Syrien

Es werden noch schlimmere Bilder kommen

Ost-Ghouta in Syrien unterliegt einer kompletten Blockade, 400.000 Menschen sind bedroht. medico ist in der Region aktiv. Ein Interview mit Projektkoordinator Till Küster.

Erschütternde Bilder hungernder Babys haben wieder die Aufmerksamkeit auf Syrien gelenkt. Die Bilder kamen aus Ost-Ghouta, eine Region nahe bei Damaskus, in der 400.000 Menschen leben. medico unterstützt dort verschiedene Partner. Wie ist die Lage vor Ort aus deren Sicht?

Till Küster: Ost-Ghouta wird seit vielen Jahren von der Assad-Armee belagert und blockiert. Solche Blockaden von Gebieten, in denen sich Zivilbevölkerung aufhält, sind eine fundamentale Verletzung des Völkerrechts und lassen sich auch nicht damit rechtfertigen, dass dort tatsächliche oder vermeintliche islamistische und terroristische Kämpfer aktiv sind. Seitdem medico Projekte in Syrien fördert, sind wir immer wieder mit dieser Blockadepolitik Assads konfrontiert, sie ist seit Beginn des Krieges wichtiger Teil der Kriegsführung des Regimes gegen die syrische Opposition. Es ist einfach unverständlich stets mitansehen zu müssen wie solche Kriegsverbrechen kaum Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit hervorrufen.

Hat sich die Lage nun noch dramatisch verschärft?

Es gab in Ost-Ghouta ein weitverzweigtes System an Versorgungstunneln, durch die auch wichtige Lebensmittel und Waren aus Vororten von Damaskus nach Ost-Ghouta gelangten. Diese Tunnel wurden im März durch die Regierungstruppen gesprengt, nachdem es heftige Kämpfe am Stadtrand von Damaskus gegeben hatte. Ost-Ghouta liegt ja direkt vor den Toren der Hauptstadt, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Seither sind die Lebensmittelpreise um das  Vier- bis Fünffache gestiegen und mittlerweile für viele Menschen unbezahlbar. Die Menschen haben eine hohe Selbstversorgungsrate und konnten selbst Anbau betreiben. Jetzt aber beginnt der Winter und die Lebensmittel aus dem Eigenanbau gehen zur Neige. Wir müssen momentan davon ausgehen, dass es im Winter noch zu weiteren dramatischen Bildern kommt.

Jetzt kam ein UN-Konvoi mit Lebensmitteln durch. Ein Beweis für den guten Willen der Assad-Regierung?

Der Konvoi brachte Lebensmittel für 40.000 Menschen. Angesichts von 400.000 Bewohnerinnen und Bewohnern ein Tropfen auf den heißen Stein. Zusätzlich erhalten die Vereinten Nationen nur sehr selten die Genehmigung des Regimes, Hilfslieferungen für die Menschen in belagerten Gebieten durchzuführen. Die UN sind an diesem Punkt total von den Interessen des Regimes abhängig. Auch fällt der Zeitpunkt der Hilfslieferungen zusammen mit den gerade begonnenen siebten Astana-Gesprächen, sicherlich kein Zufall.

Ost-Ghouta unterliegt seit Jahren einer völkerrechtswidrigen Blockade, selbst wenn Checkpoints hin und wieder geöffnet werden. Das hängt allein vom Goodwill einer Kampfpartei  und einzelnen Warlords ab und schadet der Zivilbevölkerung. Die Verknappung von Lebensmitteln ist Teil einer Strategie, um Widerstand zu brechen und  Gebiete der Opposition zurückzuerobern. Aufgrund seiner Größe und seiner strategischen Lage gilt dies insbesondere für Ost-Ghouta. Gleichzeitig verfolgen einzelne Warlords auch eigene finanzielle Interessen und diktieren in den belagerten Gebieten die Preise und Angebote auf den lokalen Märkten. Im Syrien-Konflikt herrscht eine Kriegsökonomie auf Kosten der Zivilbevölkerung.

Ost-Ghouta ist eine „Deeskalationszone“. Es gibt Verhandlungen zwischen Assad-Regierung und einzelnen Rebellengruppen vor Ort.  Ein Weg zur Regulierung des Konflikts?

Im Mai diesen Jahres wurden bei den regelmäßig stattfindenden Verhandlungen in der kasachischen Hauptstadt Astana, die unter Führung von Russland stattfinden und an denen der Iran, die Türkei, die Assad-Regierung, Teile der syrischen Opposition  und jetzt gerade auch eine kleine Delegation der USA teilnehmen, vier solcher Deeskalationszonen in Syrien geschaffen, darunter Ost-Ghouta. Diese Zonen sind von Russland und dem Assad-Regime eingerichtet worden, um ihren „Friedenswillen“ zu beweisen, aber auch um die Türkei und den Iran einzubinden als Akteure, die diese Zonen kontrollieren und – zumindest offiziell – die Einhaltung von lokalen Waffenstillständen durchsetzen sollen. Gleichzeitig konnten Militäreinheiten vom Westen in den Osten des Landes verlagert werden, um dort wichtige Gebiete vom sogenannten Islamischen Staat zurück zu erobern.

Die De-Eskalationszonen waren vor allem wichtig, um militärische Optionen im Osten Syriens zu vergrößern. Gerade an Ost-Ghouta kann man aber sehen, wie schnell sich solche Deeskalationszonen in Eskalationszonen rückverwandeln. So gab es in der Vergangenheit Abkommen, dass schwer kranke Kinder mit ihren Eltern die Region wegen eines Krankenhausaufenthaltes verlassen können. Jetzt gibt es kein Herauskommen mehr. Unter dem Vorwand der Terror-Bekämpfung finden fast täglich massive Bombardierungen öffentlicher Einrichtungen wie Schulen, Märkte und Krankenstationen statt.  Zurzeit sind alle Checkpoints nach Ost-Ghouta geschlossen. Das alles deutet auf eine weitere Zuspitzung der Lage hin.

Ost-Ghouta ist eine strategisch wichtige Region, mit die wichtigste, die von der Opposition noch kontrolliert wird.  Das Assad-Regime wird über kurz oder lang versuchen, sie zurückzuerobern, auch durch die systematische Belagerung mehrerer hunderttausend Zivilistinnen und Zivilisten.

Welche Projekte unterstützt medico in der Region?

Wir unterstützen gemeinsam mit Adopt a Revolution säkulare Schulen in Erbin. Viele tausend Kinder werden dort in seit Jahren unterrichtet. Wegen den ständigen Bombardements findet der Unterricht meistens unter der Erde statt. Die lokale Zivilgesellschaft hat das Schulkomitee gegründet. Es geht darum, auch unter diesen Bedingungen für die Kinder so viel Normalität wie möglich zu schaffen und zu verhindern, dass sie streng religiöse bzw. islamistische Schulen besuchen müssen. Das Schulkomitee wird von allen Seiten angegriffen. Sein langjähriger Leiter Abdulsattar Sharaf musste Erbin vor einigen Monaten verlassen, weil eine islamistische Gruppe einen Anschlag gegen ihn verübte.

Außerdem unterstützen wir ein Frauenzentrum in Douma, das Frauen durch Ausbildungen, Rechtsberatung und psychosoziale Beratung unterstützt. 

Und wir haben in den letzten Monaten mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes immer wieder humanitäre Nahrungsmittelhilfe über lokale Partner an über 2.000 Familien organisiert, die  jetzt aufgrund der zu Ende gehenden Vorräte in der Region allerdings vor großen Herausforderungen stehen. Hier sondieren wir gerade, welche weiteren Hilfslieferungen wir in den kommenden Wochen organisieren können.    

Das Interview führte Katja Maurer.

Veröffentlicht am 02. November 2017

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