Gaza

Hilfe als Waffe

05.06.2025   Lesezeit: 5 min  
#gaza 

In Gaza wird die Verteilung von Hilfsgütern für militärische Zwecke instrumentalisiert.

Von Radwa Khaled-Ibrahim

Ich schreibe einen Satz und lösche ihn wieder. Jedes Mal, wenn ich versuche, die Situation in Gaza zu beschreiben, enttäuschen mich die Worte. Was in Gaza passiert, kann nicht mehr in Worten eingefangen werden. Sie sind zu enge Gefäße; das Leid, die Dehumanisierung, die Verbrechen quellen daraus hervor. Welche Zusammenstellung von Buchstaben kann eine Szene beschreiben, in der ausgehungerte Menschen erschossen werden, während sie für Essen anstehen? Eine Szene, die sich nicht einmal, sondern vielfach abgespielt hat.

Zivile Strukturen, die humanitäre Hilfe in Gaza leisteten, wurden angegriffen, die UNRWA delegitimiert und ihre finanziellen Mittel gestrichen, lokale und internationale Helfer:innen getötet, Institutionen und Strukturen der lokalen Zivilgesellschaft zerstört, Menschen auf der Suche nach Hilfe getötet oder durch vom Himmel fallende Hilfspakte erschlagen.

Militarisierung der Hilfe in Gaza bedeutet, dass sie vom israelischen Militär kontrolliert und reguliert wird – also von einer Kriegspartei, die politische, militärische und damit anti-humanitäre Interessen verfolgt. Militarisierung in diesem Zusammenhang heißt, die Kontrolle darüber auszuüben, wem welche Hilfe an welchen Orten zugänglich gemacht und wem sie vorenthalten wird. Auf diese Weise wird die Hilfe zum politischen und militärstrategischen Instrument, ohne dass global verpflichtende humanitäre Standards eingehalten werden.

Die Abfolge der Ereignisse scheint nicht zufällig. Zuerst wurde die Einfuhr von Gütern durch willkürlichen Ausschluss und langwierige Kontrollen begrenzt. Durch eine Behinderung des Zugangs wurden die Handlungsmöglichkeiten ziviler Organisationen eingeschränkt. Dann wurden die Hilfslieferungen ganz gestoppt und die Menschen in Gaza ausgehungert. Diese wurden dann einer vermeintlichen humanitären Organisation ausgeliefert, die „humanitär“ nur im Namen trägt.

Die Gaza Humanitarian Foundation (GHF), die die humanitäre Hilfe nach elf Wochen Blockade in Gaza organisieren soll, ist eine von den USA und Israel unterstützte Organisation, die angeblich ihren Sitz in der Schweiz hat. „Angeblich“ denn die GHF war laut Schweizer Stiftungsregister nur bis vor wenigen Tagen dort registriert. Jetzt heißt es: "ohne Domizil" – Adresse gelöscht. Auch im Internet hat die Stiftung keine Präsenz. Ebenso unklar ist, wie sich die Organisation finanziert. Klar ist allein, wie sie vor Ort – in Gaza – agiert: Die GHF umgeht gezielt die UNO und unterstützt durch den Aufbau der Verteilzentren ausschließlich im Süden das israelische Ziel, den Norden Gazas weiter zu entvölkern. UNICEF-Sprecher James Elder: "Israel hat deutlich gesagt, die Menschen in den Süden drängen zu wollen. (…) Humanitäre Hilfe wird zur Waffe, um Menschen in die Falle zu locken – Menschen, die am Ende ihrer Kräfte sind und keine andere Wahl haben."

Doch humanitäre Hilfe wird in Gaza nicht nur militarisiert, sondern sie wird zum Schauplatz neuer Möglichkeiten, um Menschen zu dehumanisieren. Die Bilder, wie Menschen zwischen Zäune gedrängt auf Essen warten, gingen um die Welt. Mit diesen Techniken der Verteilung und mit den Bildern, die dabei entstehen, werden die Menschen in Gaza zu dem gemacht, als was sie schon vor über einem Jahr bezeichnet worden sind: „menschliche Tiere“. Sie werden damit doppelt reduziert auf eine braune, hungrige, unzivilisierte Masse. Ein nacktes Leben, wie der italienische Philosoph Georgio Agamben es vielleicht bezeichnen würde. Dieses rechtlose, weil außerhalb des Rechts stehende „nackte Leben“ ist Agamben zufolge als solches schutzlos und im besagten Ausnahmefall quälbares und tötbares, bloßes Leben unter dem Blick des Souveräns.

Während die Szene der Essensausgabe fast archaisch wirkte, war sie doch hochmodern. Mithilfe von KI-Gesichtserkennung sollen die am Zaun aufgereihten Menschen darauf überprüft werden, ob sie mit der Hamas verbunden sind, um sie dann von der Hilfe auszuschließen. Klar ist weder, auf welchen Daten und welchem Algorithmus die Technik basiert, noch die weitere Verwendung der gesammelten Daten. In jedem Falle findet ein Bruch mit dem Prinzip der humanitären Hilfe statt, unparteiisch zu agieren. In Gaza bekommt die humanitäre Hilfe eine neue Qualität der Komplizenschaft, denn ihre Grundfesten werden nicht nur ignoriert, sie wird nicht nur ausgehöhlt, sondern sie wird selbst aktiver Teil einer genozidalen Kriegsführung.

Gleichzeitig hat die Instrumentalisierung der Hilfe entsprechend militärischer Bedürfnisse nicht in Gaza angefangen und wird nicht in Gaza aufhören, denn was in Gaza passiert, ist nicht losgelöst vom restlichen politischen Globalgeschehen. Die sich etablierenden menschenfeindlichen Politiken auf globaler Ebene zeigen dies deutlich. Dazu gehört auch das politische Kalkulieren, wo es sich lohnt, Menschen am Leben zu halten und wo es erforderlich ist, sie zu töten oder sterben zu lassen, wie die Abwicklung von USAID und der Rückzug von beispielsweise Deutschland und Großbritannien aus ihren humanitären Verpflichtungen zeigen. Die Entscheidung darüber, wessen Leben zählt, ist nicht willkürlich: Überall zieht sich eine Liniedurch unsere Geschichte und Gegenwart, die bestimmt, welches Leben überflüssig ist. Diese Linie ist eben auch eine Color line, wie Frederick Douglas und später W.E.B. Du Bois die Race-Achse bezeichnet, die durch neo-koloniale Geographien verläuft.

Gerade jetzt zeigt sich: Hilfe ist immer politisch und muss in eine Rechtsperspektive eingebettet sein. Gerade als Hilfsorganisation müssen wir unablässig das Recht auf Rechte für alle Menschen einklagen und dürfen uns nicht mit dem Retten des nackten Lebens zufriedengeben. Wir dürfen nicht zulassen, dass Subjekte außerhalb des Rechts gestellt werden. Wenn sich Organisationen entpolitisieren müssen, um vermeintlich handlungsfähig zu bleiben und weiter „Hilfe“ leisten zu können, dann werden sie Teil des Kriegsregimes: Verwalter einer Nekropolitik – und in der Konsequenz ganz ausgeschaltet und durch militarisierte Hilfe ersetzt, wie uns Gaza zeigt.

Radwa Khaled-Ibrahim

Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin für Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit von medico.


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