„Heute ist nicht wie gestern.“ Mit diesem eindrucksvollen Satz kommentierte der Minister für Klimagerechtigkeit des pazifischen Inselstaates Vanuatu das am Mittwoch veröffentlichte Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Verantwortlichkeit von Staaten für die Klimakrise.
Ein guter Zeitpunkt. Vor so ziemlich genau vier Jahren fing das Wasser der Ahr an zu steigen und führte zu dramatischen Überschwemmungen. Genau ein Jahr später fing es in Pakistan an zu regnen und setzt einen Landesteil so groß wie Deutschland für mehrere Monate unter Wasser. Seitdem gab es unzählige Überschwemmungen von Kenia über Spanien, Griechenland, Bangladesch und China, Dürren in Somalia und Afghanistan, Wirbelstürme auf den Philippinen, Brände in Florida, Extremhitze auf dem ganzen indischen Subkontinent. Die Ereignisse können gar nicht alle aufgezählt werden, angesichts der Geschwindigkeit und Fülle, mit der sie sich aneinanderreihen. Laut dem Klima-Risiko-Index 2025 ereigneten sich zwischen 1993 und 2022 weltweit über 9400 klimakrisenbedingte Katastrophen. Sie forderten mehr als 765 000 Menschenleben und verursachten, inflationsbereinigt, Schäden von fast 4,2 Billionen US-Dollar.
Und die Ursachen sind bekannt, der ungehemmte Ausstoß von Treibhausgasen führt zu Erderhitzung und zu einer dramatischen Steigerung von Wahrscheinlichkeit und Intensität sogenannter Extremwetterereignissen, die wir vor Kurzem noch Jahrhundertereignisse genannt haben. Doch die Erkenntnis allein führt zu keiner Veränderung. Anstatt sich mit nationalen Klimapolitiken der Einhaltung des 1,5 Grad Zieles zu verpflichten, schwächt Deutschland sein Klimaschutzgesetz ab, während beispielsweise die USA auf eine anything goes drill, baby drill Mentalität zuarbeitet. Die Welt ist nicht mehr Entfaltungsraum, sondern zur konsumierbaren Ressource oder zum Sicherheitsrisiko geworden. Dem hat der Internationale Gerichtshof jetzt eine Absage erteilt.
Die pazifische Studierendeninitiative PISFCC sammelte jahrelang weltweit Unterstützer für ihr Vorhaben, um die Problematik vor das höchste Gericht der Welt zu bringen. Mit Erfolg: Die UN-Vollversammlung beauftragte das IGH 2023 ohne Gegenstimmen mit dem Gutachten. Nach sechs Jahren Beharrlichkeit veröffentlichte das höchste Gericht der Welt nun ein Gutachten was Staaten wieder daran erinnert, worin ihre originäre Aufgabe besteht: den Schutz ihrer Bürger:innen und die Sicherstellung von Bedingungen unter denen die freie Entfaltung, die Wahrnehmung von Menschenrechten und das Recht auf eine lebenswerte Zukunft keine Makulatur, sondern materielle Realität ist.
Verantwortung statt Zerstörung
Das Rechtsgutachten erklärt eine lebenswerte intakte Umwelt nicht mehr zu einer Möglichkeit, sondern zu einer Voraussetzungsbedingung für Menschenrechte und die Herbeiführung und Absicherung dieser zu einer völkerrechtlichen Verpflichtung für Staaten. Zur Erfüllung dieser Aufgabe sind sie nicht nur verpflichtet, Maßnahmen einzuleiten, sondern alle erdenklichen Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Das ist ein Paradigmenwechsel zum Konzept freiwilliger nationaler Emissionsziele und Selbstverpflichtungen, die in den letzten Jahrzehnten die weltweite Klimapolitik dominiert hat und die – Überraschung, Überraschung – von fast keinem Staat auch nur annähernd eingehalten wurden. Die Logik Emissionsziele zu reduzieren, wenn man sie nicht erreicht, die Bilanzen zu schönen oder die Erderhitzung nur noch auf 2–3 Grad anstelle von 1,5 Grad begrenzen zu wollen, waren Zeichen der Kapitulation vor einem Verständnis von Freiheit als Recht zur Vernutzung bis hin zur hemmungslosen Zerstörung der Welt. Mit der Feststellung einer juristischen Verpflichtung von Staaten wird dies zumindest potentiell umgedreht und das Verursacherprinzip gestärkt. Denn solche Staaten, die diese nicht einhalten, sollen zukünftig zur Verantwortung gezogen werden können, zum Beispiel für durch die Klimakrise verursachte Schäden. Nach Schätzungen des Finanzdienstleisters Morgan Stanley Capital International werden Klimakrisenschäden, erforderliche Umbauten und Anpassungen in den kommenden 25 Jahren etwa 25 Billionen US-Dollar verursachen. Dazu kommen die Auswirkungen auf Lebensqualität, Wirtschaftsleistung und gesellschaftliche Infrastruktur der am meisten betroffenen Gemeinschaften und Regionen, die vor allem im globalen Süden liegen.
Vier Jahre nach der Überschwemmung im Ahrtal stockt selbst im Industrieland Deutschland der Wiederaufbau, wegen unzureichend zur Verfügung stehender Mittel, aber auch wegen sozial-psychologischen Folgen der Katastrophe die handeln für Betroffene erschwert. Weniger beachtet, in Pakistan, sind 30 Millionen Menschen, insbesondere in den ländlichen Regionen der 2022 am meisten überschwemmten Provinz Sindh in tiefer Armut versunken und bangen nicht nur sprichwörtlich, sondern ganz unmittelbar um ihre Existenz und Zukunft. Grundlagen für diese wurden und sind noch immer zerstört oder substantiell geschädigt.
Für die Ende des Jahres im brasilianischen Belem stattfindende 30. Weltklimakonferenz geht von dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshof deswegen eine starke Botschaft aus. Dort steht einerseits die Rekapitulierung der bisherigen nationalen Zielsetzung und deren Einhaltung zur Einhaltung des 1,5 Grad Ziels, sowie die Aufstellung neuer Zielsetzungen an. Andererseits werden dort die Verhandlungen über den vor zwei Jahren eingerichteten globalen loss & damage Fonds fortgesetzt. Dieser hat wegen Freiwilligkeitsregelungen, mangelnder Zahlungsmoral und unbestimmten Auszahlungsmodalitäten für Betroffene bisher keine Unterstützung geboten. Auch wenn das Gutachten ein Meilenstein im Kampf um globale Klimagerechtigkeit darstellt, verbleibt nicht desto Trotz die Frage der Durchsetzung und Implementierung der vom Internationalen Gerichtshof entwickelten Rechtsnorm. Nichtdestotrotz ist das Gutachten Rückenwind für alle zivilgesellschaftlichen Initiativen Betroffener der Klimakrise, Verursacher ihrer Not dafür haftbar zu machen.