Der tote Soldat wird von Angehörigen der ukrainischen Armee in einem Mietwagen zur Kirche gebracht. Es ist Sonntag, kurz vor 10 Uhr, doch diese klassische Zeit ist bloßer Zufall. Wir sind nur zwei Tage in Lviv, deswegen sind wir heute gekommen. Fast täglich werden gefallene Soldaten mit militärischen Ehren in der Stadt begraben, manchmal gleich mehrere an einem Tag. Die Kirche ist bis auf Weiteres nicht nur sonntags in religiös-militärischem Betrieb.
Man merkt sofort, dass diese Art der Zeremonie Alltag geworden ist. Sie wird per Lautsprecher auf den zentralen Platz im Zentrum Lvivs übertragen. Vor der Steintreppe, die in das Gebäude führt, wartet das lose zerstreute, etwa 20-köpfige Militärorchester auf seinen Einsatz. Einer der Musiker zeigt mir auf seinem Handy die Daten zum heutigen Begräbnis: „Orchester für militärisches Begräbnisritual eines Soldaten der Streitkräfte im Land: Sergeant Bohdan Ivanovych Kharkavenko, geb. 1982, der bei der Durchführung einer Kampfmission starb.“ Während er mir das Handy hinhält, guckt er in einer Mischung aus Routine, Teilnahmslosigkeit und Trauer auf seine Trompete. Wahrscheinlich muss das Orchester keine Proben mehr abhalten, weil es täglich vor Publikum spielt.
Aus der Kirche dringen gesungene Fürbitten und der Geruch von Weihrauch. Die Türen sind weit geöffnet, alle sind eingeladen und aufgefordert, den gefallenen Soldaten zu verabschieden. Sein Tod ist eine öffentliche Angelegenheit. In der Kirche haben sich rund 80 Trauergäste versammelt. Der rechte und der mittlere Teil des Gotteshauses sind im regulären Betrieb; im linken Bereich hat der Krieg seinen Platz. Hier hängen die Bilder der Toten des Bataillons Lviv, eine ukrainische Fahne, auf der jemand abgebildet ist, der Jesus ziemlich ähnlich sieht, und ein mit religiösen Bildern bestücktes Tarnnetz. Nach etwa 30 Minuten geht die Zeremonie zu Ende. Das Orchester baut sich auf. Der Sarg wird von uniformierten Soldaten zurück in Richtung des Mietwagens getragen, dahinter folgen zwei Geistliche, dann die Trauergemeinde. Das Orchester spielt ein melancholisches Lied, das nicht nach Krieg klingt. Schließlich wird der Sarg, gefolgt von einem Konvoi aus zwei städtischen Bussen, zum Friedhof gefahren. Auch wir dürfen mit.
Der Krieg ist überall
Lviv, die westlichste Stadt des Landes, liegt weit entfernt von der Front im Osten und ist immer noch ein Ort, an dem man sich vom Krieg erholen kann. Die Stadt entwickelte sich in den letzten Kriegsjahren zu einer Art neuem Zentrum der Ukraine, in das es vor allem die besser Situierten des Landes treibt, was die Mieten in die Höhe schnellen lässt. Jeder Krieg hat auch seine Profiteure. Doch Lviv ist längst nicht mehr nur in dieser Hinsicht Kriegsschauplatz. Die Allgegenwart des Krieges können auch ein lebendiges Stadtleben, ein allgegenwärtiges städtisches Tourismusmarketing und eine intakte Konsumkultur nicht überdecken.
Im September trafen ungewohnt heftige russische Luftschläge den gleichnamigen Oblast. Täglich kommen hier die Züge von der Front an und mit ihnen zahllose Verwundete, die in Lviv in Veteranenzentren behandelt werden. In den Restaurants und Cafés der Stadt, die Normalität suggerieren sollen, sitzen nur wenige Männer, arbeiten tun hier ausschließlich Frauen. Es sind zwei Welten, die parallel stattfinden. Die eine ist die eines Alltags, der an die Zeit vor dem Krieg erinnern und dabei zugleich die Hoffnung auf die Zukunft wachhalten soll. Die andere ist die eines Landes, das sich seit bald vier Jahren in einem fürchterlichen Abnutzungskrieg befindet. Auf der Website des Lviv Habilitation Hub, einem großen Veteranenzentrum, wird das Behandlungsprogramm dargestellt und mit Fotos illustriert, auf denen lächelnde, gut gelaunte und sogar tanzende Männer zu sehen sind. Den meisten fehlen Gliedmaßen. Arm ab, Bein ab. Dinge, die im Krieg passieren.
Mittlerweile hat jede:r Ukrainer:in Tote und Verstümmelte im Familien- und Bekanntenkreis, während sich weitere im Fronteinsatz befinden oder bereits als vermisst gelten. Eine Gesprächspartnerin wird uns einige Tage später in Kyiv von ihren Reisen durch die Dörfer der Zentralukraine berichten, in denen nur noch Frauen zu sehen sind. Die Männer seien tot, an der Front, im Ausland oder sie versteckten sich vor der Einberufung. Auch auf dem Land seien die Bilder von gefallenen Soldaten in der Öffentlichkeit allgegenwärtig. Sie fügen sich in ihren Augen zu einem schauderhaften Gesamtbild. „Es gibt Dörfer, da sind wohl fast alle Männer tot.“ Und natürlich gilt auch: Je ärmer, desto toter. Das ist im freien Westen nicht anders als in Russland.
Die Toten sind ebenso allgegenwärtig wie das politische Tabu, das über dem sich aufdrängenden Gesamtbild liegt. Die politische notwendige Heldenverehrung und das politisch ebenso notwendige Verschweigen der tatsächlichen Opferzahlen erzeugen eine unüberbrückbare kognitive Spannung, die wie ein dichter Nebel den Blick auf etwas verunmöglicht, das alle ahnen oder wissen. Ein großes, kollektives Verdrängen verdeckt diese vielleicht alles entscheidende Geschichte des Krieges: die Verlängerung des ukrainischen Widerstands gegen die russische Invasion und seine Verwandlung in einen nicht enden wollenden Abnutzungskrieg, den nicht nur gewinnen wird, wer die besseren Waffen hat, sondern auch, wer dazu bereit ist, die Dezimierung der jungen Generation in einem Durchhaltewettbewerb auf dem Schlachtfeld am längsten in Kauf zu nehmen. Das Resultat ist toxisch: Je mehr Tote, umso mehr muss in ihrem Namen weitergekämpft werden, obwohl ihre an den Ersten Weltkrieg erinnernde Zahl gleichzeitig das sofortige Ende der Kämpfe zur obersten Priorität macht.
Wieder in Betrieb
Mittlerweile stehen wir im Eingangsbereich des Busses zum Friedhof. Am Rande des Konvois durch das Zentrum Lvivs finden sich überall Bewohner:innen der Stadt ein, viele kommen aus den Cafés und Restaurants der Stadt oder aus den diversen Geschäften, die es immer noch zahlreich gibt und von denen auch heute am Sonntag alle geöffnet haben. Die Menschen wenden sich dem Trauerzug zu, manche knien nieder. Nach etwa zehnminütiger Fahrt erreichen wir das Marsfeld. Auf der Fläche neben dem ruhmreichen Lytschakiwski-Friedhof – eine Art Père-Lachaise von Lviv, dessen erstes Grab aus dem Jahr 1675 stammt – ist ein improvisierter Friedhof für gefallene Soldaten entstanden. Hier beerdigte bereits die Sowjetunion ihre toten Soldaten des Zweiten Weltkriegs und benannte die Wiese nach dem römischen Kriegsgott. Jetzt ist das Marsfeld wieder in Betrieb. Im April 2022 berichtete die Süddeutsche Zeitung von zwei Dutzend Gräber, die sich hier befinden. Mittlerweile sind es rund 2.000, wenn nicht mehr. Auf jedem einzelnen finden sich Fahnen und mindestens ein Foto der verstorbenen, meist jungen Männer. Die meisten Toten schauen einen mit milden, weichen Gesichtern an, die eher an bescheidene Familienmenschen erinnern. An einem Grab entdecken wir einen QR-Code. Er führt zu einer Petition der Hinterbliebenen an den ukrainischen Präsidenten, die ihn auffordern, den hier Beerdigten den Heldenstatus zu verleihen.

Die Menschen in der Ukraine seien zu einem Durchhalte-Heroismus verdammt und der Wunsch nach Frieden und Freiheit sei in einem alternativlos scheinenden Diskurs mit der Fortsetzung des Krieges verknüpft worden: Das schreibt die ukrainische Autorin und Künstlerin Yevgenia Belorusets. Sie lebte lange in Berlin und Kyiv, pendelte gewissermaßen zwischen den zwei Realitäten, nachdem im Jahr 2014, wie sie im Nachhinein sagte, „der Krieg zum ersten Mal begann“. Seit Februar 2022 berichtet sie in Sprachnachrichten, Büchern und Texten aus Kyiv. In einem aktuellen Text beschreibt sie dieses Dilemma: „Bereits in den ersten Kriegsmonaten, als sich herausstellte, dass der ersehnte Frieden nicht kommen würde, entstand eine ihm entgegengesetzte Idee: das Konzept des ‚Aushaltens‘, der Unzerbrechlichkeit. Damit verbunden ist die widersprüchliche Vorstellung, dass der Krieg eine freie Entscheidung und zugleich unvermeidliche Notwendigkeit sei.“ Es zeige „sich in diesem Krieg – wie in vielen anderen –, dass es als selbstverständlich hingenommen wird, dass die Idee des gemeinsamen Widerstands blind tötet“.
Während in Deutschland gemessen an den Verheerungen des Abnutzungskrieges überproportional viel über Angriffe auf Zivilist:innen und bewohnte Städte, allen voran Kyiv, berichtet wird, erfahren wir über diese zahllosen, regelrecht regulären Toten des Kriegsalltags an der Front so gut wie nichts. Nicht einmal die Tatsache, dass ihre tatsächliche Zahl unbekannt ist und sich nach Einschätzung von Expert:innen eher auf das Fünf- bis Zehnfache der Ende 2024 offiziell verkündeten 43.000 belaufen dürfte. Das ist auch deshalb bedeutsam, weil die allermeisten von ihnen vermutlich bis kurz vor ihrem Tod ebenfalls Zivilisten waren. Denn in der Ukraine kämpfen und sterben längst nicht nur Berufssoldaten. Viele derer, die als Nummer in der soldatischen Statistik aufgehen, haben nur ein paar Monate oder Wochen oder sogar Tage eine Uniform getragen, manche freiwillig, andere zwangsweise, weil zwangsrekrutiert – in einem Land, das Männer im wehrfähigen Alter seit Kriegsbeginn nicht mehr legal verlassen dür-fen. Gilt für sie wirklich und in letzter Konsequenz, was EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen über „die Ukrainer“ behauptete, nämlich dass sie alle „bereit sind“ beziehungsweise waren, für den „europäischen Traum zu sterben“?
Zugfahrt Richtung Frieden
Am frühen Morgen auf der Rückreise nach Berlin, am Prager Hauptbahnhof auf den Anschlusszug wartend, sehe ich auf X ein Foto aus Gaza: Ein vielleicht zehnjähriger Junge im Rollstuhl, zwei amputierte Hände, ein amputiertes Bein. Es ist der erste Bahnhof seit zehn Tagen, an dem sich keine Soldaten tummeln, die gerade ihren Angehörigen um den Hals fallen oder sich von ihnen verabschieden, an dem keine Soldaten mit Krücken und abgetrennten Gliedmaßen zu sehen sind. Unweigerlich erinnere ich mich an die große medico-Kundgebung in Berlin vor einigen Wochen, wo zwischen den vielen politischen Rapper:innen und ihren jungen Fans, die aus der gemeinsamen Empörung über den Genozid auch ein verständliches Moment von Ermutigung erfahren, die Sängerin Aya Samra auftrat. Ihr Beitrag, ein trauriger, ruhiger Akustiksong, schuf ein Moment des Innehaltens, der alle kollektiv-politisch Empörten kurz auf sich selbst zurückwarf. Es lag etwas in der Luft, das sich der politischen wie moralischen Verwertung entzieht: eine große, tiefe und schmerzhafte Trauer, die auch dem Verlust der Hoffnung darauf gilt, dass die zukünftige Welt ein menschlicher, ein friedlicher und auch freudvoller Ort sein könnte.
Zwischen der Ukraine und Gaza tut sich heute jenseits aller Politik dieser menschliche Abgrund des Krieges auf – selbst dann, wenn noch nicht einmal die drängende Frage gestellt ist, ob die geschätzt täglich tausend toten russischen Soldaten nicht auch in die Gesamtrechnung des Grauens aufgenommen werden müssen. Oder, wie Belorusets schreibt: „In den öffentlichen Debatten der letzten Jahre hat sich der Fokus vom Krieg als inakzeptable Praxis, die Gemeinschaften traumatisiert, Städte und Mikrokulturen zerstört, verlagert auf die Bewertung seiner Ergebnisse; ob diese akzeptabel erscheinen oder nicht. Die Bereitschaft der Gesellschaft, den Krieg auszuhalten, wird durch Umfragen gemessen, deren Ergebnisse wiederum als Argumente für seine Fortsetzung dienen. Das erinnert mich an die Vorstellung, Gefängnisinsassen aufzufordern, sich in einer Befragung für lebenslange Haft oder die Todesstrafe auszusprechen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder bewusst zu machen, was Krieg wirklich bedeutet.“ Man wird sich auch in Deutschland auf Dauer dieser Frage nicht mit Putinismus-Vorwürfen entziehen können. Oder doch?
Auf dem Marsfeld in Lviv beginnt es zu regnen. Das Orchester ist immer noch im Einsatz und spielt mittlerweile die Nationalhymne. Die ukrainische Fahne, mit der der Sarg bedeckt war, wird abgenommen und, so ist es Brauch, der Familie des Verstorbenen übergeben. Es erklingen Salutschüsse, dann geht es das Feld hinauf zum Grab. Nachdem der Sarg unter die Erde gebracht ist, wenden sich viele der Trauergäste anderen Gräbern zu. Man kannte sich. Die Gräber auf der großen Wiese werden in Zehnerreihen ausgehoben, zwischen den Grabstätten werden mit Kies provisorische Wege angelegt. Ein Abschnitt ist auf der etwa 300 Meter langen Wiese noch frei. Ein riesengroßer Kieshaufen liegt schon bereit.
Gegen die Logik der Gewalt
Hilfe für die Zivilbevölkerung in der Ukraine
Was eigentlich ist eine Zivilbevölkerung, jene Gruppe von Menschen, von der in Kriegszeiten so häufig die Rede ist? „Für den Krieg wird eine Kategorie von Menschen geschaffen, die ‚außerhalb des Spiels‘ leben. Sie werden beschossen, müssen die Beschüsse ertragen, werden verletzt, scheinen aber keine angemessene Antwort darauf geben zu können. Ich glaube nicht an diese Antwortlosigkeit. Etwas versteckt sich doch im Lächeln, das ich heute mehrmals sah. Eine heimliche Waffe, eine unheimliche“, schreibt die ukrainische Schriftstellerin Yevgenia Belorusets über ihre Begegnungen mit einfachen Menschen auf den Straßen Kyivs in Zeiten des Krieges.
In fast vier Jahren Krieg versuchen die medico-Partner:innen in der Ukraine genau das: der Übermacht des Krieges nicht ohnmächtig, sondern mit dem bescheidenen Repertoire einer Menschlichkeit zu begegnen, die Räume jenseits von Heldentod und Exodus offenhält. In diesem Zwiespalt organisieren die Partnerorganisationen von medico Nothilfe, schaffen Orte der Gastfreundschaft und Solidarität für die im Land Vertriebenen. Sie kämpfen für die Verteidigung des Gemeinsamen, auch gegen die autoritären Tendenzen im eigenen Land. Sie sind dabei mit sinkenden Spendengeldern und steigender Gleichgültigkeit konfrontiert. Unterstützen Sie die Arbeit unserer Partner:innen deshalb gerade jetzt mit einer Spende.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 04/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!






