Suweida

Ist das neue Syrien gescheitert?

29.07.2025   Lesezeit: 8 min  
#menschenrechte  #syrien 

Nach den Massakern an der drusischen Minderheit zeigt sich die Bedeutung der Hilfe als solidarische Praxis.

Von Dr. Andreas Wulf und Anita Starosta

Es ist eine weitere Zäsur für Syrien. Die gewaltvollen Massaker an der mehrheitlich drusischen Bevölkerung in Suweida stürzen das Land in eine Krise. Über 1400 Tote, darunter zahlreiche Zivilist:innen, mehr als 150.000 Vertriebene –  die Berichte aus der Stadt und umliegenden Dörfern sind erschütternd: Tötungen ganzer Familien, Erniedrigungen, geplünderte und abgebrannte Häuser, Vertreibungen. Im zeitweise belagerten städtischen Krankenhaus war es ebenfalls zu massenhaften Tötungen gekommen, nun ist es völlig überlastet und kann keine Operationen mehr durchführen. 

Wie schon bei den Massakern an den Alawit:innen in der Küstenregion Latakia wird das Ausmaß der gewalttätigen Ausschreitungen und Massakrierungen in der drusischen Stadt Suweida erst nach und nach deutlich. In der Provinz Suweida, dem Kernland der drusischen Minderheit in Syrien, hatten am 20. Juli die Kämpfe zwischen den Milizen der Drusen und sunnitischer Beduinen begonnen. Zur Unterstützung der Beduinen reisten Kämpfer anderer syrischer Stämme eigens in die Region. Einige trugen offen die Insignien des Islamischen Staates. Den Angreifern gelang es, zweitweise Teile der gleichnamigen Provinzhauptstadt einzunehmen. Die Massaker gegen die Zivilbevölkerung führten zu einer massiven Fluchtbewegung aus der Region.

Minderheiten in Angst

Ähnlich wie schon bei den Massakern an den Alawit:innen im April, brachten die bewaffneten Einheiten der Übergangsregierung unter der Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) und dem neuen Präsidenten al-Scharaa die Lage nicht unter Kontrolle, teilweise beteiligten sich Sicherheitskräfte sogar an den Massakern und zeigten damit erneut die Nähe zu den radikal-islamistischen Milizen. Tagelang blieb Suweida belagert. Es fehlt an Wasser und Nahrungsmitteln, Stromverbindungen sind gekappt, medizinische Versorgung kann nur eingeschränkt geleistet werden – eine humanitäre Katastrophe, in der jenseits ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten alle Betroffenen sofort Hilfe benötigen.

Das multiethnische Syrien steht nach dem Sturz Assads vor einer Zerreißprobe. Das Misstrauen der Minderheiten gegenüber der aktuellen Regierung wächst stetig an, ob Kurd:innen, Alawit:innen, Drus:innen oder Christ:innen – die Angst vor weiteren Massakern an Minderheiten ist riesig und bestimmt ihr politisches und gesellschaftliches Handeln. Viele fliehen und versuchen das Land zu verlassen, andere suchen Zuflucht und Schutz in Regionen, die stabiler erscheinen, besonders auch in der Selbstverwaltung im Nordosten. Unterstützung und Solidarität finden die bedrohten Minderheiten bislang noch in der syrischen Zivilgesellschaft. Viele Netzwerke, Initiativen oder Organisationen die in der syrischen Gesellschaft nach 2011 entstanden sind und unter hohem persönlichen Risiko gegen die Assad-Regierung aktiv waren, sind sehr darauf bedacht den Zusammenhalt untereinander zu stärken und die gewaltvolle Spaltung nicht siegen zu lassen. So berichten es uns auch die medico-Partner:innen aus verschieden Teilen des Landes. Ihrem Entsetzen und der Angst vor erneuten Gewaltausbrüchen setzen sie den Willen zu helfen und den Schutz für die Betroffenen zu gewähren entgegen.

Humanitäre Hilfe bedeutet Solidarität

In den ersten Tagen der Massaker war ein Vordringen nach Suweida zu gefährlich und Hilfe zu leisten kaum möglich. Auch jetzt noch ist es keine Selbstverständlichkeit und findet unter hohem Risiko und Einsatz statt. Nach einer Waffenruhe und dem vereinbarten Rückzug der islamistischen Milizen und der HTS haben drusische Milizen die Kontrolle über Suweida wieder übernommen. Syrischen Hilfsorganisationen, die unter dem Schutz der syrischen Zentralregierung zu ihnen gelangen wollen, stehen sie extrem skeptisch gegenüber. Nur die UN und das internationale Rote Kreuz seien willkommen, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme eines der drusischen Scheiks.

Die medico-Partner:innen in der Region sind jedoch aktiv und bemühen sich um praktische Unterstützung, denn auch sie wissen es kommt nun darauf an, an der Seite der Betroffenen zu stehen. Der Kurdische Rote Halbmond aus Rojava hat LKWs mit Hilfsgütern beladen – augenblicklich warten sie noch auf die Genehmigung aus Damaskus für die Zugänge nach Suweida. Sobald es geht werden sie medizinische Hilfe, Nahrungsmittelpakete und andere Hilfsgüter in die Region bringen. In Damaskus, aber auch in Idlib und Afrin gibt es viele zivilgesellschaftliche Initiativen die Spenden sammeln, um Hilfe nach Suweida zu bringen. Sie unterstützten auch drusische wie beduinisch-sunnitische Familien, die aus Suweida geflohen sind. An sogenannten humanitären Übergängen aus der Provinz Suweida versorgen sie die Geflüchteten mit Nahrungsmitteln, leisten medizinische Behandlungen und organisieren sichere Unterkünfte.

Nach der humanitären Soforthilfe ist auch die Dokumentation der Verbrechen von zentraler Bedeutung, denn nur so kann eine unabhängige Aufarbeitung stattfinden. Voraussetzung für die Möglichkeit sich irgendwann wieder sicher fühlen zu können. Auch hier sind Partner:innen von medico bereits aktiv, können aber aufgrund der angespannten Sicherheitslage nicht öffentlich operieren. 

Wie schon bei den Massakern an der Küste Latakias im März verurteilen Aktivist:innen bei öffentlichen Protesten die Rolle der HTS und ebenso die Angriffe der israelischen Armee, die sich ungefragt zur Schutzmacht der Drusen erklärte. Sie stellen sich an die Seite der Betroffenen von Gewalt. Diese Regierung ist nicht die, für die wir 2011 auf die Straße gegangen sind; sie ist nicht der Hoffnungsträger für ein freies und demokratisches Syrien, in dem wir leben wollen – so ihr Tenor. Hilfe ist in dem syrischen Kontext viel mehr als nur eine humanitäre Aktion – sie bringt zusammen, was durch den Konflikt zerrissen wurde und ermöglicht Begegnungen und Zusammenarbeit, die in den langen Kriegsjahren nicht möglich waren. So auch geschehen, als der Kurdische Rote Halbmond im März Hilfe zu den alawitischen Betroffenen der Massaker in Latakia brachte und Netzwerke aus Damaskus und Tartus Spenden sammelten.

Wie geht es nun weiter in Syrien?

Die USA haben nun für Suweida eine Art Sicherheitsgarantie angekündigt und dabei auch den Rückzug aller HTS- sowie anderer Milizen aus der Stadt und den drusischen Dörfern gefordert. Wie konkret diese aussehen soll, ist noch unklar. Von einer direkten Präsenz US-amerikanischen Militärs wie im Nordosten Syriens, ist noch nichts bekannt. Unter Schirmherrschaft der USA soll vorerst ein Ausschuss gebildet werden, der die Dokumentation der Verbrechen übernimmt. 

Ob es der aktuellen Regierung allerdings gelingen wird, die Minderheiten ernsthaft politisch einzubinden bleibt mehr als fraglich. Zwar gelang es der Regierung al-Sharaas, große Teile der arabisch-sunnitischen Gemeinschaft hinter sich zu vereinen, aber es fanden keine ernsthaften Bemühungen statt, eine überkonfessionelle und diverse Regierung zu bilden. Konfessionelle Rhetorik und Gewalt seitens der neuen Machthaber und der sie unterstützenden Streitkräfte nehmen zu. Richtete sie sich zunächst gegen die alawitische Bevölkerung und sodann auch gegen die drusischen Gemeinden des Landes, zeigt ein Bombenangriff auf einen Gottesdienst in einer christlichen Kirche in Damaskus im Juni auch dieser Minderheit, dass sie mit gemeint ist. Vor diesem Hintergrund werden die Stimmen nach einem föderalen Syrien nicht nur von der Selbstverwaltung in Nord-Ost-Syrien lauter, auch die drusischen Führungen fordern nun die Dezentralisierung des Landes. 

Zeitgleich sehen sich die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) aus der nord-östlichen Selbstverwaltung zunehmend unter (internationalem) Druck, sich mit der Abgabe ihrer Waffen in die Zentralregierung der HTS einzugliedern. Der US-amerikanische Sondergesandte und Botschafter in der Türkei Thomas Barrack forderte von der Selbstverwaltung bereits ein 30 Tage Ultimatum für diese Eingliederung. Angesichts der neuen Eskalationen sowie dem Erstarken des Islamischen Staates ist dies für die SDF keine gangbare Option, zudem sieht sie sich einer permanenten militärischen Bedrohung durch die Türkei ausgesetzt. Zwar haben türkische Angriffe auf Rojava, wie die Selbstverwaltung auch oftmals synonym bezeichnet wird, in den letzten Wochen deutlich abgenommen – dies ist wohl auf den Friedensprozess und Selbstauflösung der PKK auf türkischer Seite zurückzuführen - doch gilt Erdogan nichtdestotrotz als Unterstützer al-Scharaas.

Derweil nimmt die Präsenz des IS weiter zu. Seine schwarze Flagge tauchte auch bei Kämpfern, die sich an den Massakern beteiligt hatten, vermehrt auf. Überschneidungen von IS-nahen Milizen mit dem syrischen Militär und den HTS-Kräften ist nicht auszuschließen. Die Beteiligung an den Massakern in Latakia und Suweida zeigen deutlich deren gemeinsame Verwobenheit - selbst wenn er wollte, al-Scharaa kann sich dagegen nicht durchsetzen. Dies ist auch der Grund, warum das US-Militär sich trotz diplomatischer Vorstöße und des Bekenntnisses zu einem syrischen Zentralstaat bisher nicht vollständig aus dem Nordosten zurückzieht, sondern im Gegenteil ihre Militärbasen in Hasakeh seit neuestem wieder verstärkt. 

Die Gewalt hinterlässt eine tiefe Wunde

Durch die lange Bürgerkriegszeit waren viele der religiösen und ethnischen Gemeinschaften Syriens voneinander isoliert. Für eine gemeinsame syrische Perspektive ist das Wissen um die jeweils anderen und damit die Akzeptanz der Anderen zentral und darf besonders jetzt nicht aufgegeben werden. Konfessionelle Spannungen, Konflikte und Gewaltexzesse zerstören das Potenzial demokratischer Räume oder Bewegungen von unten. Die „drusische Frage“ verweist - ebenso wie die kurdische - auf Solidaritäten jenseits der Nationalstaaten in der Region – im Libanon, in Israel und in Syrien.

Die Angriffe auf Suweida wurden von den sunnitischen Kämpfern auch damit gerechtfertigt, dass die Drusen von Israel unterstützt würden und damit eine „fünfte Kolonne“ des feindlichen Nachbarn darstellten. Die Bombardierungen der Syrischen Armee durch Israel begannen allerdings lange vor dem Konflikt in Suweida. Wie auch die Türkei und andere Regional- und Großmächte spielt Israel sein eigenes Spiel im aktuellen Konflikt. Die Verhandlungen zwischen den Befürwortern eines starken Zentralstaats und den Verfechtern dezentraler Selbstverwaltung müssen zentraler Teil des „neuen Syriens“ sein, nur dann kann die Integration der Minderheiten gelingen und demokratische Strukturen entstehen. Die Multikonfessionalität und Multiethnizität vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen, die während des Bürgerkriegs gegen Assad entstanden sind, können hier zum Vorbild werden und müssen dringend weiter Gewicht und Stimme erhalten.

Mit einer Spende für Syrien unterstützen Sie die geplante Nothilfe für Suweida und stärken die Zivilgesellschaft in Syrien. Für Gerechtigkeit, für ein Ende der Gewalt, für die Würde der Opfer.

Andreas Wulf

Andreas Wulf ist Arzt und seit 1998 bei medico international. Er ist Nothilfe-Referent und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit.

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita
Bluesky: @starosta


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