Globale Gesundheit und Covid-19

Jetzt oder nie

Wer über Einschränkungen des Patentsystems nicht reden will, sollte von globaler Solidarität schweigen. Ein Jahr Pandemie hat die Brüche der Welt offengelegt – und zum Handeln aufgefordert.

Von Anne Jung

Angenommen, man wäre kurz vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie in einen Tiefschlaf gefallen und eben erst aufgewacht: Ein flüchtiger Blick auf die Weltlage würde genügen, um zu erkennen, dass da etwas gehörig schiefläuft. Das Virus ist zum Brandbeschleuniger eines schon vorher kaputten Systems geworden und hat die globale Ungleichheit verstärkt. Unübersehbar ist auch, dass die gravierende Impfungerechtigkeit weltweit tödliche Folgen hat und die Eindämmung des Virus und seiner Mutationen gefährdet. Beides sind keine „natürlichen“ Folgen der Pandemie, sondern das Ergebnis eines politischen Handelns, das Kapitalinteressen und der Verteidigung von Machtverhältnissen Vorrang einräumt vor fundamentalen Gesundheitsbedürfnissen der Menschen. Um dies zu kaschieren, wird in nicht enden wollender Stereotypie zu Solidarität aufgerufen, von Politiker:innen, der Weltbank, Pharmaunternehmen, der Zivilgesellschaft: Pandemievorsorge erfordere globale Führung für ein weltweites Gesundheitssystem, das den Anforderungen dieses Jahrtausends gewachsen ist. In einer im März 2021 veröffentlichten gemeinsamen Erklärung von zwei Dutzend Staat-schef:innen von Chile über Südafrika bis Deutschland heißt es: „Wir müssen uns der Solidarität, Fairness, Transparenz, Teilhabe und Gerechtigkeit verschreiben, um dieser Verpflichtung gerecht zu werden.“

Doch ein Blick auf die globale Verteilung der Corona-Impfstoffe zeigt, dass es in der globalen Gesundheitspolitik weder gerecht noch solidarisch zugeht. Die Zahlen sind bekannt: Auf zehn wohlhabende Länder entfallen 80 Prozent der bislang verimpften Dosen, während über 100 Länder des globalen Südens noch bis zu zwei Jahre auf die Versorgung mit dem Impfstoff zur Erlangung von Herdenimmunität warten müssen; Jahre, in denen Schutzmaßnahmen wie Lockdowns lebensgefährlich bleiben, weil Menschen ohne jede soziale Absicherung unmittelbar ihr Einkommen verlieren; Jahre, in denen Hunderttausende angesichts unzureichender öffentlicher Gesundheitssysteme und viel zu wenigen Beatmungsgeräten an Covid-19 sterben; Jahre, in denen Armut und Hunger durch die prekärer werdenden (informellen) Arbeitsverhältnisse zunehmen werden; Jahre also, in denen die Rückkehr zur Normalität nichts anderes bedeutet als die Rekonstruktion der alten Verhältnisse, die schon vor Corona krank waren. Die Pandemie legt die Risse in unserer Weltgesellschaft unerbittlich offen.

Konzerninteressen kosten Leben

Eines der größten Hindernisse bei der gerechten Versorgung mit Impfstoffen ist das Patentsystem. Schon früh hat medico mit dem internationalen Aufruf „Patente töten“ genau darauf aufmerksam gemacht und gefordert, dass medizinisches Wissen und seine Endprodukte als Gemeingut der Menschheit betrachtet werden. „Patente töten“ war zunächst als Warnung gemeint, auch vor dem Hintergrund einer fatalen historischen Erfahrung: dem Umgang mit HIV/Aids in den 1980er-Jahren. Auch damals hatten Industrienationen und die Pharmaindustrie behauptet, dass ein starker Patentschutz zur Förderung von Innovationen nötig sei. Nachdem endlich Medikamente verfügbar waren, blieben diese für einen Großteil der Infizierten in den Ländern des globalen Südens unerschwinglich, weil die Industriestaaten am Patentsystem und der Kapitalisierung von Wissen festhielten. Über Jahre musste der Industrie in weltweit vernetzten politischen Kämpfen, die auch von medico unterstützt wurden, jede Kostensenkung mühsam abgerungen werden. Auch das waren Jahre, in denen Millionen Menschen starben, weil sie die teuren Medikamente nicht bezahlen konnten.

Nun erleben wir mit Corona eine Jahrhundert-Gesundheitskrise und erneut halten die Industriestaaten an einem System fest, das die wirksamsten Auswege aus der Pandemie versperrt. Impfstoffe sind nicht wegen mangelnder Produktionskapazitäten rar. Patente verhindern, dass die Produktion an vielen Orten der Welt von Dhaka bis Kapstadt ausgeweitet wird. Deutschland, Europa und mit ihnen fast alle Industrienationen sorgen durch intransparente Verträge dafür, dass das Wissen, das Voraussetzung für die Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe war, den Pharmaunternehmen gehört, obwohl Milliardenbeträge aus öffentlichen Kassen in die Erforschung und Entwicklung der Impfstoffe geflossen sind. Die Industrienationen haben den Unternehmen vertraglich die Entscheidungsmacht verliehen, wie, wo und in welcher Anzahl die Impfstoffe hergestellt werden und was sie kosten. Das ist privatwirtschaftliche Enteignung, organisiert durch den Staat. Es wäre die Verpflichtung der Regierungen gewesen, in den Finanzierungsverträgen die Offenlegung der Forschungsergebnisse und die faire Verteilung festzulegen. Das ist nicht geschehen.

Die Industrienationen haben sich also entschieden, die bestehende Ordnung bis zur letzten Impfdosis gegen die Gesundheitsbedürfnisse der Menschen und gegen die epidemiologischen Notwendigkeiten der Pandemieeindämmung zu verteidigen. Das haben sie dadurch getan, dass sie den frühzeitigen Gemeinschaftsantrag von über 100 Ländern des globalen Südens an die Welthandelsorganisation, angesichts der einzigartigen globalen Krise den Schutz auf geistiges Eigentum bei den Impfstoffpatenten auch nur vorübergehend auszusetzen – den sogenannten TRIPS Waiver –, Verhandlungsrunde für Verhandlungsrunde torpediert haben. Egal, wie sich das Ganze auch angesichts der jüngsten Initiative der US-Regierung noch entwickeln wird: Entscheidende Monate lang wurde ein lebensrettendes Gut künstlich verknappt, im Dienste hoher Preise und der Aufrechterhaltung des Systems.

Covax-Initiative: Wie Hilfe das Recht ersetzt

Statt den TRIPS Waiver umzusetzen, wurden Initiativen wie „Covid-19 Vaccines Global Access“, kurz Covax etabliert. Als klassische Public-Private-Partnership ist sie zwar an die Weltgesundheitsorganisation angedockt und soll eine globale Verteilungsgerechtigkeit bei den Impfstoffen ermöglichen. Gleichwohl ist sie völlig von freiwilligen Zuwendungen von Staaten, der Pharmaindustrie und philantropischen Stiftungen abhängig. Damit kann sie den Widerspruch zwischen einem monopolistischen Modell und der sehr realen Not der benachteiligten Länder, Impfstoffe für sich selbst zu produzieren, nicht auflösen. Diesen bleibt nichts anderes übrig, als auf freiwillige Lieferungen zu warten. Mehr noch, Covax wird von der Europäischen Union gegen strukturelle Veränderungen in Stellung gebracht: Man fürchte, die Forderung nach Aussetzung der Patente könne die Pharmaindustrie so verärgern, dass sie ganz aus Covax aussteige, heißt es von der EU. Dabei liegt der Anteil der Industrie ohnehin im lächerlichen einstelligen Bereich.

Die Covax-Initiative ist ein Paradebeispiel dafür, wie Hilfe das Recht auf bestmöglichen Zugang zu Gesundheit ersetzt. Angesichts struktureller Ungleichheit kann sie nicht mehr sein als ein schlecht klebendes Pflaster, das die „sichtbaren Wundstellen der Gesellschaft planmäßig zukleben soll“ (Adorno). Das ist die gelebte neoliberal gewendete Solidarität, wie sie in der eingangs zitierten Erklärung der über 20 Staats- und Regierungschef:innen präsentiert wird. Vertreten sind hier auch Länder des globalen Südens wie Südafrika und Costa Rica, die gleich nach dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 vergeblich einen Technologie- und Wissenstransfer sowie die Freigabe der Patente gefordert hatten. Es spricht Bände, dass in der aktuellen Erklärung Patente und Eigentumsverhältnisse mit keinem Wort erwähnt werden. Sie liest sich wie eine Kapitulationserklärung jener Länder, die es gewagt hatten, die bestehende Ordnung zu hinterfragen. Die dominanten Staaten indes haben mit Covax eine „Gesellschaft zur Abmilderung globaler Risiken“ gegründet, wie es medico-Partner Remco van de Paz treffend beschreibt, die über keinerlei rechtliche oder strafrechtliche Durchsetzungskraft verfügt. Es ist eine moralische und demokratische Bankrotterklärung.

Organisationen und Bündnisse in vielen Ländern des globalen Südens wehren sich gegen diese Abhängigkeiten und vernetzen ihre Kämpfe. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der breite Zusammenschluss der C19 People’s Coalition in Südafrika, die ihr politisches Handeln in der Pandemie mit Forderungen nach einem Grundeinkommen, einer Reform des öffentlichen Gesundheitswesens und der nationalen Gesetzgebung zu Rechten des geistigen Eigentums verbindet. Unter dem Motto „black lives matter – vaccines for all“ demonstrieren sie gegen die Blockade eines Patent Waivers durch reiche Staaten bei der Welthandelsorganisation WTO und damit für globale Impfgerechtigkeit. Der Moment ist wie geschaffen für eine breitere globale Bewegung, um das Recht auf bestmöglichen Zugang zu Gesundheit allumfassend und universell auch jenseits von Pandemien zu erstreiten. Es ist jetzt an der Zeit, eine an den Gesundheitsbedürfnissen aller Menschen ausgerichtete Politik einzufordern, die öffentliche Gesundheitssysteme gegen Kapitalinteressen verteidigt und darin auch die Macht der Pharmaindustrie begrenzt. Das ist kostengünstiger als das System von Patenten. Vor allem aber ist es im Interesse aller.

Veröffentlicht am 12. Mai 2021

Anne Jung

Anne Jung leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Die Politikwissenschaftlerin ist außerdem zuständig für das Thema Globale Gesundheit sowie Entschädigungsdebatten, internationale Handelsbeziehungen und Rohstoffe.

Twitter: @annejung_mi


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