Klimagerechtigkeit

Was ist eigentlich legitim?

Lützerath wird geräumt, damit RWE mehr Braunkohle abbauen kann. Pakistan kommt in den Debatten darum nicht vor, wo doch die Konsequenzen dort am spürbarsten sein werden.

Von Thomas Rudhof-Seibert

Die Präventivhaft ist ein Grenzfall des Normalvollzugs von Staatsgewalt. Menschen werden nicht wegen einer Straftat in Haft genommen, sondern wegen des Verdachts, dass sie eine Straftat begehen könnten. Das dazu nötige Sondergesetz begründete die bayerische Landesregierung mit der Gefahr des „islamistischen Terrorismus“. Ende letzten Jahres nahm Bayerns Polizei dann aber Klimaaktivist:innen in Haft, wegen des reinen Verdachts auf zukünftige Straftaten. Willfährige Richter stimmten der Gefangennahme zu. Eine Aktivistin saß volle dreißig Tage ein. Um das irgend rechtfertigen zu können, bezeichnet ein bayerischer Politiker die Aktivist:innen der „Letzten Generation“ als „Klima-RAF“. Mit Präventivhaft droht ihnen jetzt auch die hessische Polizei.

Lützerath, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

Während der Niederschrift dieser Zeilen räumen Polizeieinheiten aus 14 Bundesländern das seit zwei Jahren besetzte Dorf Lützerath. Während die Beamt:innen in das Dorf vorrücken, blockieren einige der Besetzer:innen die Zufahrtswege. Es wird um Zentimeter gekämpft und um Zeit. Die Räumung Lützeraths muss bis zum Ende der Rodungssaison Ende Februar abgeschlossen sein, soll der Tagebau fortgesetzt werden.

Auch wenn nicht alle Politiker:innen und nicht alle Journalist:innen so weit gehen: dass das Vorgehen der Polizei „legitim“ und das Vorgehen der Besetzer:innen „illegitim“ sei, darin sind sich die allermeisten einig. In Deutschlands führender Wochenzeitung heißt es bündig: „Die Rechtmäßigkeit der Enteignung, Entschädigung und Umsetzung der Bewohner von Lützerath wurde durch alle Gerichtsinstanzen bestätigt. Die Politik – die schwarz-grüne Landesregierung in NRW, die rot-grün-gelbe Bundesregierung – hat keine Optionen; sie muss durchsetzen, was Recht ist. Alles andere wäre Populismus.“ In Berlin, in Düsseldorf, in Wiesbaden und München sieht man das genauso.

Anders sieht man das in Pakistan. Der medico-Partner HANDS startete dort im Dezember eine Solidaritätsaktion für die „Letzte Generation.“ Aus vielen Orten der seit Monaten überfluteten Provinz Sindh sandten HANDS-Mitarbeiter:innen Fotos nach Deutschland, auf denen sie den in Präventivhaft genommenen Klimaaktivist:innen ihre Unterstützung zusagten. Fotos kamen auch aus Dadu, der am schlimmsten betroffenen Gegend.

Fotos an die „Letzte Generation“ sandten aber auch die Teilnehmer:innen einer Konferenz zum „Klimawandel“, die während dieser Tage in der Millionen-Metropole Karatschi tagte, die im Süden des Sindh liegt. Dasselbe taten, ebenfalls in Karatschi, Gewerkschafter:innen auf einer Versammlung in einer Textilfabrik, in der auch sie sich zum Klima berieten. Zur Solidarität mit der „Letzten Generation“ haben die Menschen im Sindh allen Grund. Ihr Land wird zu den ersten gehören, die dem sogenannten „Klimawandel“ zum Opfern fallen, der deutsche Politiker:innen und Journalist:innen nicht interessiert.

Dadu, Sindh, Pakistan

Pakistan kommt in den Debatten um Lützerath nicht vor, so wenig wie Somalia und andere von Dürren oder Fluten heimgesuchte Weltregionen. Pakistan litt 2022 erst unter einer Dürre, dann unter Fluten, beides über Monate hinweg. Im Monsun fiel fünf Mal so viel Regen wie üblich, so viel wie noch nie seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. 30 Millionen Menschen wurden zeitweilig obdachlos, verloren ihre Ernte, den Großteil ihres Viehs. In Dadu leben noch heute Tausende in zerschlissenen Zelten auf vom stinkenden Brackwasser umspülten Landzungen oder Straßenrücken. Eine Geberkonferenz in Genf sprach Pakistan jetzt über neun Milliarden Dollar zu – mehr, als die pakistanische Regierung erbeten hatte.

Was in den Nachrichten über die Genfer Konferenz nicht zur Sprache kam: Pakistans Regierung hatte ursprünglich überhaupt nicht um Hilfszahlungen gebeten, sondern Reparationszahlungen gefordert, in voller Höhe der durch Dürre und Fluten erlittenen Schäden. Die Forderung nach Reparationen wurde von den Regierungen der Länder, die für die Dürren und Fluten verantwortlich sind, nicht zurückgewiesen. Sie wurde von diesen Regierungen nicht einmal kommentiert, auch von der deutschen nicht, auch von der Regierung Bayerns nicht. Ihr vollständiges Schweigen nötigte die Regierung in Islamabad zum kleinlauten Verzicht: sie bat jetzt doch um Hilfe, und das so bescheiden, dass sie mehr erhält als sie zu bitten gewagt hat.

Obwohl Pakistan mit über 230 Millionen Einwohner:innen das fünftbevölkerungsreichste Land der Welt ist, trägt es zu den globalen CO2-Emissionen weniger als 1 Prozent bei. Auf China entfallen 30 Prozent der Emissionen, auf die USA 15 Prozent, auf Europa 9,5. Deutschland, Frankreich, Italien und Polen verursachten davon zusammen 57 Prozent. Die Verantwortung für das Ertrinken Pakistans liegt also zu einem großen Teil in Berlin, in Düsseldorf, in München und in Wiesbaden. Sie wird künftig auch in Lützerath liegen, wo das Energieunternehmen RWE Europas größte Kohlegrube betreibt und ausbauen will. Deshalb räumen Polizist:innen fast aller Bundesländer jetzt mit Gewalt das besetzte Dorf.

Die Legitimität der Räumungsgewalt haben deutsche Gerichte ausdrücklich anerkannt. Deutsche Politiker:innen und Journalist:innen erklären freimütig, dass sie „null Verständnis für die Behinderung von Rettungswagen, die Gefährdung des Luftverkehrs oder die Beschädigung von Kulturschätzen“ haben (Dobrindt, CSU). In Deutschlands führender Wochenzeitschrift merkt ein Kommentator süffisant an, dass es sich bei den Aktivist:innen um „Hunderte“ handele, die sich anmaßen, „die Welt zu retten.“ In Pakistan wird man das anders sehen. Pakistan wird in drei, fünf oder sieben Jahren wieder überflutet werden, die Fluten werden wieder auf ein Land prasseln, das von monatelanger Dürre ausgedörrt wurde. Dass das so kommt, weiß man auch in Berlin, Düsseldorf, München und Wiesbaden. Deshalb, allein deshalb nennt man die Aktivist:innen der Letzten Generation und die Besetzer:innen von Lützerath „Terroristen“ und nimmt sie präventiv gefangen, im Moment noch für höchstens dreißig Tage.

Veröffentlicht am 12. Januar 2023
Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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