„Wenn ich groß bin, gehe ich auf die Golanhöhen.“ Das habe ich mal im Alter von sechs oder sieben Jahren auf die Frage gesagt, was ich werden will. Meine Eltern hatten kurz zuvor einen Fernseher gekauft. So kam die Welt in unser Wohnzimmer, darunter auch der Sechstage-krieg und ich muss wohl mit besonderer Begeisterung auf den damaligen ARD-Korrespondenten in Israel, Edmund Gruber, geschaut haben. Mich hat am meisten sein Khaki-Hemd beeindruckt und der Umstand, dass er in einer Gegend vor der Kamera stand, die sehr weit weg von Deutschland war – und sehr viel aufregender. Als Journalistin trennt mich heute einiges von Grubers Berichterstattung. Aber offensichtlich war er es, der mir eine Faszination für Auslandsjournalismus eingeimpft hat.
Ich bin jetzt seit über 30 Jahren Auslandsreporterin. Auf den Golanhöhen bin ich nie gewesen – trotz fünf Jahren als Nahost-Korrespondentin in Beirut. Ich war erst lange als Reporterin in den USA, dann viel in Subsahara-Afrika unterwegs. Nach fünf Jahren im Nahen Osten berichte ich heute wieder viel aus afrikanischen Staaten. Wenn Sie mich fragen, wie es mir in meinem Beruf geht, kann ich nur sagen: Ich bin abwechselnd rat- und fassungslos.
Noch nie war das globale Geschehen so allgegenwärtig wie bedeutungslos, heißt es in der Ankündigung der medico-Stiftung zu diesem Symposium. Ich fürchte, ich muss dem auch und gerade aus der Sicht meiner Branche zustimmen. Globale Zusammenhänge zu erklären, Bilder und Krisenschlagzeilen in einen Kontext zu setzen, Klischees zu vermeiden, die Bereitschaft zu Empathie zu fördern, die eigene Perspektive zu wechseln, ist die Kernaufgabe einer guten internationalen Berichterstattung. Und der kommen wir weniger denn je nach. Was nicht heißt, dass es keine Auslandsberichterstattung gibt. Derzeit schwimmen wir in Nachrichten, Videos, Analysen und Kommentaren über Donald Trump, etwas abgeschlagen folgen die Ukraine und Gaza. Bevor ich darüber spreche, was es heute heißt, hinzusehen, möchte ich drei für mich prägende journalistische Ereignisse nennen. In allen war das Hinsehen in einer wissen wollenden und empathischen Weise sehr wohl möglich. Anfangs geschah es auch. Dann mündete die Berichterstattung in das Verschwindenlassen einer Welt.
Das erste Beispiel ist der mediale Umgang mit dem „Islamischen Staat“ zu der Zeit, als er in Syrien und dem Irak ein sogenanntes Kalifat errichtet hatte. Der IS hatte binnen weniger Monate in den westlichen Medien und bei den politischen Entscheidungsträger:innen die Rolle des apokalyptischen Reiters eingenommen: Blutrünstige Steinzeitislamisten, die schwarz gekleidete Antithese zur westlichen liberalen Demokratie. Ich war damals Nahostkorrespondentin in Beirut. Die Stadt war ein Hub für syrische Oppositionelle, die als „citizen journalists“ die Verbrechen des Assad-Regimes dokumentierten. Sie erfuhren anfangs viel Unterstützung aus Europa, bekamen Kameras und Laptops und Mikrofone gespendet. „Dokumentiert die Gräueltaten. Wenn die Welt diese Bilder sieht, wird sie eingreifen“, lautete die Botschaft.
Nach der Ausrufung des „Kalifats“ 2014 erlebten die Bürgerjournalist:innen, wie der IS die Bilderregie übernahm. Mit professionell gemachten Videos von Exekutionen westlicher Geiseln, von Kämpfen an der Front und vom „aufrechten“ Leben im „Kalifat“ schufen sie einen medialen Sog. Ich verharmlose nicht die Brutalität des IS. Doch ich konnte verstehen, warum syrische Freunde auf westliche Medien immer wütender wurden, weil die sich nun voll auf den visuellen Horror des IS konzentrierten. Die Komplexität des Krieges in Syrien wurde mit dem simplen Narrativ vom „absolut Bösen“ zugedeckt, Recherchen über Hintergründe wurden verdrängt. Und immer weniger Kolleg:innen berichteten darüber, dass das Assad-Regime um ein Vielfaches mehr Zivilist:Innen ermordete als der IS. Anstelle einer international abgestimmten Strategie zum Schutz der syrischen Zivilbevölkerung gab es eine US-geführte Militärkoalition im Framing des „war on terror“, die das „Kalifat“ schließlich zerschlug. Für viele syrische Oppositionelle war die Botschaft klar: Die Bilder einiger westlicher Geiseln reichten aus, um in Europa und den USA den öffentlichen Rückhalt für ein Eingreifen zu schaffen. Die Bilder über Fass-bomben und Belagerungsringe des Regimes gegen oppositionelle Städte mit Tausenden von Toten reichten nicht.
Im Rückblick hat der IS damals eine Medienstrategie betrieben, die man heute unter dem Motto „flooding the zone with shit“ kennt. Der Ausdruck stammt von Steve Bannon, einem der Dirigenten der rechtsextremen Machtübernahme in den USA. Nicht, dass Bannon sich nachsagen lassen möchte, irgendetwas mit Islamisten gemein zu haben. Doch die Taktik, Medien und Öffentlichkeiten in einen dauerhaften Zustand von Schock und Hyperventilation zu versetzen, ist dieselbe. In beiden Fällen waren und sind Medien nicht in der Lage, sich dieser Strategie zu entziehen.
Das zweite Beispiel ist das Thema Flucht und Migration. Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Foto der Leiche des zweijährigen Alan Kur-di, dem syrischen Jungen, der im September 2015 beim Fluchtversuch seiner Familie über das Mittelmeer ertrank und an einem Strand in der Türkei angespült wurde. Die BILD-Zeitung druckte das Foto auf einer ganzen Seite ab und schrieb: „Bilder wie dieses sind schändlich alltäglich geworden. Wir ertragen sie nicht mehr, aber wir wollen, wir müssen sie zeigen, denn sie dokumentieren das historische Versagen unserer Zivilisation in dieser Flüchtlingskrise.“ Ein gutes Jahr später hat dieselbe Zeitung anlässlich der sogenannten Kölner Silvesternacht einen medialen Backlash gegen Flüchtlinge und Migranten mitangeschoben, der zu einer politischen Spirale der Ausgrenzung und Entmenschlichung von Migranten und Flüchtlingen beigetragen hat. Binnen weniger Monate war der Diskurs von Empathie in Abwehr gekippt.
Ich lebte und arbeitete in Beirut, als der große Treck hauptsächlich syrischer Flüchtlinge über die Balkan-Route in Deutschland ankam. Ich war stolz auf mein Land, damals auch auf dessen Kanzlerin, das die Menschen aufnahm. Mir war mulmig, als ich die Bilder von „Welcome Refugees-Partys“ an deutschen Bahnhöfen sah. Ich finde, dass man Menschen, die Krieg und Flucht hinter sich haben, nicht feiern sollte, als hätten sie die Hunger Games gewonnen. Es gab damals großartige, nuancierte Reportagen über die Hintergründe dieser Fluchtbewegung. Den Ton bestimmte jedoch eine emotionalisierte Berichterstattung, die mir zu sehr nach Begeisterung über die eigene demonstrative Willkommenskultur klang. Und zu sehr wie eine Botschaft an jenen Teil der Gesellschaft und der Politik, der eine Abschottungspolitik forderte. Nicht, dass man mit Botschaften in diesem Zusammenhang sparen sollte. Nur ist es gefährlich, sie Menschen anzuheften, die sich nicht wehren können, wenn der politische Wind sich dreht.
Ich weiß, dass der Backlash gegen Flüchtlinge und Migrant:innen nicht durch „Refugees Welcome-Partys“ und die Berichterstattung darüber ausgelöst wurde. Er hat seine Ursachen in Islamophobie, Rassismus und dem Versagen der Europäischen Union, eine gerechtere Verteilung von Flüchtlingen durchzusetzen. Aber vielleicht wäre es progressiven Medien leichter gefallen, diesem Backlash etwas entgegenzusetzen, wenn sie das Thema vorher nicht selbst so sehr emotionalisiert hätten.
Das dritte Beispiel ist die Berichterstattung über die Corona-Pandemie. Ich bin immer wieder verblüfft darüber, wie sehr dieses globale Erdbeben in meinem Gedächtnis schon verblasst ist, und wie massiv es in Ländern des globalen Südens noch präsent ist. Ich habe in meinem Berufsleben nie eine Krise erlebt, in der ein anfänglich erstaunliches Bewusstsein über globale Zusammenhänge – Artensterben, Mobilität, Handelsketten, ökonomische Folgen von Lockdowns, die Notwendigkeit multilateralen Handelns – so schnell in den nationalistischen Orkus gekippt wurde. Und zwar ziemlich genau in dem Moment, da Impfstoffe zur Verfügung standen und Länder des globalen Nordens die Vorräte leerkauften. Der Globale Süden verschwand buchstäblich von der Bildfläche – und damit auch das Hinsehen auf die Folgen weltweiter Lockdowns für dessen Gesellschaften. Klar, Auslandsjournalist:innen
konnten nicht mehr reisen. Nur: Hätten wir vorher mehr Energie und Geld in internationale Journalismus-Netzwerke investiert, hätten Kolleg:innen in Ghana, Indien oder Ecuador unsere – und wir ihre – blinden Flecken füllen können. Vielleicht gäbe es heute ein größeres globales „Sende- und Hinsehbewusstein“. Das hat in den vergangenen Jahrzehnten nur der Fernsehsender Al Jazeera vorangetrieben – mit all den Lücken und Problemen, die es mit sich bringt, wenn man von einem autoritären Golfstaat finanziert wird.
Wir befinden uns 2025 in einer Ära, die in den USA „the war on empathy“ genannt wird. Empathie sei die Geißel schlechthin der westlichen Zivilisation, hat unter anderem Elon Musk erklärt. Sie sei durch woke Linke zu einer „Waffe“ gemacht worden. Wenn Sie sich einen Lektüre-Trip durch diese Gedankenwelt zumuten wollen, dann werden Sie von „toxischer Empathie“, von „satanischer Empathie“ und von der „Sünde der Empathie“ lesen. Das sind einige der Buchtitel zu diesem Thema, die derzeit das rechtsextreme und – wohlgemerkt – christliche Spektrum in den USA bedienen.
„Der Krieg gegen Empathie“ ist ein Code für das, was der Soziologe Stephan Lessenich als „Externalisierung“ beschrieben hat. Wir in den reichen westlichen Gesellschaften lagern die Kosten unseres Wohlstands seit jeher aus – sei es Giftmüll, Umweltzerstörung, die Folgen von CO2-Emissionen. Wir externalisieren durch Verdrängung auch die Art und Weise, wie unser Wohlstand zustande gekommen ist und erhalten wird: zunächst durch den massenmörderischen Raub der Kolonialmächte und jetzt durch die Ausbeutung von Ressourcen ärmerer Länder, die immer weniger Mittel haben, sich gegen die Folgen dieser Ausbeutung zu schützen. Dass inzwischen auch Staaten wie China und arabische Petro-Monarchien Mitglieder in unserem Club sind, ändert nichts an seiner Funktionsweise.
Nur wird dieses Nicht-wissen-Wollen zunehmend schwierig. Zum einen, weil die Folgen der Externalisierung immer öfter in reichen Ländern zu spüren sind, von der Ahrtal-Flut bis zu den Waldbränden in Los Angeles. Zum anderen, weil Emanzipationsbewegungen in den vergangenen Jahrzehnten das Verdrängen immer stärker stören – zum Beispiel, indem sie die Geschichte der Sklaverei freilegen. Donald Trump ist dem mit einem radikal einfachen und gewalttätigen Angebot begegnet: „Wählt mich, und ihr müsst über historisches Unrecht, Rassismus, Fluchtursachen und die Folgen unserer Lebens- und Konsumweise nicht weiter nachdenken. Ich erkläre sie einfach für nicht existent. Und jeden, der widerspricht, erkläre ich zum Feind.“ Die Zerschlagung von USAID, die Abertausende das Leben kosten wird, war in dieser Logik absolut folgerichtig. Die systematische Entmenschlichung von Migrant:innen und Flüchtlingen ist es auch.
Es ist aus europäischer Sicht verführerisch einfach, Trumps Politik zu geißeln. Es ist auch heuchlerisch. Denn diesen „Krieg gegen die Empathie“ führt Europa längst selbst. Seit Jahren sterben Flüchtlinge in den polnischen Wäldern an der Grenze zu Belarus, von den Ertrunkenen im Mittelmeer ganz zu schweigen. Die Empörung über das Bild eines zweijährigen toten Flüchtlingskindes wäre heute kaum noch messbar. In Europa gilt das Narrativ der migrantischen Bedrohung und das politische Primat der Migrationsabwehr. Das setzt voraus, das globale Geschehen immer weiter auszublenden.
Wenn Sie mich nun fragen, was Hinsehen für eine Journalistin heute heißt, dann erscheint Ihnen meine Antwort vielleicht banal. Aber: Menschenfeindliche Narrative kann man ändern. Man muss es gerade dann versuchen, wenn so schnell kein Politikwechsel absehbar ist. Denn es gibt in diesem Land wie auch in Europa eine erhebliche Zahl von Menschen, die sich einem „Krieg gegen die Empathie“ verweigern. Sie sind keine kleine Minderheit, auch wenn das heutzutage gern behauptet wird. Sie sind eine wichtige Öffentlichkeit, für die das globale Geschehen nicht bedeutungslos ist. Und sie sind angewiesen auf einen Journalismus, der das globale Geschehen wieder bedeutungsvoll macht. Auch und mehr denn je mit Journalist:innen aus dem globalen Süden.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 02/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!