medico: Der Tritt nach unten ist aktuell Programm. Im Wahlkampf ging es täglich gegen Migrant:innen, der damalige Kanzlerkandidat Friedrich Merz kündigte an, „dieses System Bürgergeld vom Kopf auf die Füße zu stellen“ und dadurch zweistellige Milliardenbeträge einsparen zu wollen. Inzwischen hat die neue Regierung eine Nullrunde beim Bürgergeldsatz im nächsten Jahr angekündigt.
Katja Kipping: In der Tat. Wieder einmal ist die Rede von „Totalverweigerern“ oder von Menschen, die sich angeblich auf Kosten des Staates „zurücklehnen“ würden. Wir haben als Paritätischer Wohlfahrtsverband vor kurzem die ersten 100 Tage Merz-Regierung in den sozialen Medien kommentiert. Wir zogen zunächst einmal eine diskursive Bilanz: Die Regierung hat nicht ein einziges Mal Empathie mit den Ärmsten zum Ausdruck gebracht, aber gefühlt im Wochentakt Armenbashing betrieben. Doch dabei wird es wohl kaum bleiben. Friedrich Merz will erklärtermaßen die Reichsten weiter vor Steuergerechtigkeit bewahren, aber bei den Ärmsten kürzen. Dabei ist der Regelsatz im Bürgergeld schon jetzt künstlich kleingerechnet. Aktuell beträgt er lediglich 563 Euro für eine:n Alleinstehende:n. Ein armutsfester Regelsatz beim Bürgergeld läge aktuell bei 813 Euro.
Als jemand, der seit Jahrzehnten sozialpolitisch aktiv ist: Wie würdest du die aktuelle Entwicklung beschreiben? Dir kommt sicher einiges bekannt vor…
Die Kontinuität besteht vor allem darin, dass es wiederkehrende Konjunkturen gibt. Die Agenda 2010 beispielsweise ist diskursiv vorbereitet worden durch die Beschimpfung von armen Menschen als Faulenzer. Das waren vor allem Wolfgang Clement und Gerhard Schröder. Einzelne Zeitungen haben das mitbetrieben, man denke an die Geschichte über „Florida Rolf “. Natürlich gibt es das immer als eine Art Grundrauschen. Doch in jenen Jahren wurde eine Stimmung geschaffen, auf die dann die Agenda folgte.
Doch in den Jahren darauf war die Stimmung ambivalenter, oder? Agenda 2010 und Hartz IV wurden vielerorts als großer Fehler interpretiert.
Danach hat es eigentlich eine doppelte Entwicklung gegeben. Einerseits gab es organisierten Gegenwind: Wohlfahrtsverbände, Erwerbsloseninititativen, aber auch Linke und Gewerkschaften haben über einen wirklich langen Zeitraum für mehr Teilhabe und mehr soziale Garantien gestritten, die auch ein Umdenken bei den Agenda-Parteien zur Folge hatte. Es gab also eine gesellschaftliche Stimmung, die stärksten sozialen Verwerfungen der Agenda 2010 zu korrigieren. Andererseits hat die Union – durchaus orchestriert und generalstabsartig, wie das Buch „Es braucht nicht viel“ von Helena Steinhaus und Claudia Cornelsen zeigt – weiterhin einen Diskurs geprägt, der Sozialleistungen für Arme zum politischen Hauptproblem erklärt. Steuererleichterungen für Superreiche oder Steuerhinterziehung und Skandale wie Cum Ex fallen dabei dann hinten runter.
Blickt man auf die letzten 20 Jahre Politik, aber auch auf die aktuelle Bundesregierung, kann man den Eindruck bekommen, dass der Hass auf die Schwächsten ein zentrales Schmiermittel des politischen „Weiter-so“ ist. Mal geht es gegen Migrant:innen, mal gegen die Ärmsten. Wie sollte man dem begegnen?
Zum einen mit Solidarität, zum anderen mit Aufklärung. So kann man im Gespräch schon mal eine Gegenfrage stellen. Zum Beispiel: Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass Sie auch nur einen Euro mehr in der Tasche haben, wenn es den Ärmsten noch schlechter geht? Glauben Sie ernsthaft, die aktuellen Mehrheiten im Bundestag stellen sicher, dass das, was beim Sozialen gekürzt wird, ausgerechnet Ihnen zugute kommt?
Als medico gilt unser Blick ja traditionellerweise dem globalen Süden, der noch einmal ganz anders unter den Folgen der hiesigen Politik leidet. Armut, würden dort vielleicht nicht wenige sagen, gibt es in Deutschland gemessen an ihren Erfahrungen nicht.
Numerisch haben sich die Sozialleistungen in Deutschland gesteigert, aber stellt man die inflationsbedingten Kaufkraftverluste in Rechnung, dann hat sich die Armut hierzulande verschärft. Die Menschen können sich vom Regelsatz heute weniger leisten als noch vor vier Jahren. Gleichzeitig gilt, dass Armut sich wesentlich bestimmt durch die Distanz zum durchschnittlichen Lebensniveau einer Gesellschaft, eben durch Möglichkeiten der Teilhabe. Es gibt deshalb aus gutem Grund international die Verständigung darauf, Armut als relative Größe, also am durchschnittlichen Standard einer Gesellschaft zu messen.
Wenn wir über das reden, was Ex-Kanzler Scholz die Zeitenwende genannt hat: Welchen Einfluss haben diese Entwicklungen auf die Sozialpolitik?
Natürlich erleben wir die Folgen des Klimawandels oder des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auch hier. Allerdings muss man erst einmal betonen, dass sie sich anderswo sehr viel heftiger und deutlicher zeigen. Auch wenn hierzulande beispielsweise Heiz- und Energiekosten gestiegen sind, kommen die globalen Krisen hier abgefedert an. Dennoch verschärfen diese Entwicklungen natürlich gerade bei den armen Haushalten die ohnehin prekäre Lage. Viel wichtiger, als diese Folgen bloß abzumildern, scheint mir allerdings, dass angesichts der globalen Gemengelage und der erwartbaren Krisen ein Umdenken gefordert ist: Es stellt sich zukünftig die Frage, wie unsere Gesellschaft „resilienter“ werden kann im Sinne der Fähigkeit, mit den globalen Krisen vernünftig umzugehen.
Wie siehst du vor diesem Hintergrund das 500 Milliarden schwere „Sondervermögen Infrastruktur und Klimaneutralität“, das die Regierung zeitgleich zur Lockerung der Schuldenbremse noch vor Dienstantritt auf den Weg gebracht hat?
Die Regierung ist ja gestartet mit dem Willen zu investieren. Aber es gibt eben einen extrem begrenzten Investitionsbegriff. Da denken viele an Brücken und Straßen. Aber die Orte des Lebens, die diese Wege verbinden, werden dabei oft vergessen. Es geht also auch um Investitionen in Kitas, Schulen, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, soziale Einrichtungen, Orte der Begegnung. Nichtstaatliche, gemeinnützigen Akteure waren da weniger auf dem Zettel, obwohl sie extrem wichtig sind. Das eigentliche Dilemma wird sein: Die Lockerung der Schuldenbremse ist da, aber der Wille zur Steuergerechtigkeit durch Umverteilung fehlt. Eine Regierung, die nicht für mehr Steuergerechtigkeit sorgen will, kann die Gesellschaft nicht zusammenhalten. Diese Unterlassungssünde begleitet die Handlungsunfähigkeit der Politik seit Jahrzehnten.
Wir erleben, so würde ich sagen, eine Stimmung, die einen gegenteiligen Schluss zieht: Jetzt, in Zeiten von Krieg und Krise, wo es ums nackte Überleben geht, müssen einige Gewohnheiten auf den Prüfstand. Die fetten Jahre sind vorbei, jetzt heißt es Wehrpflicht usw. Da ist wenig Platz für soziale Rechte oder die Idee, dass den Krisen eben gerade nicht mit noch mehr Härte und dem „survival of the fittest“ beizukommen ist.
Je verrückter die Welt wird, desto wichtiger sind soziale Garantien. Es tut Not im multiplen Krisengeschehen, dass soziale Garantien, aber eben auch soziale Infrastrukturen erhalten und gestärkt werden. Und dabei geht es gerade nicht nur um Sozialleistungen und monetäre Fragen, sondern um soziale und gesellschaftliche Infrastruktur. Können Wohnungslose, Pflegebedürftige oder Suchtkranke irgendwo hin, wenn sie nicht weiterwissen?
Wo kann jenseits von Konsumdruck Begegnung und Austausch stattfinden?
Du bist jetzt seit einem knappen Jahr Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Wie nimmst du die allgemeine Lage wahr?
Was wir eigentlich in allen Bereichen erleben, in denen Menschen mit besonderen Nöten unterwegs sind, ob das nun Bürgergeld oder Migration ist: Es sind verdammt harte Zeiten für die Betroffenen – aber auch für diejenigen, die beruflich oder ehrenamtlich tätig sind. Für Letztere ist die Situation schwierig und teils katastrophal. Sie sehen, wie wichtig gerade jetzt die Strukturen sind, die sie anbieten, beispielsweise Migrationsberatung oder psychosoziale Zentren. Die Nachfrage steigt kontinuierlich. Gleichzeitig sind sie von massiven Kürzungen bedroht und nicht selten mit politischen Angriffen und Anfeindungen konfrontiert. Man muss allerdings betonen, dass es selbst in Zeiten wie diesen auch Erfolge gibt, die nicht selten auf langjähriges Engagement zurückgehen. Der Freiwilligendienst ist so ein Beispiel. Oder das Bundestariftreuegesetz, das vom Arbeitsministerium auf den Weg gebracht wurde und öffentliche Auftragnehmer zukünftig auf die Einhaltung von Tarifverträgen verpflichtet. Es ist also selbst heute nicht alles schlecht und es liegt auch immer – zumindest ein bisschen – an uns allen, wie es weitergeht.
Das klingt jetzt fast so, als hättest du das vor fünf oder zehn Jahren auch schon sagen können. Wenn wir in die Zukunft blicken: Glaubst du nicht, dass die Kontinuität der letzten Jahrzehnte unterbrochen ist und wir uns in einer fundamental neuen Situation befinden, die auch sozialpolitisch Schlimmes erahnen lässt?
Die Lage ist tatsächlich sehr ernst. Nehmen wir das Beispiel Jugendhilfe: Die Bedarfe wachsen und die Programme werden angegriffen. In der Eingliederungshilfe zeigt sich mehr oder minder das Gleiche. Wir erleben außerdem eine Verächtlichmachung von sozialen Diensten und gesellschaftlichem Engagement. Der Aufwind der Rechten hat viel damit zu tun. Er ist ein Angriff auf zivilgesellschaftliche Werte, aber auch auf die Schwächsten und die Arbeit mit ihnen. Diese Bedrohung spüren viele. Gleichzeitig bleibe ich dabei: Es ist wichtiger, sich zu fragen, wie der Kollaps verhindert werden kann, als zu orakeln, ob oder wann er kommt. Da ist es wichtig, zu betonen: Das, was es an Begegnungszentren und Hilfsangeboten, an Initiativen und gewachsenen Strukturen gibt, sind keine Almosenverteilungsstätten, sondern spielen demokratiepolitisch eine große Rolle.
In den vergangenen Jahrzehnten waren es oftmals sozialdemokratische und sogar nominell linke Regierungen, die den Sozialabbau und neoliberale Reformen umgesetzt haben. Dennoch verkörperte dieser auch von links praktizierte Neoliberalismus ja ein Modernisierungsversprechen. Ist Sozialabbau heute wieder ein klassisch rechtes Projekt?
Das ist etwas komplizierter. Erstens würde ich gerne deinen Begriff von „nominell linke“ hinterfragen. Denn es gab ja auch Gegenbeispiele. Ich würde eher sagen, dass der Boden, auf dem die neue Rechte gedeiht, von den neoliberalen Politiken bereitet wurde. Das war zwar ausdrücklich nicht so intendiert, aber ist nichtdestotrotz ein Ergebnis. Der Neoliberalismus stand seinem Selbstverständnis nach für Modernisierung und für Abbau sozialer Sicherheiten. Die soziale Verunsicherung und die Zunahme von Abstiegsängsten haben dann wiederum eine gesellschaftliche Atmosphäre geschaffen, in der der Rechtspopulismus Zulauf bekommt. Und dies wiederum untergräbt die erfolgte oder beabsichtigte Modernisierung und Liberalisierung.
Was können denn Großorganisationen und Verbände in dieser Situation tun, die vielen verhängnisvoll erscheint?
Ich denke jedenfalls, dass die Zukunft weiterhin offen und umkämpft ist. Verschiedene Akteure haben im Kampf um die Zukunft verschiedene Aufgaben und Positionen. Als Paritätischer ziehen wir unsere Überzeugungskraft erstens aus der Breite und Praxis unserer Mitgliedschaft. Immerhin vereint das Dach des Paritätischen über 10.000 Mitgliedsorganisationen und rund 500.000 hauptamtliche Mitarbeitende. Deren praktische Erfahrungen sind eine Quelle unserer Expertise.
Hinzu kommt die fachliche und wissenschaftliche Arbeit in unserer Geschäftsstelle und der Paritätischen Forschungsstelle. Daraus ergibt sich für uns die Aufgabe, soziale Problemlagen zu thematisieren, die sonst schnell übersehen werden. Als Paritätischer sind wir parteipolitisch innerhalb des demokratischen Spektrums neutral. Aber wir ergreifen Partei in der Sache für Gleichheit aller in ihren Rechten und Vielfalt in der Gesellschaft. Durch Thematisierungen und Mobilisierungen und Aufklärung wirken wir darauf hin, dass von den politisch Verantwortlichen jeweils ihre bestmögliche Variante zum Tragen kommt.
Dennoch: Der globale Druck ist und bleibt gigantisch. Früher hat man gerne den Weltmarkt bemüht, um Kürzungspolitiken zu rechtfertigen. Ist der „Druck der Welt“ auf nationale Politik spätestens heute real? Wie soll es da in absehbarer Zeit im nationalen Rahmen besser werden können?
Es gibt durchaus auch eine andere Lehre des Globalen, die etwas paradox ist: Jahrelang hat man uns erklärt, dass Regierungen kaum handlungsfähig sind, sie die Wirtschaft umgarnen müssen und nur Sachzwänge verwalten können. Jetzt zeigt Trump, dass man die großen Konzerne zur Abschaffung von Gender Mainstreaming zwingen kann. Den Inhalt seiner Politik lehne ich natürlich komplett ab. Aber die Reaktionen auf sein Vorgehen könnten ja womöglich auch eine Ermutigung für Regierungen sein, energischer für Klimaschutz und Steuergerechtigkeit vorzugehen. Immerhin zeigen die aktuellen Entwicklungen, dass für Regierungen durchaus politische Spielräume bestehen, wenn man sie denn sehen und nutzen will.
Das Interview führte Mario Neumann.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 03/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!