Es war ein historischer Handschlag. Am 10. März 2025 reichten sich HTS-Milizenführer Ahmed al Scharaa und der Oberbefehlshaber der kurdisch dominierten SDF- Streitkräfte Mazloum Abdi in Damaskus die Hand. So besiegelten sie ein Grundlagenabkommen, das die Rechte der Kurd:innen als Minderheit und ihre Zugehörigkeit zu Syrien zum ersten Mal in der Geschichte des Landes anerkennt und damit hoffentlich auch den Weg für die Drusen, Alawiten und alle anderen Minderheiten im Land ebnet. Ein 10-Punkte-Plan soll dies sicherstellen. Vor dem Sturz von Diktator Assad wäre ein solches Treffen undenkbar gewesen.
Trotzdem steht al Scharaa mit seiner islamistischen Miliz HTS und seiner al-Kaida-Vergangenheit auch für die Verbrechen, die an Kurd:innen, anderen Minderheiten und an demokratischen Oppositionellen in den letzten Jahren im Land begangen worden sind. Al-Scharaa saß fünf Jahre in US-Gefangenschaft in Abu Ghraib, jahrelang war auf ihn ein Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen US-Dollar ausgesetzt. Dass er nun zum Verhandlungspartner der SDF und der kurdischen Selbstverwaltung geworden ist, ist nur einer von vielen Widersprüchen, die den steinigen Weg in ein neues Syrien kennzeichnen.
Massaker in Latakia
Das Treffen zwischen den beiden Vertretern von SDF und HTS fand nur wenige Tage nach dem Beginn der Massaker an Alawit:innen an der syrischen Küste bei Latakia statt. Über den Zeitpunkt des Handschlags wurde entsprechend viel spekuliert. Die Massaker haben all jene, die nach dem Sturz des verbrecherischen Assad-Regimes auf ein freies und gleichberechtigtes Syrien hofften, zutiefst erschüttert und an eigene Schicksale erinnert – sei es der Genozid an den Jesid:innen durch den IS oder die Gräueltaten der SNA-Milizen in Afrin oder Serekaniye an der kurdischen Bevölkerung. In Latakia verzeichnen lokale Beobachterstellen nach aktuellem Stand über 1.400 Tote, die von radikalislamistischen Milizen wie der türkisch finanzierten SNA (Syrian National Army) verübt worden sind. Die Sicherheitskräfte der HTS verhinderten die Massaker nicht, sondern ließen die Täter gewähren und waren teils selbst beteiligt.
Die grausamen Tötungen in der Küstenregion sind auch Ergebnis der jahrzehntelangen Spaltungen, die der Assadismus und der Bürgerkrieg hervorgebracht haben. Das Regime stützte sich wesentlich auf eine Politik der religiösen und ethnischen Aufspaltung Syriens und behauptete die Minderheit der Alawit:innen als staatstragende Gruppierung. Zu den brutalen Massentötungen mag auch die Wut darüber beigetragen haben, dass die Übergangsregierung noch keine Maßnahmen zu einer ernsthaften Aufarbeitung der Assad-Verbrechen eingeleitet hatte. Mehr als symbolisch war hingegen die unmittelbare Solidarität mit den betroffenen Alawit:innen, die Nothelfer:innen vom Kurdischen Roten Halbmond geleistet haben. Noch während der Massaker machten sie sich im Konvoi auf den Weg, um LKWs mit Hilfsgüter an die Küste zu bringen. Kein ungefährliches Unterfangen.
Seit dem Abkommen im März befinden sich SDF und HTS in Verhandlungen über die Ausgestaltung eines neuen Syriens. Ende Mai kam es zu einem ersten Treffen zweier Delegationen in Damaskus. Auf Seiten der Selbstverwaltung saßen vier Frauen mit am Verhandlungstisch, auf der der Übergangsregierung nur Männer. Bei dem Treffen wurden Absprachen getroffen, etwa zum gemeinsamen Kampf gegen den IS oder zur Dezentralisierung des Bildungssystems. Innerhalb Syriens wird sich das Modell der Selbstverwaltung, wie es in Rojava praktiziert wird, allerdings nicht durchsetzen. Daher geht es nun vor allem um die Sicherung von Autonomierechten und die Durchsetzung der Forderung nach Rückkehr der Vertriebenen aus Afrin und Serekaniye, um Frauenrechte und die Beteiligung von Minderheiten. Es ist der Beginn eines Prozess, der lange dauern wird und dessen Ausgang mehr als ungewiss ist.
Übergangsverfassung mit autoritären Zügen
Die Unsicherheit spiegelt sich auch in den Auseinandersetzungen um den Entwurf einer Übergangsverfassung, die die neue syrische Regierung vorgelegt hat. Kurdische Vertreter:innen kritisieren, das darin weder Frauen- noch Minderheitenrechte vorgesehen sind. Der Entwurf schlägt eine Zentralisierung der Macht vor, die der Exekutivgewalt umfassende Befugnisse zugesteht. Das weckt Skepsis angesichts der Vorgeschichte der HTS-Miliz. Zudem sollen weiten Teile der alten Verfassung übernommen werden, was Befürchtungen nährt, dass viele autoritäre Strukturen unangetastet bleiben. Zwar soll das islamische Recht die „Hauptquelle“ für die Gesetzgebung darstellen, gleichzeitig gewährt die Übergangsverfassung Glaubensfreiheit. All das soll vorläufig gelten, eine eigenständige und neue Verfassung erst in den kommenden Jahren erarbeitet werden. Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass in Syrien noch nichts in Stein gemeißelt ist. Die kurdisch dominierte Selbstverwaltung in Rojava hat sich durch ihre Offenheit gegenüber den neuen Machthabern in Syrien zumindest die Möglichkeit gesichert, weiter über die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Landes mitzureden.
Wie schnell der neue Machthaber al-Scharaa trotz seiner Vergangenheit international anerkannt worden ist, beobachten die Vertreter:innen der Selbstverwaltung hingegen mit Erstaunen. Seit Jahren versuchen sie, sich auf internationalem Parkett zu behaupten und ringen um die politische Anerkennung der Selbstverwaltung. Doch inzwischen können auch sie Bilder mit Mitarbeiter:innen des deutschen Auswärtigen Amtes, Vertreter:innen der deutschen Botschaft oder mit hochrangigen französischen Politiker:innen in den sozialen Medien posten. Bessere Kooperationen werden in Aussicht gestellt. Das dürfte sich auch der Auflösung der PKK in der Türkei verdanken.
Es bleibt bemerkenswert, wie zügig al-Scharaa und die HTS zu „Stars“ auf dem internationalen Parkett geworden sind. US-Präsident Trump kam zum Händeschütteln in die Golfregion und inszenierte einen Deal. Eine Begegnung zwischen einem US-Präsidenten und einem syrischen Staatschef hatte es zuletzt vor 25 Jahren gegeben. Kurz darauf folgte die Ankündigung der US-Administration, die Sanktionen aufzuheben. Nachdem die Kürzungen der USAID-Gelder Ende Januar das Land noch schwer getroffen hatten, brachte sie Tausende zu Jubelfeiern auf die Straßen der syrischen Städte. Die Revolutionsfahne wurde geschwenkt, Hupkonzerte schallten durch die Straßen. Es waren die größten Feiern seit dem Sturz von Assad am 8. Dezember 2024.
Nur wenige Tage später kündigte auch die EU an, die Wirtschaftssanktionen vollständig aufzuheben, auch das ein langersehntes Signal zur Unterstützung des Wiederaufbaus und ein Grund für Zuversicht. Die Sanktionen gegen Assad und seine Verbündete hatten in den letzten Jahren der Diktatur die größtenteils verarmte Bevölkerung getroffen und die Lebensbedingungen im kriegsgebeutelten Alltag erheblich verschlechtert. Fehlende Importe und ausbleibende Überweisungen aus dem Ausland führten zu Inflation und Verknappung der Güter. Unterdessen gelang es der Assad-Familie, sich an den Hilfslieferungen der UN und durch den illegalen Handel mit Captagon zu bereichern. Die Aufhebung der Sanktionen sind allerdings an zahlreiche amerikanische Bedingungen geknüpft. Sie reichen von der Ausweisung palästinensischer Milizen über die Unterstützung im Kampf gegen den IS und einen syrischen Beitritt zum Abraham-Abkommen bis zur Bevorzugung von US-Investitionen in den Öl- und Gassektor und der Migrationsabwehr. Auch Europa oder arabische Regionalmächte wittern ihre Chance – der neoliberale Ausverkauf des Landes hat längst begonnen. Gleichzeitig birgt die Situation eine historische Chance für den Wiederaufbau und die Stabilisierung des vom Bürgerkrieg geschundenen Landes.
Hoffnungsvoll stimmt weiterhin die Solidarität unter den Syrer:innen – in der Diaspora wie in Syrien selbst, wie wir sie unter unseren Partnerorganisationen und vielen zivilen Netzwerken aktuell erleben. Wenn auch die Skepsis gegenüber dem neuen Machthaber groß ist, will sich niemand die Freiheit, die der Sturz von Assad gebracht hat, nehmen lassen. Die demokratische Zukunft des Landes hängt an der Aufarbeitung der schrecklichen Verbrechen von Assad und auch an der Anerkennung des Leids, das IS und andere Milizen den Menschen zugefügt haben. Ob es gelingt, die konfessionellen Spaltungen des Assadismus zu überwinden und den Schutz bzw. die Gleichberechtigung von Minderheiten zu verwirklichen – hieran muss sich das neue Syrien auf Dauer messen lassen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 02/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!