Ukraine-Krieg

Deserteure aller Länder

30.06.25   Lesezeit: 7 min  
#menschenrechte 

Unzählige versuchen, ihrem Schicksal als Kanonenfutter im Ukraine-Krieg zu entgehen. medico unterstützt sie dabei.

Von Mario Neumann

Am Ende habe er sich selbst angeschossen, allerdings gut vorbereitet, sodass es ausgesehen habe wie ein Treffer nach feindlichem Beschuss. „Ich habe mit verschiedenen Möglichkeiten geliebäugelt, die Armee zu verlassen. Ich wäre sogar lieber inhaftiert worden. Doch selbst im Gefängnis kann man rekrutiert werden.“ Ein junger Mann berichtet auf einem Online-Vernetzungstreffen einer Organisation zur Unterstützung russischer Deserteure und Kriegsdienstverweigerer die Geschichte seiner erfolgreichen Flucht aus der russischen Armee. Er stammt, so berichtet er, aus einfachen Verhältnissen und habe nach einem Militärinternat schließlich die Militärakademie besucht. Das alles habe er als Chance zum Aufstieg begriffen. Bevor er 2022 an die Front in der Ukraine geschickt wurde, sei er zwei Jahre in Syrien stationiert gewesen. An dem Treffen nimmt er teil, weil er nach seinem erfolgreichen Selbstbeschuss von der Front evakuiert und erst in ein Krankenhaus, dann in eine Reha-Einrichtung verbracht worden sei. Von dort konnte er schlussendlich 2023 mit Unterstützung der tagenden Organisation nach Kasachstan fliehen. Seitdem lebt er dort. Und weil er keine Papiere besitzt, kann er das Land auch nicht verlassen.

Wie viele solcher Versuche es seit dem Beginn des Ukraine-Krieges gegeben hat und wie viele davon erfolgreich waren, darüber kann nur spekuliert werden. Klar ist jedoch, dass ihre Zahl seit Beginn des Krieges stetig steigt, was sich auch an den anhängigen Gerichtsverfahren in Russland gegen Soldaten widerspiegelt, für die Delikte wie das Verlassen einer militärischen Einheit oder Fahnenflucht wie fast überall auf der Welt als Straftaten gelten. Weitaus höher dürfte die Zahl derjenigen liegen, die nicht die ungleich schwierigere Flucht aus der Armee geschafft haben, sondern sich einer drohenden oder bevorstehenden Einberufung durch Flucht ins Ausland bereits rechtzeitig entzogen haben. Ende 2023 schätzten verschiedene Quellen die Zahl russischer Kriegsdienstverweigerer, die im Ausland auf der Flucht sind, auf mindestens 250.000. Addiert man zu dieser Zahl noch Familienangehörige, die oftmals mit auf der Flucht sind, so könnten es bis zu einer Million Menschen sein, die das Land verlassen haben, weil sie selbst oder ihre Angehörigen einer Einberufung entgehen wollten.

Ungewisse Zuflucht in Georgien

In einem Vorort der georgischen Hauptstadt Tiflis gibt es eine Art Wohnprojekt, wo Menschen mit solchen Geschichten ankommen und auch mittelfristig unterkommen können. Die Szenerie ist filmreif. Ankunft auf einer dunklen Straße am Berg, aus der Dunkelheit kommt nach Handykontakt eine Person hervor und winkt die Besucher:innen herein. Was von außen wie ein Versteck wirkt, ist im Inneren so etwas wie eine russische Villa Kunterbunt: Von liberalen Journalist:innen bis zu anarchistischen Aktivist:innen (die auf eine ziemlich liberale Art tonangebend sind und augenscheinlich auch in Europa einen Teil ihrer Kaderschule durchlaufen haben), von queeren Oppositionellen bis zu Kriegsdienstverweigerern trifft sich hier die ganze aus dem Land vertriebene Multitude. Es sind knapp zwei Dutzend Leute, die bei Essen und Schnaps von ihren Fluchtgeschichten, aber auch ihrer Angst von einer weiteren Ostorientierung Georgiens und der damit schwindenden Sicherheit für die russische Opposition im Land berichten. Während viele Georgier:innen auch aus Angst vor einer militärischen Eskalation wie in der Ukraine die einseitige Bindung an die EU für gefährlich halten und trotz großer Sympathien für die EU eine parallele Annäherung an Russland befürworten, ist für die russischen Oppositionellen im Land das Gegenteil gefährlich. Es sind komplizierte Zeiten.

Die meisten der russischen Flüchtlinge haben hier in Georgien, in Armenien und in Kasachstan Zuflucht gesucht, manche auch in der Türkei und in Israel, einige in Serbien. Nach Europa schaffen es wenige, bleiben darf kaum jemand. Das Argument der Behörden, auch in Deutschland: In Russland existiert ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, eine drohende Einberufung reiche als Asylgrund daher nicht aus. Dass dieses formale Recht jedoch oftmals mit Übergriffen, Schikanen und auch Gewalt ausgehebelt wird, interessiert die deutsche Öffentlichkeit und auch viele Gerichte kaum. Hierzulande wurden seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine etwa 6.300 Asylanträge gestellt, gerade einmal 350 Personen sind als Schutzsuchende anerkannt worden. Wenn es um den Ukraine-Krieg geht, ist Russland für Deutschland das ultimativ Böse und Aufrüstungs- wie Waffenproduktionsgrund. Geht es um Asylpolitik, ist es ein fast sicheres Herkunftsland. Nimmt man nicht die 6.300 Anträge zum Maßstab, sondern die Zahl aller, die auf der Flucht sind, geht der deutsche Beitrag zu ihrer Versorgung gen null.

Kriegsdienstverweigerer in Deutschland

Es kümmert die deutsche Öffentlichkeit übrigens auch wenig, dass in der Ukraine ein solches Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht einmal auf dem Papier existiert, oder besser: nicht mehr. Es wurde zu Beginn des Krieges suspendiert und ist nur in Ausnahmefällen noch anwendbar, beispielsweise aus religiösen Gründen. Die Berichte von Straßenkontrollen der Armee und öffentlichen Razzien, bei denen nach Wehrpflichtigen gefahndet wird, häufen sich, erst recht, seit die Regierung ein neues Mobilisierungsgesetz verabschiedet hat. Die Ukraine leidet bekanntermaßen nicht nur an fehlenden Waffen und Munition, sondern auch an einer erschöpften und ausgedünnten Armee. Seit soldatischer Nachschub aus dem lange Zeit noch verschonten Kiew kommt, machen die Maßnahmen zur Einberufung gelegentlich auch in Deutschland Schlagzeilen. Vorher, als vor allem die ländlichen und östlichen Regionen die Kriegslast trugen und das Menschenmaterial lieferten, waren in Kiew die Fitnessstudios und Straßen noch voller Männer im wehrpflichtigen Alter. Jetzt, so wurde kürzlich berichtet, werden sogar Rockkonzerte für Kontrollen und Rekrutierungen genutzt.

Viele junge Männer sind indes gar nicht mehr im Land. Zwar hatte die Regierung sehr schnell nach Beginn des Krieges ihre Ausreise zu verhindern versucht, aber es dauerte eine Weile, bis die Grenzen beinahe lückenlos kontrolliert werden konnten. Unter den 1,1 Millionen Ukrainer:innen, die in Deutschland registriert sind, befinden sich laut Statistischem Bundesamt immerhin rund 220.000 Männer im wehrpflichtigen Alter. Auch sie stehen mittlerweile auf der Liste der potenziell zu rekrutierenden Soldaten.

Im letzten Sommer schaltete die Regierung für sie die App „Reserve+“, die damit beworben wird, dass man hier seine „persönlichen Daten bequem aktualisieren“ könne. Doch tatsächlich ist die App Voraussetzung, um überhaupt noch die Dienste der Botschaft in Anspruch nehmen zu können. Gleichzeitig können dies Männer zwischen 18 und 60 nur noch dann tun, wenn sie über ein Militärregisterdokument verfügen. Das heißt im Umkehrschluss: Wer als wehrfähiger Mann nach einer gewissen Zeit im Ausland seinen Pass verlängern möchte oder andere ukrainische Dokumente benötigt, muss sich bei der Armee registrieren und ist damit in den neuen Rekrutierungssystemen erfasst. Der Krieg braucht Nachschub von überall: Seit Mai 2024 können sogar Häftlinge in der Ukraine, sofern sie nicht bestimmter Straftaten schuldig gesprochen wurden, einen Antrag auf Mobilisierung stellen und ihre Haftzeit gegen einen Fronteinsatz tauschen. In Russland gibt es ähnliche Ansätze, die diversen marginalisierten Gruppen des Landes bei der Rekrutierung für den Krieg besonders in den Blick zu nehmen: Menschen ohne russischen Pass, Verschuldete und eben auch Gefängnisinsassen. Laut Angaben des ukrainischen Auslandsnachrichtendienstes sollen es zwischen 140.000 und 180.000 sein.

Ende vergangenen Jahres schätzte das Wall Street Journal, dass im Ukraine-Krieg etwa 80.000 ukrainische Soldaten gefallen und 400.000 verletzt worden seien. Auf russischer Seite seien es doppelt so viele Tote. Diese Zahlen stellen eine andere Frage an einen nötigen Frieden als die moralisch aufgeladene Feldherrenattitüde der deutschen Medienlandschaft und Politik, die über Waffenlieferungen spricht, als wäre der Krieg ein Technologiewettbewerb und kein Massengrab. Die vielen russischen und ukrainischen Kriegsdienstverweigerer hingegen sind eine der wesentlichen Realitäten eines über drei Jahre andauernden Stellungskriegs. Sie erzählen eine andere Geschichte als der fortwährende Diskurs, der einzig einen durch militärische Überlegenheit des Westens hergestellten Frieden kennt. Und sie fordern ein Nachdenken darüber, ob nicht auch russische Soldaten zu den Verdammten dieser Erde gehören.

 

 

medico unterstützt über den Verein Connection e.V. Kriegsdienstverweigerer im Kontext des Ukraine-Krieges. Über einen Fonds können Netzwerke Unterstützung beantragen, die mit praktischer Hilfe, Beratung oder Öffentlichkeitsarbeit das Recht auf Kriegsdienstverweigerung verteidigen. Viele von ihnen operieren klandestin und ihre Arbeit ist geheim. Ihre Unterstützung ist dennoch wichtig.

Spendenstichwort: Ukraine

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Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 02/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und vertritt medico im politischen Berlin.

Twitter: @neumann_aktuell
Bluesky: @neumann-aktuell


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