Im Jahr 2015, auf dem Höhepunkt der Ebola-Epidemie, eröffnete die damalige Generaldirektorin der WHO Margaret Chan die Weltgesundheitsversammlung (WHA) mit einer bemerkenswerten Geste. Sie forderte eine Schweigeminute für alle Gesundheitsarbeiter:innen, die infolge ihrer Tätigkeit selbst der Krankheit erlegen waren. Als die Delegationen der 194 Mitglieder im Mai dieses Jahres zur 78. WHA in Genf zusammenkamen, wäre ein kurzes Innehalten allemal angebracht gewesen. Schließlich sind 2024 so viele Ärztinnen und Ärzte, Pfleger:innen und Sanitäter:innen bei ihrer lebensrettenden Arbeit ums Leben gekommen, wie in keinem anderen Jahr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ob im Sudan, in der Ukraine oder im Libanon: Trotz ihres besonderen völkerrechtlichen Schutzstatus wurden Gesundheitsarbeiter:innen getötet, allein in Gaza waren es 2024 mehr als 1.000.
Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO und bei einem Aufenthalt im Jemen selbst nur knapp dem Tod durch einen israelischen Raketenangriff entgangen, adressierte diese entgrenzte Gewalt in einer bitteren Note: Angriffe auf die Gesundheitsversorgung seien zur Normalität geworden. Dies ist allerdings nur der extreme Ausdruck der Zerrüttungen, denen die globale Gesundheit aktuell ausgesetzt ist: Wohl nie zuvor war der Grundton auf einer Weltgesundheitsversammlung so alarmierend wie diesmal.
Die WHA ist das zentrale Forum, um über globale Gesundheitsfragen zu beraten und Entscheidungen zu treffen. Beobachtet und kritisch begleitet wird sie von Aktivist:innen aus aller Welt, darunter auch die medico-Partner vom People’s Health Movement sowie dem Geneva Global Health Hub, einem Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Organisationen. In einer Bestandsaufnahme beschrieb das Sekretariat der WHO die Lage in deutlichen Worten: Die globale Gesundheit stehe an einem Scheideweg und die WHO als ihre wichtigste Institution befinde sich in der größten Krise seit ihrer Gründung 1948. Einen großen Anteil daran hat der von der Trump-Administration nun durchgesetzte Ausstieg der USA, die bisher mit etwa 20 Prozent größter Geldgeber der WHO waren. Der Wegfall dieser Mittel sorgt für massive Finanzierungsprobleme, die unmittelbar zu Programmkürzungen und einer drastischen Verkleinerung des Sekretariats geführt haben. Eine Kündigungswelle hat ein Viertel der Mitarbeiter:innen erfasst.
Hinzu kommt die Abwicklung der US-Entwicklungshilfebehörde USAID, die Gesundheitsprogramme in mindestens 70 Ländern trifft. Lebensrettende Maßnahmen wie die Bereitstellung von sauberem Wasser und medizinischer Versorgung in Gaza wurden ebenso eingestellt wie mindestens zehn nationale Tuberkulose-Programme in Afrika. Unzählige Versorgungseinrichtungen für sexuelle und reproduktive Behandlungen mussten schließen, weil sie keine Gehälter mehr zahlen konnten. Und laut UNAIDS sterben schon jetzt täglich etwa 600 Menschen aufgrund fehlender Antiretroviraler Medikamente zur Behandlung ihrer Aids-Erkrankung, die bislang durch das nun ebenfalls abgewickelte PE-PFAR-Programm bereitgestellt worden waren.
Neoliberalismus plus White Supremacy
Die Abkehr von normgebenden multilateralen Foren, zu denen neben der WHO auch das Pariser Abkommen zum Klimawandel gehört, folgt einer politischen Agenda: Diese begreift jegliche (zwischen-)staatliche Regulierung als Hindernis für kurzfristige Profitmaximierung. Eine Politik, die Argentiniens Javier Milei als Anarcho-Kapitalismus beschreibt, ist Neoliberalismus in libertärer Reinform und damit eher Kontinuität als Bruch. Und doch geht die Streichung sämtlicher Programme, die für ein Leben in bestmöglicher Gesundheit als Menschenrecht stehen, mit einer sozialdarwinistischen und weiß-suprematistischen Programmatik einher. Diese gesteht nur wenigen Privilegierten das Menschsein und damit Menschenrechte zu. Diese Verachtung des Rechts auf Gesundheit und Schutz schlägt sich auch in der oben genannten militärischen Gewalt gegen Gesundheitseinrichtungen und -personal nieder. Auch in dieser Hinsicht ist es fatal, dass die WHO als ein Forum, in dem solche Verbrechen regelmäßig evidenzbasiert adressiert werden, aufgrund fehlender Mittel nur noch beschränkt arbeitsfähig ist.
Ein kleiner Lichtblick ist, dass sich die Mitgliedsländer auf der WHA auf eine Steigerung ihrer Pflichtbeiträge geeinigt haben. Das ändert gleichwohl nichts daran, dass diese gerade einmal ein Fünftel des Gesamtbudgets der WHO abdecken. Ein Großteil der Programme bleibt weiterhin auf freiwillige Zahlungen angewiesen. Wer zahlt, bestimmt allerdings auch über die Ausrichtung der Programme. So haben die USA und private Stiftungen wie die Gates Foundation bislang durch ihre freiwilligen Beiträge das Polio-Programm der WHO finanziert, das ein Fünftel ihres Gesamtbudgets ausmachte.
Der selbsternannte Global Health Champion Deutschland ist derweil auffällig zurückhaltend. Anders als vor fünf Jahren zu Beginn der Corona-Pandemie, werden keine weiteren substanziellen Gelder aus dem deutschen Bundesaushalt an die WHO gehen, die den Wegfall der US-Mittel kompensieren könnten. Die schwarz-rote Koalition führt stattdessen den Ampel-Kurs der „militärischen Austerität“ fort. Soziale und Gesundheitsprogramme haben keine Priorität mehr, weder national noch international. Die Streichung von Geldern für Entwicklungszusammenarbeit in vielen weiteren europäischen Ländern folgt derselben Logik, allein Programme, die sicherheitspolitisch begründet werden, sind ausgenommen. Und auch wenn die Kürzungen weniger menschenverachtend legitimiert werden als vonseiten der Trump-Administration, sind die Folgen nicht weniger disruptiv. In Ländern wie Mosambik oder Sambia, deren Gesundheitssysteme zum Großteil von ausländischen Gebern abhängig sind, bedeutet der Wegfall der Mittel, dass dort weitaus mehr Familien als zuvor keinen Zugang zu medizinischer Versorgung mehr haben werden. Anders gesagt: Der erzwungene Anpassungsprozess für viele tief verschuldete Länder des globalen Südens wird unzählige Leben kosten.
Springt China in die Lücke?
Die USA waren in Genf dann doch kurz „anwesend“: In einer sechsminütigen Videobotschaft forderte Gesundheitsminister RFK Junior andere Länder dazu auf, dem guten Beispiel seines Landes zu folgen und die WHO zu verlassen. Kurz darauf sprach der chinesische Vizepremier Liu Guozhong und stimmte ein einziges Lob auf den Multilateralismus an. Es gehört zu den zentralen Fragen der globalen Gesundheit von morgen, ob und wenn ja, wie die Volksrepublik China in die Lücke springt, die der Austritt der USA gerissen hat. Tatsächlich war die chinesische Delegation mit 180 Mitgliedern in Genf präsent wie kaum eine andere. Und sie ließ keine Gelegenheit aus, sich als moderater Gegenpol zu den in Isolationismus abgleitenden USA in Stellung zu bringen. Als nun wirtschaftsstärkstes Mitgliedsland der WHO leistet die Volksrepublik nicht nur die höchsten Pflichtbeiträge. Sie hat zudem die freiwillige Zahlung von mehreren hundert Millionen Dollar in den nächsten fünf Jahren angekündigt. Die Machtkonstellation verschiebt sich offenkundig. Welche Folgen das für die globale Gesundheitspolitik haben wird, ist noch nicht abzusehen.
Einen beachtlichen Erfolg konnte die multilaterale Zusammenarbeit in Genf dann doch verbuchen. Unter der Schirmherrschaft der WHO ist drei Jahr lang über einen globalen Pandemievertrag gerungen worden. Nun stimmte die Weltgesundheitsversammlung einheitlich – es gab lediglich 11 Enthaltungen – dem Vertrags-werk zu, das auf Basis der Erfahrungen aus der Corona-Pandemie Leitplanken zu Themen wie Prävention, Lieferketten, Technologietransfer sowie Forschung und Entwicklung formuliert und damit eine globale Reaktion wirksamer und auch gerechter machen soll.
Die Euphorie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Einigung nur zustande kam, weil der größte Streitpunkt des Vertrags aufgeschoben wurde: eine bindende Regelung für einen gerechten Zugang zu Impfstoffen und Diagnostika in der nächsten Pandemie. Die Einigung über das sogenannte Pathogen Access and Benefit-Sharing (PABS) könnte noch Jahre dauern und den Ratifizierungsprozess weiter verzögern. Vor allem aber trägt der Vertrag nichts zu dem bei, was für eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung am wichtigsten wäre: eine Stärkung von Primärgesundheitsprogrammen und öffentlichen Gesundheitssystemen, wie es zum Beispiel die Gesundheitsaktivist:innen des People’s Health Movement fordern.
Der Trend geht vielmehr in die andere Richtung, zumal die Finanzierungslücken noch stärker als bisher von privatem Kapital geschlossen werden. Getreu dem Motto „never waste a good crisis“ werben etwa aktuell Fondsverwalter für „blended financing“ und „impact investment“ in die ohnehin schon zu 65 Prozent privatisierten Gesundheitssysteme afrikanischer und asiatischer Länder. Und die Novo Nordisk Foundation, die gerade massiv Lobbyarbeit für das Abnehmmedikament Ozempic macht, ist eine vierjährige Kooperation mit der WHO inklusive einer Finanzspritze von 50 Millionen Dollar eingegangen.
Gegen das Zusammenspiel von umfassender Privatisierung und der Delegitimierung des Rechts auf Gesundheit als grundlegendes Menschenrecht müssten diejenigen unterstützt werden, die gemeinwohlorientierte Versorgungsmodelle vorantreiben. Mit ihrer Arbeit erheben sie allerorts und täglich Einspruch dagegen, dass das Menschenrecht auf bestmögliche Gesundheit zu einem Privileg weniger degradiert wird.
Neben der Unterstützung lokaler Partnerorganisationen, die sich gegen krankmachende Verhältnisse einsetzen, interveniert medico auch in gesundheitspolitische Debatten, wie sie bei der WHO geführt werden. Das Ziel ist jeweils die Verwirklichung des umfassenden Rechts auf Gesundheit, für alle und überall.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 02/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!