Nun ist Deutschland an der Reihe. Nachdem die USA ihre Entwicklungsagentur USAID faktisch abgewickelt und mehrere ehemalige europäische Kolonialmächte die Etats für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe drastisch gekürzt haben, setzt auch die Bundesregierung ihre Ankündigungen um: Die Mittel für humanitäre Hilfe, die über das Auswärtige Amt laufen, werden halbiert, wie der Bundestag Ende Juli beschlossen hat. Noch im September sollen die neuen Haushaltsentwürfe verabschiedet werden. Von mehr als zwei Milliarden Euro (2024) bleibt für die Jahre 2025 und 2026 nur noch eine Milliarde übrig. Der Anteil des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) am Gesamthaushalt sinkt auf ein Zehn-Jahres-Tief. Die ODA-Quote – das heißt die internationale Verpflichtung, 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe bereitzustellen – verfehlt Deutschland mittlerweile um fast die Hälfte.
Konkret bedeutet das: Deutschland entzieht der Hälfte der Menschen, die bislang davon abhängig waren, die Hilfe. Der Verband Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe (VENRO), in dem auch medico Mitglied ist, spricht von einem Rückzug „radikal und ohne erkennbare Strategie“. Tatsächlich ist es noch schlimmer: Der Rückzug fußt auf einer fatalen Strategie, die letztlich ein Primat militärischer Logiken bestätigt.
Zeitenwende: Hilfe unter Kriegslogik
Die Kürzungen sind kein haushaltspolitischer Zufall. Sie sind Ausdruck der sogenannten Zeitenwende. Die politische Priorisierung militärischer Aufrüstung geht Hand in Hand mit dem Rückbau zivilgesellschaftlicher Strukturen. Geberstaaten begründen ihren Rückzug oft mit geopolitischen Verschiebungen – und verstärken diese gleichzeitig. Hilfe wird nicht länger als universelles Recht – zumindest formal – verteidigt, sondern dort als selektives Instrument eingesetzt, wo es aus geopolitischen Erwägungen nützlich ist.
Das bedeutet nicht, dass Hilfe zuvor als universelles Recht tatsächlich für alle Bestand hatte. Hilfsleistungen waren lange ein Stabilisator für die ausbeuterischen Verhältnisse, die unsere globale Ökonomie charakterisieren. Die Ursachen für das Leiden vieler Menschen – Freihandel, Schuldenregime, Rohstoffkolonialismus, patriarchale Strukturen und andere – können nicht durch Hilfe abgeschafft werden. Nur die Folgen, wie Hunger, Kindersterblichkeit, fehlende Bildung etc., können durch Hilfe minimal ausgeglichen werden. Die strukturellen Gründe für weltweite Verelendung und Menschenrechtsverletzungen anzugehen, würde dagegen einen echten Systemwandel erfordern.
Dies will man sich nicht leisten. Das liberale Versprechen einer Veränderung durch Hilfe als Wohltätigkeit hingegen schon. Hilfe nahm damit vielerorts die Form einer – nicht ernst-gemeinten – Entschuldigung für historische und gegenwärtige Gewalt an, zum Beispiel in der Rolle Deutschlands gegenüber seiner ehemaligen Kolonie Namibia. Doch heute, unter dem Primat eines neuen Realismus, braucht es keine Entschuldigung mehr; unter der Hitze der kriegerischen geopolitischen Verschiebungen ist der liberale Zuckermantel geschmolzen und mit ihm die vorgeschobene Scham für die gewaltvollen globalen Verhältnisse. Im Vordergrund steht nun, wie die neue Entwicklungsministerin Reem Alabali Radovan sagt, die Sicherheit des Landes, beispielsweise auch vor Migrant:innen.
Nicht nur US-Außenminister Marco Rubio, der „american foreign aid great again“ machen möchte, sondern auch Reem Alabali Radovan und Außenminister Johann Wadepuhl betonen den Nutzen der Außen- und Entwicklungspolitik für Sicherheits-, Wachstums- und Verteidigungszwecke. In der deutschen Variante heißt das neue Buzzword „integrierte Sicherheit“: der Dreiklang von Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik. „Die Entwicklungspolitik muss als essenzieller Bestandteil der deutschen Sicherheitsarchitektur neu gedacht werden“, sagt Alabali Radovan.
Rechtsruck nach Außen und Innen
Diese Entwicklung ist nicht nur in der Außenpolitik zu erkennen – in Abschottung, der Abkehr von Solidarität und einer Priorisierung nationaler Interessen. Der Rechtsruck, der in vielen europäischen Gesellschaften sichtbar wird, zeigt sich auch innenpolitisch durch autoritäre Maßnahmen, Sozialabbau. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist diese doppelte Distanzierung – von Sozialprogrammen im Inland und ODA-Zielen im Ausland – klar erkennbar; Innen- und Außenpolitik greifen ineinander und normalisieren ein Politikverständnis, das auf Ausschluss basiert.
Damit manifestiert sich eine zugespitztere Form der Nekropolitik im Sinne Achille Mbembes: Die Entscheidung darüber, wessen Leben schützenswert ist, fällt entlang geopolitischer Linien. Entwicklungspolitik verschiebt sich so von einer – ohnehin begrenzten – Verwaltung von Leben hin zu einer Verwaltung von Sterben: Sie reguliert nicht länger, wie Leben, wenn auch minimal, verbessert werden könnte, sondern wo Elend, Unsicherheit und Tod hingenommen oder gar forciert werden. Sozialabbau, autoritäre Maßnahmen und Abschottung korrespondieren mit der Preisgabe ganzer Bevölkerungen. Souveränität wird zunehmend durch die Macht gesichert, Zonen des Todes zu schaffen oder hinzunehmen, in denen bestimmte Körper und Existenzen als weniger wert gelten. Die „Zeitenwende“ markiert so nicht nur eine Veränderung in der Haushaltspolitik, sondern die Normalisierung einer nekropolitischen Rationalität, die systematisch festlegt, welche Leben geschützt und welche geopfert werden dürfen.
In Gaza sehen wir, wie die humanitäre Hilfe durch Militarisierung sogar zur Komplizin des Krieges wird. Hier rettet Hilfe längst nicht mehr neutral, sondern ist Teil einer Logik ist, die Leben hierarchisiert und Gewalt, auch außerhalb von Gaza, weiter normalisiert.
Rendite anstelle von Reparatur für Genozide
Hinzu kommt eine weitere Verschiebung: die zunehmende Finanzialisierung von Hilfe. Politiker:innen wie die deutsche Entwicklungsministerin Reem Alabali Radovan beschreiben die Zukunft internationaler Zusammenarbeit als eine, die vor allem wirtschaftlichen Interessen dienen soll. Private Unternehmen sollen eine größere Rolle spielen, „Hilfe“ wird noch stärker zum Geschäftsfeld. So verwandelt sich Entwicklungszusammenarbeit noch weiter in ein Investmentgeschäft mit Renditeerwartung. Projekte werden nach Profitpotenzial ausgewählt, nicht nach Bedürfnissen der Betroffenen.
Die Folge: Essenzielle Bereiche, in denen das meiste Leid existiert, bleiben außen vor. Das Machtverhältnis verschiebt sich noch weiter von den betroffenen Gemeinschaften zu Finanzakteuren. Abhängigkeiten vertiefen sich, Verschuldung wächst, globale Ungleichheiten verhärten. Das BMZ entfernt sich immer weiter von seinem selbst benannten Ziel, eine Weltgemeinschaft mit aufzubauen, die auf Menschenwürde beruht. Naomi Kleins Schockdoktrin erhält so ein neues Gesicht: Hilfe als Disziplinierungs- und Marktinstrument im Zeichen der Krise.
Als Vorzeigebeispiel zitiert Alabali Radovan im Interview mit der FAZ das Verhältnis zu Namibia, „wo grüner Wasserstoff produziert werden wird. Da sieht man wie gut Entwicklungszusammenarbeit und wirtschaftliche Zusammenarbeit Hand in Hand gehen“. Sie ignoriert, dass die Bundesrepublik den von Deutschen an den Ovaherero und Nama verübten Genozid nicht anerkennt und Reparationen bis heute verweigert. Entwicklungsgelder, die weniger als ein Zehntel der geforderten Reparationen ausmachen, wirken vor diesem Hintergrund wie eine Vermeidungsstrategie. Oder wie es auf dem Schild hieß, das unsere namibische Partnerin Sima Luipert während einer Protestaktion vor dem deutschen Bundestag trug: „Reparations not Aid“. Dabei ist unklar, wie Namibia vom Wasserstoff, der dort für den Export nach vor allem Deutschland produziert werden wird, tatsächlich profitieren soll. Anstelle von einer Innen- und Außenpolitik, die auf historischer Gerechtigkeit basiert, werden ökonomische Verhältnisse geschmiedet, die ebendiese untergraben.
Humanitäre Projekte als „business cases“
Vor diesem Hintergrund ist der Blick auf ein Gaza nach dem Ende des Genozids noch erschreckender. Einen absurd-bitteren Vorgeschmack hatten wir schon: ein KI-generiertes Video von Gaza als „Riviera“, mit Donald Trump und Elon Musk im Cabriolet – eine post-genozidale Dystopie. Und die Realität drängt in diese Richtung: in Planung befindet sich eine „humanitäre Stadt“ im Süden Gazas, in die zunächst 600.000 palästinensische Vertriebene zwangsumgesiedelt werden sollen, später der Rest der überlebenden Bevölkerung. Einmal dorthin umgesiedelt, sollen die Menschen das Lager nicht mehr verlassen dürfen.
Die Wiederaufbaupläne für die Ukraine und Syrien stehen zwar nicht hinter dem Vorzeichen eines Genozids, allerdings auch unter dem Stern der Finanzialisierung. Schon jetzt zeichnen sich Pläne ab, die vor allem auf die Interessen der Investor:innen zugeschnitten werden. Ganz nach dem Vorschlag des Auswärtigen Amtes, humanitäre Projekte als „business cases“ mit „unique selling points“ zu denken, um Investor:innen besser einbinden zu können.
Die aktuelle Etat-Kürzung von humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit ist so mehr als nur eine budgetarische Entscheidung. Sie ist Symptom einer globalen Ordnung im Umbau, in der Solidarität keinen Stellenwert mehr hat, dafür aber Militarisierung, Marktorientierung und nationale Abschottung. Deutschland reiht sich damit weiter ein in eine internationale Bewegung, die Leben hierarchisiert, Gewalt verstärkt und Krisen instrumentalisiert. Was bleibt, ist eine Politik, die Solidarität durch Rendite ersetzt und internationale Verantwortung durch Kriegslogik.
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