Der Gerichtssaal des namibischen High Courts in Windhoek ist an diesem 7. Oktober bis zum Bersten gefüllt. Auch auf den umliegenden Zufahrtsstraßen ist das Gedränge groß. Von der Independence Avenue über die John Meinhard Street bis zur Lüderitz Street: Überall sind Würdenträger:innen der Ovaherero und Nama in traditionellen, festlichen Gewändern auf dem Weg zum zweithöchsten Gericht des Landes zu sehen. Denn dort wird heute über eine von ihnen eingereichte Klage verhandelt: Sie fechten die zwischen den Regierungen von Namibia und Deutschland ausgehandelte „Joint Declaration“ an. Dabei geht es um nichts Geringeres als die Aufarbeitung des kolonialen deutschen Völkermords und die Frage, wer daran wie zu beteiligen ist.
Schlussstrich-Politik
Ein Blick zurück. Nachdem Deutschland sich über Jahrzehnte mehr um die Lage der deutschsprachigen Namibier:innen gekümmert hatte als um die Aufarbeitung der deutschen kolonialen Gräueltaten, kamen 2015 infolge des anhaltenden Drucks von Ovaherero- und Nama-Communities Gespräche zwischen Vertretungen der beiden Staaten über eine gemeinsame Erklärung zustande. Die Bundesregierung prägte die Rede von einem „Versöhnungsabkommen“. Im Mai 2021 wurde eine erste Version veröffentlicht. In dieser wird zwar der Völkermord erwähnt, allerdings nur indirekt, nämlich als „events that, from today’s perspective, would be called genocide“. Für die kolonialen Verbrechen – von Vernichtungskriegen gegen die Ovaherero und Nama über die Internierung der Überlebenden in Konzentrationslagern, die oft tödliche Zwangsarbeit, die Enteignung der betroffenen Gruppen bis zur Verschleppung menschlicher Überreste nach Deutschland und ihrer Nutzung für pseudowissenschaftliche Forschung – räumt die Bundesregierung damit eine politisch-moralische, nicht aber eine juristische Schuld ein. Folglich sieht die Erklärung denn auch keine Reparationen, sondern lediglich die Zahlung von Entwicklungshilfe vor. Im Gegenzug soll die namibische Regierung „im Namen aller Namibier:innen“ die deutsche Entschuldigung annehmen, um die „schmerzvolle Vergangenheit“ ein für alle Mal hinter sich zu lassen.
Die Nachfahren und eine Vielzahl von UN-Sonderberichterstatter:innen weisen das Abkommen scharf zurück. Darüber hinaus steht infrage, ob es überhaupt rechtmäßig zustande gekommen ist. Das namibische Parlament hatte nämlich 2006 beschlossen, dass – sollte es je zu Verhandlungen mit Deutschland kommen – die vom Völkermord betroffenen Communities maßgeblich mit am Verhandlungstisch sitzen. Das taten sie aber nicht. Der deutsch-namibische Politikwissenschaftler Henning Melber nennt das eine Strategie der „kalkulierten Vermeidung“. Gegen ihren Ausschluss hatten die Organisationen Ovaherero Traditional Authority (OTA) und Nama Traditional Leaders Association (NTLA) schon während der laufenden Verhandlungen 2017 vor dem Obersten Gerichtshof in New York gegen die Bunderepublik geklagt. Nachdem dies 2021 aus formalen Gründen abgelehnt wurde, wandten sie sich gemeinsam mit der Partei Landless Peoples Movement (LPM), die der Dominanz der Regierungspartei und ehemaligen Befreiungsbewegung SWAPO vor allem im Süden Namibias eine progressive Alternative entgegensetzt, an den High Court in Windhoek. Diese Klage richtet sich nun auch gegen die eigene Regierung. Zu klären ist, ob sie allein mit Deutschland hätte verhandeln dürfen.
Deutschland fehlt
Nun sitzen alle Parteien gemeinsam im Gerichtssaal in Windhoek. Fast alle, denn eine fehlt: die ebenfalls beklagte Bundesrepublik Deutschland. Der namibische Staat hat eigens einen namibischen Anwalt bezahlt, der sich auf die staatliche Immunität Deutschlands beruft, um die deutsche Abwesenheit zu rechtfertigen. Im dunkel vertäfelten Sitzungssaal ergreift die junge LPM-Parlamentarierin Utaara Mootu das Wort. Sie fragt, ob es nicht neokolonial sei, der ehemaligen Kolonialmacht mit namibischen Steuergeldern den Rücken freizuhalten. Die medico-Partnerin Sima Luipert, Sprecherin des technischen Komitees der NTLA, sagt es so: „Das Nichterscheinen der deutschen Regierung kommt nicht überraschend. Das Gleiche hatte eine ihrer Vorgängerregierungen auch im New Yorker Prozess versucht – bis die Richter:innen sie vor Gericht zitierte und ihr Anwalt erschien. Auf Kosten der Nachfahren der Überlebenden des Völkermords will sich Deutschland mit aller Macht reinwaschen.“
Auch lange nach der Überwindung des deutschen Kolonialismus und der südafrikanischen Apartheid ist die namibische Gesellschaft tief gespalten. Die Vergangenheit wirkt nach. So ist das Land mit rund vier Millionen Einwohner:innen weiterhin von der ökonomischen Macht der weißen Siedlernachfahren geprägt. Laut des Zensus von 2023 sind lediglich 1,8 Prozent der Bevölkerung weiß. Die Minderheit besitzt jedoch rund 70 Prozent des fruchtbaren namibischen Farmlandes, das während des Kolonialismus geraubt wurde. Die Verfassung des 1990 von der südafrikanischen Apartheid befreiten und fortan von der SWAPO regierten Namibias sah nicht etwa die Landrückgabe vor, sondern den Schutz des bestehenden Privateigentums. Zwar vertritt die SWAPO auch nach der umstrittenen Wahl im vergangenen Jahr weiterhin offiziell die Mehrheit der Wähler:innen. Sie repräsentiert jedoch nicht alle Gruppen, deren Territorien die Staatsgrenze des heutigen Namibias umfasst. Während der Süden mit der kolonialen „Polizeizone“ identisch ist, waren die Gebiete nördlich der „roten Linie“ nicht vom Landraub des deutschen Kolonialismus betroffen. Die absolute Mehrheit ihrer Stimmen verdankt die SWAPO den nördlichen Gebieten oberhalb der roten Linie.
Die Nama und Ovaherero hingegen wurden durch den deutschen Völkermord zu Minderheiten gemacht und in Armut gestürzt. Trotzdem verfügen sie heute über erheblichen politischen Einfluss. Ähnlich wie im politischen Berlin kennt man sich unter den politisch Aktiven der vier Millionen Einwohner:innen des Landes. Und nicht wenige Schlüsselfiguren jener indigenen Bevölkerungsgruppen, die gegen den Kolonialismus kämpften, waren auch Widerstandskämpfer:innen der Antiapartheidbewegung. So rettete Hosea Kutako, einstiger Anführer der Ovaherero, den ersten SWAPO-Präsidenten in spe, Sam Nujoma, vor der Verfolgung des südafrikanischen Apartheidregimes. Noch heute trägt der internationale Flughafen der Hauptstadt seinen Namen. Der anhaltende Widerstand der Nama und Ovaherero und ihr politischer Einfluss haben jedenfalls dazu geführt, dass das namibische Kabinett die „Joint Declaration“ bis heute nicht unterzeichnet hat.
RWE: Als habe man verstanden
Während in Windhoek verhandelt wird, spricht Sima Luiperts Mitstreiter Paul Thomas in Deutschland über den deutschen Kolonialismus – auf der von medico mitorganisierten Speakers‘-Tour zu grüner Wasserstoffproduktion in Namibia. Der Hintergrund: In den Nama-Gebieten soll das Megaprojekt Hyphen gebaut werden. In rund zehn Jahren soll es so viel Energie aus grünem Wasserstoff für den deutschen Exportmarkt liefern wie fünf Kernkraftwerke. Was verlockend klingt, hat absehbar verheerende Folgen – sowohl für die Umwelt als auch für den Kampf gegen die anhaltenden Folgen der Kolonialverbrechen. Denn wird das Projekt wie geplant umgesetzt, würden ein weltweit einzigartiges Ökosystem auf Land und im Wasser und damit wichtige Einkommens-quellen zerstört. Auch Orte der Erinnerung an koloniale Verbrechen würden „überschrieben“. Hyphen droht zu einer Reinszenierung zu werden, bei der deutsche Interessen erneut die Rechte und Lebensgrundlagen der Menschen untergraben.
„Damals kamen die Deutschen mit Schutzverträgen. Heute kommen sie mit grünen Wasserstoffpartnerschaften“, sagt Paul Thomas. Er steht auf der Bühne des medico-Veranstaltungsraumes und verliest vor staunenden Zuhörer:innen einen Brief von RWE. Der Energiekonzern hat Hyphen unlängst die Abnahme von 300.000 Tonnen grünem Wasserstoff zugesichert. Auf eine Intervention bei der RWE-Aktionärshauptversammlung und einen anschließenden Brief, in dem die NTLA gemeinsam mit politischen Partnern auf die kolonialen Kontinuitäten des Hyphen-Projektes hinwiesen, antwortete RWE: „Zum jetzigen Zeitpunkt verfolgt RWE keine Geschäftsprojekte mehr in Namibia. Wir nehmen unsere Verantwortung ernst und respektieren die Stimmen der indigenen Völker und zivilgesellschaftlichen Organisationen zutiefst. Sinnvolles Engagement, Umweltverantwortung und der Schutz der Menschenrechte – einschließlich derjenigen der indigenen Gemeinschaften – stehen im Mittelpunkt unseres Geschäftsverhaltens.“
Was in Namibia politisch ins Gewicht fällt, erscheint den Zuhörenden in Frankfurt am Main unglaubwürdig. Just jener Konzern, der die Kosten seines Geschäftsmodells auf die Allgemeinheit und die Menschen im globalen Süden abzuwälzen versucht und sich mit Vehemenz gegen das Lieferkettengesetz wehrt, soll Hyphen aus Sorge um indigene Rechte absagen? Für RWE wäre es ein Leichtes, die Rechte der Nama zu stützen und ihre Forderungen nach Transparenz, Sorgfaltspflicht und Demokratie starkzumachen – stünden die Zeichen für grünen Wasserstoff nur besser. Ebendiese aber haben sich mit dem Berliner Regierungswechsel und einer Kehrtwende in der Energiepolitik verändert. Schon im Wahlkampf hatte der heutige Kanzler Friedrich Merz sich skeptisch über die Zukunft von grünem Wasserstoff in der Stahlproduktion geäußert. Heute spricht die nahtlos vom Gaskonzern Westenergie ins Wirtschaftsministerium gewechselte Habeck-Nachfolgerin Katharina Reiche von „Wasserstoff in allen Farben“ und bremst die Energiewende spürbar aus. Subventionen für erneuerbare Energien will sie drastisch kürzen und in Gas-kraft investieren. Der Schwenk von RWE in Namibia dürfte eher damit als mit Respekt vor den „Stimmen der indigenen Völker“ zu tun haben.
Erinnerungspolitische Kehrtwende
Die Rolle rückwärts der neuen Bundesregierung ereignet sich indes nicht nur auf dem Feld der Energiepolitik. Zwar sieht der Koalitionsvertrag die Intensivierung der „Aufarbeitung” des Kolonialismus vor – doch Kulturstaatsminister Wolfram Weimer betreibt faktisch das genaue Gegenteil. So warnt er immer wieder, dass das koloniale Gedenken den Holocaust relativieren könne. Eine im Lichte der aktuellen Forschung unhaltbare These: Immer mehr verdichten sich die Hinweise auf ideologische, technische und personelle Kontinuitäten, die vom kolonialen Völkermord in den Nationalsozialismus reichten.
Statt diese Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen, verschanzt sich Weimer jedoch hinter der Singularitätsthese und hat die Mittel für koloniales Gedenken mittlerweile um über 90 Prozent gekürzt und das Gedenkstättenkonzept seiner Vorgängerin Claudia Roth gekappt. Während in Namibia immer noch die Gräber der Täter von den deutschen Siedlernachfahren geehrt werden, gibt es in Deutschlands Hauptstadt bis heute keine zentrale Gedenkstätte für die Opfer des Kolonialismus. Seit Jahren fordern die Nachfahren der Völkermord-Überlebenden in Namibia und Aktivist:innen genau das – einen Erinnerungsort in ebenjener Stadt, in der auf der Berliner Konferenz 1884 der europäische Zugriff auf den afrikanischen Kontinent organisiert wurde. Ein detaillierter Vorschlag des Modellprojekts „Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt“ liegt vor. Seine Realisierung steht in den Sternen.
Dafür gibt es in Windhoek jetzt eine neue Statue. Mitte Oktober reiste Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft in die namibische Hauptstadt. Es ging um wirtschaftliche Beziehungen, Sicherheitsfragen und „Verantwortungsübernahme“. Bei dieser Gelegenheit weihte Wegner vor der deutschen Botschaft als Zeichen der „tiefen Verbundenheit zwischen den beiden Städten und Staaten“ einen bunten Berliner Buddy Bär en ein. Er lächelt und hebt die rechte Tatze zum Gruß.
An der Seite der Nachfahren der Völkermord-Opfer unterstützt medico die Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen in Namibia dort und hier. Denn die Vergangenheit ist nicht vergangen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 04/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!





