Seit 2015 regiert in Polen eine Politik der Angst. Nicht zuletzt die in den Medien verstärkte Rede von der europäischen „Flüchtlingskrise“ brachte damals die rechtsgerichtete Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) zum zweiten Mal an die Macht. Untersuchungen aus jener Zeit belegten, dass der Sieg der Rechten in starkem Maß auf das Migrationsnarrativ zurückzuführen war. Die Regierung setzte diese Erzählung fort. Und sie verschärfte sie noch, als sich im August 2021 an der polnisch-belarussischen Grenze eine bis heute andauernde humanitäre Krise entwickelte.
Um zu verstehen, was damals passierte, muss man auf die Wahlen 2020 im Nachbarland Belarus zurückgehen. Nach den dortigen Präsidentschaftswahlen verkündete Präsident Alexander Lukaschenko, dass er von einer Mehrheit wiedergewählt worden sei. Die Zivilgesellschaft, internationale Organisationen und die Weltöffentlichkeit sahen das weitgehend anders. Nicht nur hatte das Regime die Opposition massiv unterdrückt, es gab auch viele Belege dafür, dass die Wahl manipuliert worden war. Umso stärker unterstützten westliche Regierungen und Organisationen nun die demokratische Opposition in Belarus und verhängten gleichzeitig Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime.
Diese Sanktionen wurden noch einmal verschärft, nachdem die belarussischen Behörden im Mai 2021 den Ryanair-Flug 4978 von Athen nach Vilnius zur Landung in Minsk zwangen und dort den an Bord befindlichen oppositionellen Journalisten Roman Protasevich verhafteten. Die EU untersagte belarussischen Fluggesellschaften daraufhin den Zugang zum EU-Luftraum. Als Vergeltungsaktion begann das Lukaschenko-Regime damit, in Zusammenarbeit mit Russland massenhaft Visa für die Einreise nach Belarus zu verkaufen, beispielsweise über Reisebüros im Nordirak. Diese Aktion und die Lancierung falscher Versprechungen brachte Hunderte von Menschen, die meisten aus Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan, Syrien und dem Irak, dazu, nach Belarus einzureisen. Ihnen war vermittelt worden, sie könnten von dort problemlos in die EU weiterreisen – nach Lettland und Litauen, vor allem aber nach Polen. Die Regime in Minsk und Moskau hatten gewissermaßen „von oben“ eine neue Migrationsroute geschaffen.
„Hybride Kriegsführung“
Diese Taktik zweier autokratischer Regime wurde in Polen als „hybride Kriegsführung“ diskutiert. Als Gegenbegriff wurde das Schlagwort der „Sicherheit“ stark gemacht. Damit war keineswegs die Sicherheit der Schutzsuchenden gemeint – sei es im Sinne des Ankommens an einem sicheren Ort oder im Sinne von Schutz vor Verstößen gegen die Genfer Konvention. Sicherheit wurde allein national ausbuchstabiert – als Schutz vor Zuwanderung. Die Rechte der Migrant:innen und ihr Schicksal in den sumpfigen Wäldern des Grenzgebiets galten wenig, der Schutz der Grenze umso mehr.
Die EU und Polen reagierten mit Gewalt und massiver Aufrüstung. Auf polnischem Territorium wurde 2021 ein Stacheldrahtzaun errichtet, der inzwischen zu einer mehr als fünf Meter hohen Stahlmauer ausgebaut worden ist – eine neue Mauer zwischen Ost und West, fast 200 Kilometer lang. Parallel wurden Gesetze erlassen und Praktiken eingeführt, die eine beschleunigte und oft undokumentierte „Rückführung“ ermöglichen. In den meisten Fällen wurden Migrant:innen mit Gewalt dazu gebracht, nach Belarus zurückzukehren. Unter Missachtung der Genfer Flüchtlingskonvention und des Rechts auf Asyl wurden sie ohne Prüfung ihrer Identität und ohne Anhörung abgeschoben, zurück in die dichten Wälder und Sumpfgebiete. Viele Menschen wurden bei den Zusammenstößen mit dem staatlichen Grenzschutz verletzt, von Zahllosen verlor sich jede Spur.
Staat versus Zivilgesellschaft
Doch die Situation erzeugte auch solidarisches Engagement. Wo der Staat selbst humanitäre oder medizinische Hilfe verweigerte, sprangen zivilgesellschaftliche Basisbewegungen und Bewohner:innen der Grenzregion in die Bresche. In der besonders betroffenen Region Podlasie etwa nahmen Organisationen wie Medics at the Border, InterSOS und Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières) ihre solidarische Arbeit auf. Und es gründeten sich mehrere Nichtregierungsorganisationen, darunter auch die Grupa Granica (übersetzt: „Grenzgruppe“). Der informelle Zusammenschluss von Anwohner:innen, Freiwilligen und NGOs sorgte dafür, dass durch die Wälder irrende Schutzsuchende über eine Notrufnummer Unterstützer:innen erreichen konnten. Sie bauten Strukturen auf, um direkte humanitäre und medizinische Hilfe sowie Rechtshilfe bei Anträgen auf Asyl leisten zu können. Zudem unterstützt Grupa Granica Menschen, die rechtswidrig in gefängnisähnlichen Gebäuden inhaftiert waren, und dokumentiert staatliche Menschenrechtsverletzungen.
Die rechte polnische Regierung hingegen hat die Not an der Grenze technokratisch verwaltet – und verschärft. Nicht überraschend wurde Zuwanderung zu einem wichtigen Thema im Wahlkampf vor den Parlamentswahlen 2023. Doch diesmal reichte es nicht mehr für die PiS: Die Oppositionskoalition gewann und Donald Tusk wurde neuer Ministerpräsident. Tatsächlich änderte sich dadurch vieles schlagartig. Unter dem Motto der „Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit“ schlug die Regierung in wichtigen politischen und gesellschaftlichen Bereichen einen neuen Kurs ein und drehte den autoritären Staatsumbau der Vorgängerregierung zurück – nicht aber an der Grenze.
Der Regierungswechsel hätte Gelegenheit für einen Wandel sein können: für einen neuen Ansatz in der Migrationspolitik, für eine Entkriminalisierung humanitärer Hilfe und für ein Ende der Pushbacks. Viele Menschen, die sich in der Grenzzone für Migrant:innen in Not engagieren, hofften auf Veränderungen. Doch die neue Regierung hat die Politik der Abschottung und Entrechtung fortgesetzt. Die neue Realität blieb weitgehend die alte. Zwar werden diejenigen, die dort humanitäre Hilfe leisten, inzwischen weniger kriminalisiert als zuvor. Dafür wird, anders als vor der Wahl versprochen, die Migration selbst noch stärker bekämpft.
Das Militär müsse auch im Inland eingesetzt werden können, ohne dass zuvor der Ausnahmezustand oder das Kriegsrecht ausgerufen werden müsse, betont Ministerpräsident Tusk. Und: Polen brauche „humanitäre Pushbacks“, schließlich seien „Grenzen wichtiger als Menschen“. Infolge einer tödlichen Attacke auf einen polnischen Soldaten wurde kürzlich wieder eine Sperrzone eingerichtet: Der Zugang zu einem über 60 Kilometer langen Gebiet entlang der Grenze zu Belarus ist für die allermeisten tabu. Die humanitäre Hilfe wurde weiter beschränkt. So verbot die Regierung die Lieferung von Lebensmitteln, Wetterschutz und medizinischer Hilfe an Menschen auf der anderen Seite der Mauer – obwohl man sich dort noch auf polnischem Territorium befindet. Allenfalls das Rote Kreuz und Ärzte ohne Grenzen dürfen die Zone betreten. Gleichzeitig ist der Grenzschutz personell und technisch aufgestockt worden. Im großen Stil soll auch der Grenzzaun weiter verstärkt werden. An den Flüssen im Grenzbereich wird ein Überwachungssystem mit 1.800 Kameramasten sowie 4.500 Tag/Nacht- und Wärmekameras aufgebaut. Außerdem hat die Regierung eine Gesetzesänderung im Parlament eingebracht, die den Einsatz von Schusswaffen durch das Militär neu regeln, also erleichtern soll. Kritiker:innen sprechen von einer „Lizenz zum Töten“.
Im Mai und Juni 2024 saßen wieder Dutzende von Schutzsuchenden auf polnischem Territorium im Grenzgebiet fest. Und die Zahl der registrierten Todesopfer steigt weiter. Eine umfassende Studie der Survivor Foundation dokumentiert an der Grenze zwischen den Ländern Belarus, Lettland, Litauen und Polen 116 Todesfälle von 2021 bis Ende März 2024. Die tatsächliche Zahl dürfte weit höher sein. Wollen Familien Auskunft über Angehörige erhalten, deren Spuren sich im Grenzgebiet verloren haben, stoßen sie auf erhebliche bürokratische Hindernisse. Da die staatlichen Behörden nicht aktiv nach als vermisst gemeldeten Menschen suchen, machen sich Organisationen und Hilfsgruppen eigenständig auf die Suche in den weitläufigen Wäldern des Grenzgebiets.
Das Dilemma und seine falsche Auflösung
Die Situation an der Ostgrenze der EU hat viel damit zu tun, dass es keine legalen und sicheren Wege für Schutzsuchende nach Europa gibt. Sie ist gleichzeitig davon geprägt, dass die Mitgliedstaaten an strengere Verpflichtungen gebunden sind als Belarus. So sind Lettland, Litauen und Polen auch Vertragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der UN-Menschenrechtskonventionen und des EU-Rechts. Das Lukaschenko-Regime nutzt diese rechtliche Asymmetrie aus: Um Menschenrechtsverletzungen in Belarus zu relativieren, schafft es eine Situation, in der Polen – und damit zugleich die gesamte EU – sich gezwungen sehen, Menschenrechte zu verletzen.
Die politische Instrumentalisierung der Migration auf Kosten von Schutzsuchenden schafft ein Dilemma, das sich weder mit humanitärer Hilfe lösen lässt noch als Problem für die nationale Sicherheit angemessen erfasst wird. Ein Denken in Schwarz oder Weiß greift hier zu kurz. Erforderlich sind strategische und (geo-) politische Lösungen. Die Regierungen von Belarus und Russland auf der einen Seite und von Polen auf der anderen haben die Migration alle auf ihre Weise für eigene Zwecke benutzt. Eine solche politisierte Debatte verhindert echte, faktenbasierte Bemühungen um Alternativen. Und sie ignoriert die Perspektiven der Schutzsuchenden und der Solidaritätsbewegung.
Seit 2021 unterstützt medico Netzwerke wie Grupa Granica, die an der polnisch-belarussischen Grenze die Rechte Schutzsuchender verteidigen. Auch an anderen Orten entlang der EU-Außengrenze leisten unsere Partnerorganisationen humanitäre Nothilfe, medizinische Versorgung, psychologischen Beistand und Rechtsberatung für Flüchtlinge und Migrant:innen. Für das Recht auf ein Leben in Würde – überall.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!