht den Antrag auf Untersuchungshaft dann ab.

Von diesem Zeitpunkt an haben wir sie täglich unterstützt: psychologisch, rechtlich und logistisch. Nach der Anklageerhebung haben wir eine Solidaritätskampagne koordiniert, mehrere Treffen mit ihnen abgehalten, sie gefragt, was sie brauchen, und mit dem Sammeln von Spenden begonnen. Gierdka ist über unsere Partnerorganisation Helsinki Foundation for Human Rights auch offiziell als Anwältin in den Fall involviert. Wir sind also auf vielen Ebenen tätig, als Anwält:innen, Psycholog:innen und Kampagnenkoordinator:innen.

Ihr habt den Wechsel von der rechten PiS-Regierung zur sogenannten Bürgerkoalition unter Donald Tusk miterlebt. Das war mit großen Hoffnungen verbunden, stattdessen gab es die Suspendierung des Rechts auf Asyl in der Grenzregion zu Belarus. Was hat sich in Bezug auf die staatliche Repression geändert, insbesondere was die Solidarität mit Geflüchteten betrifft?

Gierdka: Diese Bürgerkoalition entstand als eine Reaktion auf Massenbewegungen gegen die PiS-Regierung im Jahr 2020. Das waren riesige Demonstrationen mit Tausenden von Menschen. Jetzt gibt es keine großen Proteste mehr. Aber die Repression ist nicht verschwunden, sie hat sich verlagert. Sie richtet sich jetzt gegen kleinere, kontroversere Bewegungen, wie die pro-palästinensischen Studierendenproteste an den Universitäten. Wenn diese ins Visier des Staates geraten, wird das von der breiten Öffentlichkeit jedoch nicht als Repression wahrgenommen.

Wir unterstützen jetzt also Aktivist:innen und Gruppen, deren Anliegen unpopulär sind und nicht von einer breiten Öffentlichkeit unterstützt werden, aber dennoch legitim sind. Es handelt sich um Menschen, bei denen die Öffentlichkeit keine Notwendigkeit sieht, sie zu verteidigen.

Alexandra: Eine der cleversten Taktiken der neuen Regierung war es, Leute aus sozialen Bewegungen zu kooptieren. Plötzlich wurden genau die Menschen, die noch einen Monat zuvor gegen die vorherige Regierung protestiert hatten, eingeladen, sich Arbeitsgruppen, Ausschüssen und Thinktanks anzuschließen, um beim „Aufbau eines besseren, demokratischen Polens“ mitzuhelfen. So wurde beispielsweise der ehemalige Ombudsmann für Menschenrechte, Adam Bodnar, sowohl Generalstaatsanwalt als auch Justizminister. Das war der „Transfer des Jahres“.

Sogar wir als Szpila wurden kontaktiert. Sie baten uns um Daten und Berichte und wollten, dass wir uns ihren Arbeitsgruppen anschließen. Aber wir sagten: Auf keinen Fall. Einige unserer früheren Unterstützer:innen waren enttäuscht. Sie fragten: „Warum wollt ihr nicht am Aufbau eines besseren Polens mitwirken?“ Es wurde fast unmöglich, die neue Regierung zu kritisieren. Dies führte dazu, dass wir viel Unterstützung verloren haben. Auch was die brutale Situation an der Grenze zu Belarus angeht, haben wir nicht wirklich daran geglaubt, dass sich etwas ändern würde. Donald Tusk und Radosław Sikorski, der Außenminister, sind genau die Leute, die aktiv an der Schaffung der Festung Europa mitgewirkt und eine wichtige Rolle gespielt haben, zum Beispiel als 2016 der EU-Türkei-Deal vereinbart wurde. An ihrer Ideologie und Überzeugung hat sich nichts geändert. Ich denke sogar, dass sie noch schlimmer sind als die PiS. Die aktuelle Regierung baut Repression so in die Gesetze ein, dass sie viel schwerer rückgängig zu machen sind. Das Schlimmste ist, dass die EU Polen jetzt als gutes Beispiel wahrnimmt. Andere Länder führen nun Anti-Asyl-Gesetze ein, auch weil Polen damit angefangen hat und niemand sie daran gehindert hat. Sie denken sogar darüber nach, das Recht auf Asyl komplett zu suspendieren, nicht nur an der östlichen Grenze, sondern im ganzen Land. Plötzlich begannen fast alle politischen Parteien, eine rechtsextreme Sprache zu verwenden. Was einst nur am Rand sagbar war, wurde zum Mainstream. Es ist nicht so, dass „der Faschismus am Kommen ist“. Der Faschismus ist bereits da. Er wird wieder willkommen geheißen.

Gierdka: Wieder einmal erleichtern die Liberalen den Aufstieg des Faschismus. Die Regierung bereitet die Öffentlichkeit jetzt auf einen möglichen Krieg mit Russland vor. Und selbst wenn dieser Krieg nie kommt, werden sie diese Kriegsrhetorik, die „Bedrohung unserer Grenze“, nutzen, um immer repressivere Gesetze einzuführen. Und am Ende sind es die Menschen, die hier leben, die am meisten darunter leiden werden. Jede neue Repression wird mit dieser sogenannten „Bedrohung“ gerechtfertigt werden.

Alexandra: Bei den nächsten Wahlen müssen wir uns auf eine sehr wahrscheinliche Koalition mit der faschistischen Partei Konfederacja einstellen. Eine extrem rechte Partei mit einem kapitalistischen Touch. Sie haben es geschafft, sowohl Libertäre als auch Nationalist:innen anzusprechen. So ziehen sie einerseits Menschen an, die in ihren wirtschaftlichen Ansichten sehr libertär sind, und andererseits fördern sie nationalistischen Stolz und anti-ukrainische Rhetorik. 

Wie werdet ihr als relativ kleines Netzwerk mit den Folgen umgehen, wenn eine Regierung mit rechtsextremer Unterstützung an die Macht kommt?

Alexandra: Wir haben während des Frauenstreiks viel gelernt. Die wichtigste Lektion war, dass Menschen in Krisenzeiten zusammenhalten. Momentan sind wir ein kleines Kollektiv, weil es relativ ruhig ist. Aber 2020 und 2021 hätten wir ohne die große Unterstützung anderer nichts erreicht. Die Leute haben Solidaritätsproteste vor Polizeistationen organisiert. Sie haben Essen und Wasser gebracht und alles bereitgestellt, was die Festgenommenen und Anwält:innen brauchten. Wir glauben also, dass die Leute wieder aktiv werden, wenn es zu einer weiteren großen Krise kommt. Sie werden die Notwendigkeit von Solidarität erkennen. Unsere Hauptaufgabe wird es sein, sie zur Unterstützung einzuladen.

Das Interview führte Kerem Schamberger.

Die medico-Partner:innen des Szpila-Kollektivs unterstützen Menschen, die wegen der Unterstützung von Menschen auf der Flucht Repressalien ausgesetzt sind. Sie betonen, dass Solidarität kein Verbrechen ist und fordern, dass das Rechtssystem diejenigen schützen und nicht bestrafen muss, die sich in Krisensituationen für die Wahrung der Menschenwürde einsetzen.


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