Fonds für Bewegungsfreiheit

Weil Flucht kein Verbrechen ist

28.05.2025   Lesezeit: 4 min  
#fonds für bewegungsfreiheit 

Um Migration zu unterdrücken, setzt die EU auf Kriminalisierung und Bestrafung von Flüchtenden. Dagegen interveniert medico mit dem „Fonds für Bewegungsfreiheit“: Er unterstützt Menschen, die an den Rändern Europas unrechtmäßig in Gefängnissen sitzen oder sich verteidigen müssen.

Von Kerem Schamberger und Valeria Hänsel

Abdulrahman M., Hasan E., Ibrahima B., Mohamad H., Ufuk A. Kaum jemand kennt die Namen dieser Menschen. Sie alle sind auf der Flucht an Europas Außengrenzen inhaftiert worden und für Jahre hinter Gittern verschwunden. Hasan E. zum Beispiel ist ein Fischer aus Ägypten, Vater von zwei Kindern. Im November 2022 gehen Hasan und sein 15-jähriger Sohn zusammen mit Hunderten anderen Menschen in Libyen an Bord eines großen Fischkutters. Hasan kann die Kosten von mehreren tausend Euro für die Reise für sich und seinen Sohn nicht aufbringen. Um weniger zahlen zu müssen, erklärt er sich bereit, beim Steuern des Bootes zu helfen. Dass Menschen, die über das Meer nach Europa fliehen, selbst die Boote steuern, ist durchaus üblich. Irgendwer muss es ja tun. Südlich von Kreta gerät das Boot außer Kontrolle und treibt manövrierunfähig im Meer. Die griechische Küstenwache schleppt das Schiff an Land. Obwohl die Passagiere aussagen, dass sie Hasan, seinen Sohn und die anderen, die an Bord eine Aufgabe hatten, nicht bezahlt oder beauftragt haben, werden sie verhaftet. Während Hasans Sohn in ein Lager für Minderjährige gebracht wird, kommen Hasan und die anderen direkt in Untersuchungshaft. Am 6. März 2023 wird er wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise von 476 Personen zu 280 Jahren Haft verurteilt.

Drakonische Strafen aufgrund konstruierter Vergehen

Hasan ist kein Einzelfall. Wer sich auf der Flucht nicht nur um das eigene Überleben kümmert, sondern dabei anderen hilft, geht inzwischen ein gewaltiges Risiko ein. In vielen Ländern Europas wird dies als „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ bzw. „Schleuserei“ mit langen Haftstrafen geahndet. Allein in Griechenland sitzen über 2.000 Menschen wegen dieser Vorwürfe hinter Gittern, die meisten von ihnen sind Geflüchtete. Studien zeigen, dass sie in Schnellverfahren von etwa 30 Minuten zu durchschnittlich 46 Jahren Haft und Geldstrafen von über 300.000 Euro verurteilt werden. Häufig verstehen die Angeklagten, auch aufgrund unzureichender Übersetzungen, bis zuletzt nicht, was ihnen vorgeworfen wird und warum sie verurteilt werden. Auch in Italien, Spanien und England wird von beinahe jedem ankommenden Flüchtlingsboot mindestens ein Mensch festgenommen und der Beihilfe bezichtigt.

Begründet wird die Kriminalisierungspolitik mit dem „Kampf gegen irreguläre Migration“. Offenkundig ist, dass sie nicht diejenigen trifft, die die Überfahrten organisieren – niemand von diesen würde jemals selbst an Bord gehen und eine Festnahme riskieren. Worum es also geht, ist Abschreckung – auf Basis konstruierter Verantwortlichkeiten und auf Kosten von Menschen, die Schutz und Perspektiven suchen. Dass die Kriminalisierung sich noch verschärfen könnte, macht eine derzeit diskutierte Reform der „Facilitation-Richtlinie“ der EU-Kommission deutlich. Diese soll die „Beihilfe zur irregulären Ein- und Durchreise“ bekämpfen. In der aktuellen Fassung ist der Begriff der Beihilfe jedoch so breit definiert, dass auch die Arbeit von humanitären Helfer:innen, solidarischen Unterstützer:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen darunter fallen kann. Im Widerspruch zu dieser Politik hat medico 2024 den „Fonds für Bewegungsfreiheit“ gegründet. Dieser sammelt Gelder, um denjenigen zur Seite zu stehen, die für ihre Flucht und ihre Solidarität bestraft werden. Mit dem Fonds wird die Arbeit von Anwält:innen bezahlt, die Angeklagte beraten und vor Gericht verteidigen. Einige konnten wiederholt Freisprüche erwirken und verhindern, dass Menschen lebenslang im Gefängnis verschwinden. Der Fonds unterstützt auch Menschen in Untersuchungshaft, besonders wichtig sind Telefonkarten, damit sie die Isolation durchbrechen und Kontakt zu ihren Familien aufnehmen können. Die konkrete Fallarbeit übernimmt der Verein de:criminalize, dessen Mitglieder sich seit Jahren mit Kriminalisierungsfällen an den EU-Außen- und -Binnengrenzen auseinandersetzen. Sie arbeiten eng mit lokalen Organisationen und Anwält:innen zusammen, begleiten die Prozesse und stehen den Betroffenen zur Seite.

Erfolgreiche Intervention in den Migrationsdiskurs

Offiziell eröffnet wurde der Fonds für Bewegungsfreiheit am 10. September 2024 mit einer Pressekonferenz und einer stark besuchten Auftaktveranstaltung im medico-Haus. Hier berichteten Aktivist:innen aus der Flucht- und Flüchtlingshilfe über die Kriminalisierung an den Grenzen Europas einerseits und die konkrete Solidarität andererseits. Die Autorin Seyda Kurt fand in ihrem Beitrag diese Worte: „Jede, die geblieben ist, hat sich mal bewegt. Jede, die sich bewegt, ist mal geblieben. Migration wird es immer geben. Die Frage ist, wie menschlich und wie demokratisch wir mit dieser zivilisatorischen Grundbedingung umgehen wollen.“ Der Fonds stieß auf breite Resonanz und viel Zuspruch in Medien und sozialen Netzwerken. Hierzu haben auch weitere Veranstaltungen beigetragen, etwa in Tübingen, München und auf großer Bühne im Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin. Mit dem Fonds ist es also gelungen, in den herrschenden Migrationsdiskurs zu intervenieren und die Debatte über Schleuser und Fluchthilfe „vom Kopf auf die Füße zu stellen“. Bei der Auftaktveranstaltung im September sagte medico-Geschäftsführer Tsafrir Cohen es so: „Das Recht auf Bewegungsfreiheit zu verteidigen ist eine, vielleicht die zentrale Aufgabe im Kampf gegen den weltweiten Autoritarismus. Es geht im Kern auch darum, ein demokratisches Europa zur verteidigen, das auf dem Universalismus der Menschenrechte fußt. Dass man sich mit einem solchen Anliegen am Rande der Legalität zu bewegen droht, ist ein Zeichen dieser autoritären Zeiten. Aber wir sind, so meine ich, zum Widerstand verpflichtet.“

Das Recht auf Bewegungsfreiheit ist nicht verhandelbar und gilt für alle. Mit dem Fonds für Bewegungsfreiheit unterstützen wir Menschen, denen dieses Recht verweigert wird.

Kerem Schamberger

Kerem Schamberger ist Kommunikationswissenschaftler und in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international für den Bereich Flucht und Migration zuständig. 

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Valeria Hänsel

Valeria Hänsel ist Migrationsforscherin und bei medico international als Referentin für Flucht und Migration und Politiken des Europäischen Grenzregimes tätig.

Twitter: @Valeria_Haensel
Bluesky: @valeriahaensel


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