Gaza

Krieg gegen die, die Leben retten

04.12.2025   Lesezeit: 6 min  
#gaza  #globale gesundheit 

In Kriegen werden medizinisches Personal und Infrastruktur zunehmend zu militärischen Zielscheiben. In Gaza sprechen UN-Expert:innen von einem "Medizid".

Von Alice Froidevaux

„Menschen bleiben dort, wo sie Zugang zu medizinischer Versorgung haben“, sagt Dr. Bassam Zaqout von der nichtstaatlichen palästinensischen Gesundheitsorganisation Palestinian Medical Relief Society (PMRS). Im Zuge der israelischen Großoffensive auf Gaza-Stadt im September 2025 sahen der medico-Partner und seine Teams sich gezwungen, den Norden des Gazastreifens zu verlassen. „Viele Menschen sagten uns: Wenn PMRS ihre Zentren schließt, gehen auch wir.“

Krankenhäuser und medizinisches Personal stehen unter besonderem Schutz des Völkerrechts – dennoch werden sie weltweit zunehmend gezielt angegriffen. Laut der Safeguarding Health in Conflict Coalition (SHCC) wurden 2024 weltweit 3.623 Angriffe auf das Gesundheitswesen dokumentiert – seit 2022 ein Anstieg von 62 Prozent. Besonders betroffen waren Einrichtungen im Libanon, in Myanmar, im Sudan, in der Ukraine und in den besetzten palästinensischen Gebieten.

Trotz der UN-Resolution 2286 von 2016, die Angriffe auf medizinische Einrichtungen als mutmaßliche Kriegsverbrechen einstuft und ein Ende der Straflosigkeit fordert, setzt sich diese Entwicklung fort. Die Aggressoren berufen sich auf Artikel 19 der Genfer Konvention, wonach der Schutz von Gesundheitseinrichtungen entfällt, wenn sie zu militärischen Zwecken missbraucht werden. Doch Beweise fehlen meist und das Kleingedruckte wird ignoriert. Damit ein Angriff rechtmäßig wäre, müsste nachgewiesen werden, dass alles dafür getan wurde, den Schaden für Patient:innen und medizinischem Personal zu minimieren.

Bereits 2016 prägte das Wissenschaftsjournal The Lancet den Begriff „weaponisation of health care“, die Instrumentalisierung von medizinischer Versorgung als Waffe. Die Zerstörung von Gesundheitsstrukturen ist längst kein Kollateralschaden mehr, sondern gezielte Strategie. Wo Krankenhäuser bombardiert werden, verlieren Menschen nicht nur den Zugang zu lebenswichtigen Behandlungen, sondern ihren letzten Zufluchtsort.

Terror-Rhetorik als Waffe

Die Rechtfertigung für Angriffe auf Krankenhäuser und medizinisches Personal folgt einem global etablierten Muster: dem seit 2001 von den USA ausgerufenen „Krieg gegen den Terror“. Dieses Narrativ hebt die Grenze zwischen Kombattant:innen und Zivilist:innen auf und erklärt das Gegenüber nicht mehr zur Kriegspartei mit Rechten, sondern zum ‚auszulöschenden Feind‘. 

Unter diesem Vorwand bombardierte die sri-lankische Regierung im Bürger:innenkrieg 2009 Krankenhäuser, zerstörten die USA 2015 das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan – und seit Jahren rechtfertigt die Türkei Angriffe auf das Gesundheitswesen in Nordostsyrien mit dem Kampf gegen sogenannten kurdischen Terror. In Gaza haben Angriffe auf das Gesundheitssystem ein neues Ausmaß erreicht. Zwischen Oktober 2023 und Oktober 2025 verzeichnete die WHO 825 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen: 985 Tote, 1.640 Verletzte, 169 beschädigte oder zerstörte Einrichtungen, darunter 36 Krankenhäuser. 

Zahlreiche Expert:innen und Organisationen – darunter Amnesty International und die Internationale Vereinigung der Genozidforscher:innen (IAGS) – kommen zu dem Schluss, dass das Vorgehen der israelischen Armee gegen die Zivilbevölkerung in Gaza der völkerrechtlichen Definition eines Genozides entspricht. In einem Statement vom August 2025 bezeichneten UN-Expert:innen die gezielte Zerstörung des Gesundheitssystems in Gaza als zentralen Bestandteil des Genozids: „Wir werden Zeug:innen eines Medizids – Gesundheits- und Pflegekräfte werden systematisch angegriffen, inhaftiert, gefoltert und wie die übrige Bevölkerung gezielt ausgehungert.“

In einem Bericht dokumentierte die israelische Menschenrechtsorganisation und medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights Israel den Medizid in Gaza seit Oktober 2023 und stellte ihn in den Kontext einer seit Jahren bestehenden „medizinischen Apartheid“, in der Israel das Gesundheitswesen – Patient:innentransporte, Medikamentenzufuhr, Fachkräfteausbildung – in den palästinensischen Gebieten umfassend kontrolliert.

Vom Einzelfall zur Routine

Beim ersten Luftangriff auf ein Krankenhaus in Gaza am 17. Oktober 2023, bei dem Hunderte Menschen auf dem Parkplatz des al-Ahli-Krankenhauses getötet wurden, galt als umstritten, ob Israel wirklich zu einem solchen Angriff fähig sei. Israel führte die Explosion auf eine fehlgeleitete Rakete des Palästinensischen Islamischen Dschihad zurück, was die Gruppe bestritt. 

In den folgenden zwei Jahren mehrten sich die Horrorgeschichten über bombardierte Krankenhäuser, in denen Menschen eigentlich Schutz suchten, und über gezielte Tötungen von medizinischem Personal. Im April 2024 gingen Bilder des Al-Shifa-Krankenhauses um die Welt, einst das größte medizinische Zentrum Gazas. Zwei Wochen lang war es durchgehend von der israelischen Armee belagert und angegriffen worden; heute liegt es in Trümmern, zerfurcht von Kratern. 

Ende März 2025 wurde bekannt, dass in Rafah 15 palästinensische Sanitäter getötet wurden, darunter acht Mitarbeitende des Palästinensischen Roten Halbmonds, der dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) angehört. Ihre Leichen wurden erst eine Woche später in einem Massengrab gefunden. 

Im August 2025 traf ein sogenannter Double-Tap-Angriff der israelischen Streitkräfte das Nasser-Krankenhaus in Khan Yunis und tötete 22 Menschen, darunter fünf Journalist:innen. Bei dieser perfiden zweistufigen Taktik wird ein Ziel zunächst bombardiert und kurz darauf erneut angegriffen – oft genau dann, wenn Rettungskräfte oder Medienschaffende vor Ort sind.

Zuletzt zerstörte die israelische Armee im Rahmen ihrer oben erwähnten Offensive in Gaza-Stadt im September 2025 Einrichtungen der Palestinian Medical Relief Society und des Gaza Community Mental Health Programme. Auch Ärzte ohne Grenzen sah sich gezwungen, ihre Klinik zu schließen und Personal zu evakuieren, da Panzer bis unmittelbar an die Gebäude heranrückten.

Was einst als umstrittener Einzelfall galt, ist mittlerweile zur Routine geworden. Die israelische Regierung macht schon lange keinen Hehl mehr aus diesen Angriffen. Begründet werden sie stets mit der angeblichen Präsenz von Hamas-Kommandostellen oder Kämpfern in den Einrichtungen – und die internationale Staatengemeinschaft lässt sie gewähren. 

Am Beispiel Gaza zeigt sich ein Muster der israelischen Armee: Erst eine unrealistisch kurze Evakuierungsaufforderung, gefolgt von unverhältnismäßig massiven Bombardierungen. Beweise für die angeblichen Hamas-Kommandoposten in Kliniken? Bis heute Fehlanzeige. Eine SRF-Recherche legte offen: Um Angriffe zu rechtfertigen, ließ die israelische Armee 3D-Animationen produzieren, die den Eindruck von Faktentreue und Authentizität vermittelten. Westliche Regierungen und viele Medien haben das Narrativ der israelischen Armee in den letzten zwei Jahren weitgehend unkritisch übernommen und trugen so dazu bei, das humanitäre Völkerrecht systematisch auszuhöhlen.

Ausschaltung von Zeug:innenschaft

Es ist bekannt, dass Israel keine internationalen Journalist:innen nach Gaza lässt und gezielt palästinensische Medienschaffende tötet, die vorher als „Terrorist:innen“ diffamiert wurden. Auch medizinisches Personal wird nicht nur gezielt verfolgt, weil es Leben rettet, sondern auch, weil es Zeugnis ablegt. Ärzt:innen dokumentieren Verletzungen, berichten über Kriegsverbrechen und widersprechen so Propaganda und Entmenschlichung. Ihre Zeugenschaft wird damit zu einer Bedrohung für die Angreifenden.

Im laufenden Genozid hat Israel über 1.800 Gesundheitsarbeiter:innen getötet oder willkürlich inhaftiert; Berichte über Folter in Gefängnissen zeigen das Ausmaß der Repression. Am 17. Oktober 2025 ordnete ein israelisches Gericht – trotz des verkündeten Waffenstillstands – an, Dr. Hossam Abu Safiya, Direktor des Kamal-Adwan-Krankenhauses, weiterhin inhaftiert zu lassen. Seit Dezember 2024 wird er ohne Anklage festgehalten – gemeinsam mit mindestens 17 weiteren Ärzt:innen und Dutzenden Pflegekräften. Menschenrechtsorganisationen weltweit fordern ihre sofortige Freilassung.

Die verkündete Waffenruhe in Gaza ist brüchig und bringt kaum Ruhe. Auf die erste große Erleichterung folgte Ernüchterung: Gaza liegt in Trümmern, Hilfslieferungen bleiben extrem begrenzt, Lebensgrundlagen sind zerstört. Die Zerstörung des Gesundheitswesens und die gezielte Tötung medizinischen Personals haben langfristig katastrophale Folgen. Selbst bei einem Wiederaufbau sind die getöteten Fachkräfte kaum zu ersetzen. Abhängigkeiten von Geberländern und Hilfsorganisationen werden verstärkt und die Gesundheitsversorgung bleibt ein Kontrollinstrument für die Besatzungsmacht Israel.

Auch die aktuellen Debatten über „Frieden“ werden von westlichen Regierungen aus ihrer gewohnten Position der Macht geführt – von oben herab und auf Grundlage globaler Ungerechtigkeit. Doch echter Frieden kann nur auf Gerechtigkeit beruhen: auf der Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes, dem Ende der illegalen Besatzung und der Aufarbeitung der Verbrechen aller Seiten. All das fehlt – wenig überraschend – im sogenannten Friedensplan von Donald Trump.

Eine frühere Fassung des Textes erschien beim Schweizer Online-Magazin „Das Lamm“.

Alice Froidevaux ist bei medico international schweiz zuständig für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. (Foto: privat)


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