Syrien

Das Schweigen brechen

20.08.2025   Lesezeit: 5 min

Nach den Massakern an der drusischen Bevölkerung in Suwaida leben die Menschen in Angst, ihre Versorgung ist schlecht. Lokale Menschenrechtsaktivist:innen berichten über die Lage in der Stadt.

Von Imad Mustafa

Das Leid der Menschen, die vor einigen Wochen die schrecklichen Kämpfe und Massaker mit über 1000 Toten in Suwaida und Umgebung überlebt haben, ist nicht vorbei. Jetzt werden sie auch noch von den Truppen der neuen Regierung belagert, wie sie mir in einem Gespräch berichten. An die 38 Dörfer im Umland von Suwaida wurden komplett zerstört, ihre Bewohner:innen getötet oder vertrieben. Heute sind es Geisterorte. Viele weitere Dörfer in der Region wurden teilweise zerstört, ihre Bewohner:innen sind nicht minder traumatisiert von der Gewalt. Diese jüngste enthemmte Gewalt ist das Resultat politischer Machtkämpfe um Einfluss im neuen Syrien, die bis heute fortdauern. 

Ungefähr 100.000 Menschen haben in der Provinzhauptstadt Zuflucht gesucht, weil die Orte, an denen sie gelebt haben, nicht mehr sind. Sie leben behelfsmäßig in Schulen, in einem kleinen Stadium, in religiösen Zentren. Ihre Zukunft ist ungewiss. Denn seit dem Waffenstillstand, der das Töten vorerst beendete, patrouillieren die Truppen der neuen Regierung auf den Straßen außerhalb der Stadt, sie sind quasi unpassierbar. Strom gibt es nur in homöopathischen Dosen – alle 6-7 Stunden für eine halbe Stunde. Das Internet fällt ständig aus – auch während unseres Gesprächs. Brennstoff ist absolute Mangelware. Menschen weichen auf traditionelle Beförderungsmethoden aus, gehen kurze Strecken zu Fuß. Insgesamt ist das Stadtbild von einer angespannten Ruhe geprägt, Läden bleiben geschlossen.

Eine Stadt inmitten des Kollapses

Eigentlich gibt es 35 Gesundheitszentren in und um Suwaida. Praktisch alle sind mittlerweile geschlossen, weil die Mitarbeiter:innen aus Angst, auf dem Weg aufgegriffen und verschleppt zu werden, nicht mehr hingehen. Auch das große Provinzkrankenhaus in der Stadt kann die Menschen nur noch notdürftig versorgen. Bereits vor den jüngsten Kämpfen waren viele Geräte veraltet oder kaputt. Die medizinische Grundausstattung ist mangelhaft. Erst vor einigen Tagen starb eine junge Frau an Diabetes, weil sie kein Insulin bekam. Krebspatient:innen können nicht mehr behandelt werden, die hundert Kilometer lange Strecke nach Damaskus ist schlichtweg zu gefährlich. Selbst ein so gängiges Schmerz- und Fiebermittel wie Paracetamol ist kaum zu bekommen, berichten mir die Aktivist:innen aus Suwaida. Die Attacken auf die Grundversorgungsstrukturen der Bevölkerung ziehen zudem weitere Kreise. Auch Wasserentnahmestellen und Olivenölpressen – ein wichtiger ökonomischer Faktor in der Region – wurden wiederholt angegriffen.

Letzte Woche wurden sieben junge Männer entführt, die aus dem südlichen Damaszener Stadtteil Jaramana nach Suwaida wollten. Ihr Schicksal bleibt ebenso ungewiss, wie die Identität der Täter unklar ist. Und während diese Zeilen entstehen, abstrakte Zahlen das Leid der Menschen nur unzureichend erfassen können, die Menschen hinter diesen Zahlen mit ihrer Geschichte von Gewalt, Angst und Trauma nur schemenhaft zu erahnen sind, flammen die Kämpfe an den Rändern der Belagerungszone um Suwaida wieder auf. 

Die viel zu geringen Hilfslieferungen, die von Vereinten Nationen und dem Internationalem Roten Kreuz unter der Koordination mit dem Syrischen Arabischen Roten Halbmond (SARC) geschickt und von den Truppen der neuen syrischen Regierung geschützt werden, werden immer wieder von losen Milizen angegriffen. Der Kurdische Rote Halbmond (KRC) aus Nordostsyrien, Partnerorganisation von medico, wartet seit Wochen darauf, Hilfsgüter in die Stadt bringen zu dürfen. Anders als beim Hilfskonvoi im März nach Latakia, blockieren der Syrische Arabische Rote Halbmond und die Zentralregierung bis heute die kurdischen Hilfslieferungen. Aus Sicht des KRC gründet dies in dem weiterhin ungelösten Konflikt über die Integration der kurdisch dominierten militärischen Kräfte der Autonomieregierung im Nordosten des Landes in die nationale syrische Armee. 

Festhalten an einer Idee

Für Sicherheit und Schutz in den Vierteln Suweidas sorgen derweil Nachbarschaftsmilizen. Es ist Selbstverteidigung, sagen die Aktvist:innen, auch wenn sie bewaffneten Widerstand als Option eigentlich ablehnen. Sie sind Menschenrechtsverteidiger:innen und Idealist:innen, die noch heute an ein geeintes und freies Syrien glauben. 

Trotz ihres Idealismus, sie gehen die Dinge auch ungemein pragmatisch und wohl durchdacht an. Deswegen haben sie sich an die medico-Partnerorganisation Right Defense Initiative gewandt, die in Nordostsyrien langjährige Erfahrung in der Dokumentation von Menschenrechtsverbrechen gesammelt hat. Die Betroffenen wollen nun die erlebte Gewaltdokumentieren, aufschreiben, den Getöteten Gerechtigkeit widerfahren lassen – gegen das Vergessen, für Rechenschaft und Aufklärung. 

Internationale Institutionen und Gerichte sollen das gesammelte Material erhalten, da die Aktivist:innen der neuen Regierung in Damaskus nicht über den Weg trauen. Damit teilen sie ihr Misstrauen mit der alawitischen Bevölkerung an der Küste im Westen und mit der autonomen Selbstverwaltung Nord-Ost-Syrien, wie im Gespräch explizit betont wird. 

Die drei Seiten eint der Wunsch nach einem Syrien der gleichberechtigten Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen – und damit auch die der Minderheiten, wie der alawitischen, drusischen und kurdischen. Daher finden sich in und um Suweida so wie auch in und um Latakia Stimmen, die einem föderalen System, wie im Falle der nordöstlichen Autonomie, vieles abgewinnen können. Von der Zentralregierung in Damaskus wird dies jedoch weiterhin vehement abgelehnt. 

Trotz des Konfliktes mit der syrischen Regierung, sprechen sich die Menschenrechtsaktivist:innen im Gespräch gegen eine militärische Einmischung von außen aus, wie es vor allem die israelische Regierung unternimmt. Zwar wurden in Suweida bei Protesten gegen die Politik in Damaskus auch israelische Flaggen geschwungen, doch seien dies nur versprengte Positionen Weniger.

Ausländische Einmischung, Besatzung unter welchen Vorzeichen auch immer, betonen die Gesprächspartner:innen, habe noch nie etwas Gutes gebracht. Sie glauben an die Macht des Rechts, an internationale Institutionen und an kollektive Lernprozesse von unten. Sie richten – trotz aller Schrecknisse der letzten Wochen– ihren Blick nach vorn. 

Sie hoffen darauf, dass Deutschland und Europa ihre Aufmerksamkeit auf die Menschen in Suweida und ihre Umgebung lenken und Druck auf die neue Regierung ausüben, damit diese ihren humanitären und rechtlichen Verpflichtungen nachkomme. „Erzähl ihnen von uns!“, schaffen sie es noch zu sagen, bevor die wacklige Internetleitung final zusammenbricht.

Mit einer Spende für Syrien unterstützen Sie die geplante Nothilfe für Suweida und stärken die Zivilgesellschaft in Syrien. Für Gerechtigkeit, für ein Ende der Gewalt, für die Würde der Opfer.

Imad Mustafa (Foto:medico)

Imad Mustafa ist Referent für Menschenrechte bei medico. Außerdem ist der Politologe und Islamwissenschaftler für die Öffentlichkeitsarbeit zu Afghanistan sowie Nordafrika und Westasien zuständig.

Twitter: @imadmustafa_


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