Im Dezember 2024 stürmte die israelische Armee das letzte funktionierende Krankenhaus in Nord-Gaza, Kamal Adwan. Bei dem Einsatz wurde dessen Leiter, der Kinderarzt Dr. Husam Abu Safiya, entführt. Das ist keine Ausnahme. Bis Ende des Jahres wurden in der Enklave 300 Gesundheitsarbeiter:innen von der israelischen Armee festgenommen und teilweise an unbekannte Orte verschleppt. Hinzu kommt die unfassbare Zahl von mehr als 1.000 getöteten Ärzt:innen, Sanitäter:innen und Pfleger:innen. Niemals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist in einem bewaffneten Konflikt innerhalb eines Jahres mehr medizinisches Personal ums Leben gekommen.
Durch die jahrzehntelange Abriegelung des Gazastreifens war das dortige Gesundheitssystem ohnehin nur noch schwach aufgestellt. In dem seit Oktober 2023 andauernden Krieg wurde es praktisch zum Kollabieren gebracht. Auch Einrichtungen der medico-Partnerorganisation Palestinian Medical Relief Society, wie deren Zentrum für nicht-übertragbare Krankheiten, das in Gaza einzigartige Diagnoseverfahren bot, sind weitestgehend zerstört. Mehrfach haben die Vereinten Nationen vor den Folgen gewarnt. Ende 2024 etwa hat das UN-Menschenrechtsbüro OHCHR eindringlich darauf hingewiesen, dass die Angriffe auf und in der Nähe von Krankenhäusern katastrophale Auswirkungen auf den Zugang der betroffenen Bevölkerung zu medizinischer Versorgung haben. Vergeblich.
Das tödlichste Jahr für Gesundheitspersonal seit 1945
Eigentlich genießen medizinische Infrastrukturen und Gesundheitsarbeiter:innen im Krieg herausragenden völkerrechtlichen Schutz. Laut Artikel 18 der Genfer Konvention dürfen sie „unter keinen Umständen angegriffen werden“, vielmehr seien sie „von den Konfliktparteien jederzeit zu achten und zu schützen“. Vollständigen Schutz hat dieses Übereinkommen de facto nie geboten. Doch in den letzten 15 Jahren hat sich die Intensität der Angriffe bei vielen Konflikten weltweit immens gesteigert. Laut dem Bericht der Safeguarding Health in Conflict Coalition – die langjährige medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights Israel ist Mitglied – sind allein für 2023 weltweit über 2.500 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und ihr Personal dokumentiert, mehr als je zuvor. Dieser traurige Rekord dürfte 2024 noch einmal übertroffen worden sein.
Hierzu beigetragen hat die israelische Offensive gegen den Libanon. Auch hier ist ein ohnehin krisengeschütteltes Gesundheitssystem unter Beschuss genommen worden. Allein in dem Gouvernement Nabatieh sind laut WHO 40 Prozent der Krankenhausbettenkapazität zerstört worden. Auch die Gesundheitszentren des medico-Partners Amel in Süd-Beirut wurden beschädigt, andere im Süden des Landes mussten aufgrund der gefährlichen Lage schließen. Die Amel-Mitarbeiter:innen haben ihre Arbeit daraufhin in anderen Gesundheitszentren oder in mobilen medizinischen Einheiten fortgesetzt. Unter hohem Risiko helfen sie bei der Verteilung von Versorgungsgütern, leisten psychosoziale Unterstützung und medizinische Nothilfe. Doch die Belastung ist unglaublich hoch, berichtet Marion Fabre, Gesundheitskoordinatorin von Amel. „Hinzu kommt die Anspannung, wen es als nächstes treffen wird.“ Auch im Libanon sind im vergangenen Jahr 238 Gesundheitsarbeiter:innen getötet worden.
In ihrem Vorgehen berufen sich die kriegführenden Parteien auf eine Ausnahmeregelung der Genfer Konvention. Dieser zufolge verlieren Gesundheitseinrichtungen ihren Schutzstatus, sobald sie „außerhalb ihrer humanitären Aufgaben zu Handlungen benutzt werden, die dem Gegner schaden“. Sind Krankenhäuser also Teil gegnerischer militärischer Infrastruktur, sind sie völkerrechtlich keine Tabuzone mehr. Damit ein Angriff aber rechtmäßig ist, bedarf es zum einen des Nachweises, dass der Schaden für Patient:innen und medizinisches Personal auf ein Minimum beschränkt wird. Zum anderen sind Angriffe verboten, bei denen zu erwarten ist, dass sie der Zivilbevölkerung Schaden zufügen, der im Verhältnis zu dem erwarteten militärischen Vorteil übermäßig hoch wäre. Doch solch „Kleingedrucktes“ interessiert wenig. Seien es die Stürmungen und Beschüsse des Al-Shifa-Krankenhauses, seien es die zahlreichen zivilen Opfer: Die israelische Regierung rechtfertigte sie mit dem Hinweis, die Klinik habe als Waffenlager und Rückzugsort von Hamas-Kämpfern gedient. Hinreichende Beweise hat sie nicht vorgelegt.
Bleibt die Verletzung des Schutzstatus straffrei?
Die Zerstörungen gesundheitlicher Infrastrukturen sind weit mehr als Kollateralschäden. Sie haben Methode. Die medizinische Fachzeitschrift The Lancet sprach bereits 2016 von einer „weaponisation of health care“. Das meint die Strategie, die Bevölkerung durch eine entgrenzte Kriegsführung von jeglicher medizinischen Hilfe abzuschneiden und damit zu zermürben. Die Behandlung von Verwundeten, die Eindämmung von Infektionskrankheiten oder die Therapie von psychischen Traumata: Selbst ein intaktes Gesundheitssystem müsste enorme kriegsbedingte Belastungen verkraften. Und auch im Krieg benötigen Diabetiker:innen Insulin und Nierenerkrankte eine Dialyse. Daher bedeutet ein Zusammenbruch der gesundheitlichen Versorgung unmittelbares Leid, das tief in die Psyche wirkt: Die Aussicht auf Heilung schwindet, ebenso die Hoffnung, es gäbe noch sichere Orte. Sehr bewusst hatten zu Beginn des Krieges Tausende in einer Zeltstadt auf dem Gelände des Al-Shifa-Krankenhauses Schutz gesucht. Indem die israelische Armee das Gelände im Frühjahr 2024 in Schutt und Asche legte, sendete sie auch eine Botschaft: Es gibt keinen Schutz, nirgends.
Die Folgen dieser militärischen Strategien sind tödlich – unmittelbar, weil Verwundungen nicht versorgt und Krankheiten nicht behandelt werden können; aber auch langfristig. In den ersten zwölf Monaten des Krieges sank die Lebenserwartung im Gazastreifen um 35 Jahre auf 40 Jahre. Täglich gibt es etwa 200 Geburten, aber keine:n einzige:n Neugeborenenmediziner:in mehr. Selbst wenn die medizinische Infrastruktur in den kommenden Jahren wiederaufgebaut werden sollte: Das getötete Fachpersonal kann nicht ohne Weiteres ersetzt werden. Damit entstehen Abhängigkeiten, von Geberländern und Hilfsorganisationen sowie von der Regierungsinstanz vor Ort – womit Gesundheitsversorgung zu einem machtvollen Kontrollinstrument für Besatzungsmächte wird.
Libanon und Gaza stehen exemplarisch für den Bedeutungsverlust des Völkerrechts. „Es scheint, als hätte die Welt ihren moralischen Kompass verloren“, sagte WHO-Sprecherin Margaret Harris. Um diesen neu auszurichten, müssten die mutmaßlichen Kriegsverbrechen juristisch aufgearbeitet werden. In diesem Sinne sind die Haftbefehle des internationalen Strafgerichtshofs gegen Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Joav Galant konsequent. Umso erschreckender ist, dass sie auch von der deutschen Bundesregierung offensiv ignoriert werden. Und so droht das tödlichste Jahr für Gesundheitsarbeiter:innen seit Jahrzehnten sogar straffrei zu bleiben.
Der Nahe und Mittlere Osten ist seit Langem eine Kernregion unserer Arbeit. Angesichts des Krieges haben wir die Nothilfe verstärkt. Die medico-Partnerorganisationen in Palästina, Israel, dem Libanon und in Syrien helfen, wo sie können.