Das historische Gedächtnis Europas zeichnet sich durch Leerstellen aus. So ist vor allem das Ausbleiben historischer Gerechtigkeit für die Verbrechen des Kolonialismus frappierend. Sein langer Schatten hat bis heute Auswirkungen auf das Leben von Milliarden Menschen. Die Aufnahme von Kooperationen mit namibischen Partner:innen markiert für medico einen weiteren Schritt in der Konfrontation mit dieser Geschichte und dem Thema Dekolonisierung.
Schnell war klar, dass diese Arbeit einen langen Atem braucht, zu vieles ist unabgegolten, zu zäh wehrt Deutschland die Verantwortung ab. Geraubte menschliche Gebeine in hiesigen Museumsbeständen und privaten Kellern warten immer noch auf ihre Repatriierung; der deutsche Vernichtungsbefehl gegen die Nama von 1905 ist bis heute nicht widerrufen; trotz jahrzehntelanger Kämpfe der Nachfahren der Überlebenden erkennt die Bundesrepublik den Genozid an den Ovaherero und Nama nicht bedingungslos als solchen an; von den Verbrechen an den San und Damara wird ganz geschwiegen; und bis heute sind 70 Prozent des namibischen Farmlands in der Hand der Nachfahren von Europäer:innen, während die Nachkommen der Überlebenden in bitterer Armut leben.
Ein „Versöhnungsabkommen“? Deutschland entzieht sich der Verantwortung.
Die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen im Südwesten Afrikas hätte ein historischer Präzedenzfall für das Verhältnis zwischen ehemals kolonisierten und kolonisierenden Ländern sein können. Stattdessen scheint Deutschland eher Rückschritte zu machen: Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD fällt selbst hinter die gemeinsame Erklärung zwischen Deutschland und Namibia von 2021 zurück. Von Deutschland als „Versöhnungsabkommen“ bezeichnet, wird diese von den Nachfahren der Überlebenden aufs Schärfste kritisiert. Wenn nun in Deutschland die Bereitschaft zu einer ohnehin halbherzigen Aufarbeitung der Kolonialgeschichte sinkt, ist es umso wichtiger, dass insbesondere Nama und Ovaherero ihre Gedächtnisarbeit fortführen, ihren Forderungen Gehör verschaffen und den Genozid eigenständig aufarbeiten können.
Während Deutschlands Außen- und Entwicklungspolitik, und damit auch die Haltung gegenüber Namibia, zunehmend deutsche Wirtschaftsinteressen in den Mittelpunkt stellt, entwickeln die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) und die Ovaherero Genocide Foundation (OGF) mit Unterstützung von medico einen eigenen Ansatz. Ergänzend zu den starken Bemühungen beider Organisationen, Einfluss auf die deutsche und die namibische Regierung zu nehmen, richtet sich ihre sogenannte Outreach-Kampagne an die fernab der urbanen Zentren lebenden Gemeinschaften der Nama und Ovaherero selbst.
Einerseits werden sie über aktuelle Entwicklungen und Ereignisse rund um die Verhandlungen mit der deutschen Regierung informiert. Vor allem aber vertieft die Kampagne den Austausch innerhalb der Gemeinschaften – zum Beispiel anhand der Frage, wie Gerechtigkeit aussehen kann, wenn die Verursacher sich den Forderungen entziehen. Teil davon ist auch die Sicherung mündlicher Überlieferungen aus der Zeit des Genozids. Dies ist ein überaus wichtiger Schritt, da sich ein großer Teil der Aufarbeitung nach wie vor auf deutsche Archive und die Berichte der Täter stützt. Diese Kampagne verwendet auch Materialien aus einer umfassenden Recherche zum Genozid, die das Forschungskollektiv Forensis/Forensic Architecture in Zusammenarbeit mit den Organisationen erstellt hat. Die Ergebnisse werden mit Unterstützung von medico im August 2025 in der nationalen Kunstgalerie von Windhoek ausgestellt werden.
Grüne Energiegewinnung auf geraubtem Land
Reparationen – nein, Entwicklungshilfe – ja, aber nur im Dienst deutscher Bedürfnisse. So lässt sich die deutsche Haltung zusammenfassen. Besonders eklatant zeigt sich das in der Energiepolitik. So soll der Energiehunger der deutschen Stahlindustrie in den nächsten Jahren auch mit sogenanntem grünen Wasserstoff aus Namibia gestillt werden – gewonnen just auf dem Land, das den Nama von deutschen Kolonialisten geraubt und niemals zurückgegeben wurde. Dank einer von medico organisierten Reise konnten sich deutsche Journalist:innen im Oktober 2024 selbst ein Bild von dem geplanten Megaprojekt und der damit einhergehenden Ungerechtigkeit machen: Gemeinsam mit Partner:innen der NTLA besichtigten sie das 4.000 Quadratkilometer große Territorium im Süden Namibias, auf dem das Hyphen-Konsortium, an dem das deutsche Unternehmen Enertrag beteiligt ist, Solar- und Windparks für die Wasserstoffproduktion errichten will. Wegen seiner Diamantenvorkommen war dieses Gebiet bereits von der deutschen Kolonialverwaltung zum Sperrgebiet erklärt worden und ist es bis heute.
Die Arbeiten bedrohen sowohl Flora und Fauna eines weltweit einzigartigen Hotspots der Biodiversität als auch das Gedenken an den Kolonialismus. Auch der Hafen von Lüderitz, der direkt an die Halbinsel Shark Island angrenzt, soll neu- und ausgebaut werden. Eben dort stand einst das erste deutsche Konzentrationslager. Eine Gedenkstätte erinnert daran, dass das Kolonialregime hier Schätzungen zufolge bis zu 4.000 Menschen der Volksgruppen Nama und Ovaherero brutal getötet hatte. Nach den massiven Umbauten soll nun von Lüderitz aus Wasserstoff nach Deutschland verschifft werden. Mark Mushiva von Forensis/Forensic Architecture sagt es so: „Dieser Wasserstoff kann niemals grün sein, sondern nur rot.“
Die (post-)kolonialen Energiebeziehungen treiben die Zivilbevölkerung im Land um. Der Economic and Social Justice Trust (ESJT), ein Thinktank und medico-Kooperationspartner mit Sitz in Windhoek, arbeitet auch zu den Themen Klimagerechtigkeit und Extraktivismus. Die Organisation kritisiert die deutsche Wasserstoffstrategie ebenso wie die europäische Global Gateway-Initiative in Namibia – zwei Versuche, angesichts des Ausbaus der chinesisch-afrikanischen Wirtschaftsbeziehungen etwas mehr eigenen Einfluss geltend zu machen. Untersucht werden die Vorhaben als exemplarische Beispiele einer neuen Indienstnahme der Entwicklungspolitik durch wirtschaftliche Interessen Europas in afrikanischen Gesellschaften.
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart des deutschen Kolonialismus findet heute in einem breiteren erinnerungspolitischen Kontext statt: eine kontroverse Debatte, welche deutschen Verbrechen wie, mit welchem Gewicht und welchen Lehren zu erinnern und aufeinander beziehbar sind. In welchem Verhältnis stehen Orte wie Windhoek, Berlin, Auschwitz, Shark Island und Gaza, historisch wie gegenwärtig? In Deutschland wird hierum scharf gerungen, in Zeiten von Staatsräson und Rechtsverschiebung allemal. Als „multiple Ambivalenz“ beschreibt die Journalistin Charlotte Wiedemann die unsichere Grundlage, auf der Allianzen für einen unteilbaren Humanismus geschmiedet werden müssen. Der Blick auf Verbindungslinien verweist auf die Frage, was man in dieser alten und neuen politischen Gemengelage tun sollte. Maboss Ortmann von der NTLA findet dazu klare Worte: „Was auch immer ihr jetzt in Europa politisch tut, ob ihr nach links, in die Mitte oder nach rechts geht – wir werden konsequent in unseren Prinzipien bleiben, mit voller Kraft und vollem Widerstand werden wir um die Anerkennung der Verbrechen kämpfen.“
Unsere Projektarbeit in Namibia prägen die Kooperationen zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen und der Kampf um Gerechtigkeit. Wir bitten um Ihre Unterstützung für die namibischen Partnerorganisationen.