Türkei / Syrien

Krieg niederer Intensität

Die Türkei avanciert mittlerweile zum weltweiten Marktführer in der Produktion unbemannter Systeme. Die dadurch ermöglichte neue Form der Kriegsführung wird unter anderem in Nordostsyrien umgesetzt.

Von Matthias Monroy

Seit April droht der türkische Präsident Erdogan mit einer erneuten Militärintervention in Nordostsyrien. Wie schon bei den Angriffen zuvor begründet er dies mit einer vermeintlichen „terroristischen Bedrohung“. Dass diese nicht vorliegt und militärische Angriffe auf die Region daher völkerrechtswidrig sind, hat der wissenschaftliche Dienst der Bundesregierung bereits nach den Angriffen in Afrin im Frühjahr 2018 und dem Versuch im Herbst 2019 eine 30km breite Sicherheitszone zu besetzen, festgestellt.

Ungeachtet dessen und von der weltweiten Öffentlichkeit unbeachtet, findet aber schon seit Monaten ein Krieg „niederer Intensität“ statt. Dafür ist an der türkisch-syrischen Grenzen unter anderem das Heer mit Artillerie stationiert. Drohnen dienen der Zielbestimmung dieser Waffen und werden auch selbst für Angriffe eingesetzt ohne dass die russischen oder US-amerikanischen „Schutzmächte“ dagegen eingreifen. Inzwischen wird auf diesem Weg wöchentlich militärisches und politisches Personal der Selbstverwaltung gezielt getötet. Immer wieder werden auch zivile Orte angegriffen, darunter Krankenstationen oder Fußgängerzonen. Diese Alltagsbedrohung bedeutet zudem eine starke psychische Belastung der Bevölkerung.

Matthias Monroy, Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei und Experte für Drohnen, beschreibt im Folgenden die Rolle der Türkei bei der Erprobung und Weiterentwicklung dieser neuen Kampftechnologien. Auf der Konferenz „10 Jahre Rojava“ werden wir dies vertiefen und nach Möglichkeiten politischer Interventionen suchen.

Drohnenmacht Türkei

Seit der Jahrtausendwende waren die Vereinigten Staaten und Israel die einzigen Länder, die bewaffnete Drohnen herstellen, exportieren und damit in verschiedenen Konflikten Angriffe durchführen, später folgte auch Großbritannien. Im vergangenen Jahrzehnt folgten mit Rüstungskonzernen aus China und dem Iran neue Akteure. Ein unbestrittener Senkrechtstarter ist die Türkei, deren Militär unter anderem die bewaffnungsfähige Anka fliegt. Sie wird von Turkish Aerospace Industries (TAI) hergestellt und kann über Satelliten gesteuert werden.

Der Exportschlager ist aber die von Baykar Makina hergestellte Bayraktar TB2, mit der das türkische Militär zudem völkerrechtswidrige Angriffe im In- und Ausland fliegt. Die Firma gehört dem MIT-Doktoranden Selçuk Bayraktar, der vor einigen Jahren in die Familie des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan eingeheiratet hat. Die von ihm entwickelte Kampfdrohne ist nur halb so groß wie die aus den USA und Israel bekannten Modelle und erheblich kostengünstiger als viele andere Drohnen dieser Klasse. Die türkischen Hersteller sind damit mittlerweile zum weltweiten Marktführer avanciert.

Außergerichtliche Hinrichtungen in Nachbarländern

Mit ihrer Politik „gezielter Tötungen“ haben das US-Militär und der Geheimdienst CIA, aber auch die britische und die israelische Luftwaffe Maßstäbe in der rechtswidrigen Nutzung unbemannter Systeme gesetzt. Gemäß dem humanitären Völkerrecht dürfen Kampfdrohnen – nach unterschiedlicher Auslegung – allenfalls im Rahmen eines Krieges oder eines internationalen, bewaffneten Konflikts eingesetzt werden. Trotzdem erfolgen solche außergerichtliche Hinrichtungen in Ländern wie Afghanistan, dem Irak, Syrien oder Gaza auch weiterhin. Daran orientiert sich auch die Türkei, die mit der TB2 Angriffe in kurdischen Gebieten durchführt, getarnt als Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder anderer kurdischer Organisationen. Dabei verletzt das türkische Militär das Völkerrecht, etwa durch den unterschiedslosen Angriff auf die Zivilbevölkerung. Auch das von der Türkei gern bemühte Selbstverteidigungsrecht als Begründung der tödlichen Maßnahmen lässt sich völkerrechtlich nicht herleiten.

Das Rojava Information Center zählte allein in diesem Jahr 66 bewaffnete Einsätze auf Rojava durch das türkische Militär. Zuletzt wurden am 6. August bei einem Drohnenangriff in der Innenstadt Qamişlo drei Zivilisten getötet, darunter zwei Kinder. Ähnliche Statistiken veröffentlicht das Community Peacemaker Team zum Nordirak, wo die Türkei seit 2015 bis zu 129 Zivilisten getötet und 180 verwundet haben. Im Juli starben bei einem solchen Angriff auf ein Tourismuszentrum acht Zivilist:innen. Ungewöhnlich deutlich hat der irakische Ministerpräsident des Landes, Mustafa al-Kadhimi, diesen Beschuss daraufhin als eklatante Verletzung der Souveränität des Landes kritisiert. Das ist ungewöhnlich, denn bisher konnte sich die Türkei auf die Zustimmung der Regierung und auch des Ministerpräsidenten Masrur Barzani, der das Gebiet kontrolliert, verlassen.

Die tatsächlichen Zahlen für Tote und Verletzte durch die türkischen Drohnenangriffe liegen womöglich noch höher als vom Rojava Information Center und Community Peacemaker Team gezählt, denn nicht immer ist auch klar, ob es sich tatsächlich um bewaffnete Einsätze unbemannter Systeme handelte. Mitunter werden die tödlichen Raketen nicht von Drohnen selbst abgeschossen, sondern von Kampfflugzeugen oder Artillerie. In diesen Fällen dienen Drohnen oft der Zielaufklärung und markieren diese per Laser.

Importe von deutschen Firmen

Anfangs war die türkische Drohnenindustrie bei Schlüsselkomponenten auf Importe angewiesen. Das betraf etwa Triebwerke, die zwar auch im Land produziert wurden, aber weniger leistungsfähig waren als Konkurrenzprodukte. Deshalb flog die TB2 mit Motoren von Rotax aus Österreich, bis die Firma ihre Lieferungen an Baykar Makina wegen der Unterstützung des aserbaidschanischen Angriffskriegs auf das armenische Arzach vor zwei Jahren stoppte.

Ursprünglich war die TB2 mit einem Sensormodul des kanadischen Herstellers Wescam ausgerüstet. Dabei handelt es sich quasi um das Auge der Drohne, das in einem halbkugelförmigen Behälter am Rumpf aufgehängt ist. Dieser sogenannte Gimbal ist um 360° schwenkbar und enthält unter anderem optische und infrarotbasierte Kameras sowie verschiedene Lasertechnologie. Wescam hat seine Zusammenarbeit mit Baykar Makina vorläufig beendet, nachdem die Regierung in Ottawa anlässlich des Krieges um Arzach ein Exportverbot erließ. Diese Lücke hat offenbar der auf Sensortechnologie spezialisierte Hensoldt-Konzern aus Deutschland mit seinem Modul ARGOS-II gefüllt. Das Gerät wird vom Hensoldt-Ableger Optronics Pty in Südafrika gefertigt, daher müssen auch keine deutschen Exportkontrollvorschriften eingehalten werden. Mittlerweile werden die Gimbals aber auch von der in der Türkei ansässigen Firma Aselsan produziert.

Auch die Bewaffnung der TB2 mit lasergesteuerten Raketen erfolgte mit deutscher Hilfe. Seit 2010 hat das deutsche Außenministerium Exportgenehmigungen für einige leichte Gefechtsköpfe und Anlagen oder Teile zur Fertigung erteilt. Sie könnten als Vorlage für die Entwicklung eigener Mikro-Präzisionsmunition in der Türkei gedient haben. Die Raketentechnik stammte von der Firma TDW Wirksysteme GmbH aus dem bayerischen Schrobenhausen, einem Ableger des europäischen Raketenherstellers MBDA, die Verkäufe erfolgten mutmaßlich an die im Staatsbesitz befindliche türkische Rüstungsfirma Roketsan.

Drohnenexporte florieren

Inzwischen etabliert sich die Türkei als Rüstungs- und Militärmacht auch im Bereich unbemannter Systeme. Sie hat dem türkischen Rüstungskonzern Baykar die Exportgenehmigungen in mindestens 14 Länder erteilt, darunter sind Katar, Kirgisistan, Turkmenistan, Pakistan, Somalia und Marokko. Einige Staaten setzen die Drohnen auch schon ein, belegt ist dies für Aserbaidschan, die Ukraine oder Äthiopien, wo die Bayraktar TB2 auch im Inland gegen Tigray-Rebellen Angriffe flog. Einsätze durch das türkische Militär selbst erfolgten zudem in Libyen. Als erster NATO-Staat hat Polen die Bayraktar TB2 bestellt.

Mindestens 16 weitere Regierungen interessieren sich bereits für den Exportschlager, dazu gehören Großbritannien, Ungarn, die Slowakei und Lettland. Auch Saudi-Arabien, der Irak, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Uruguay und Albanien könnten bald zur Kundschaft von Baykar Makina gehören.

Nun rüstet die Firma im Drohnenkrieg weiter auf. Unter dem Namen Akıncı (Räuber) hat Baykar Makina eine Langstreckendrohne mit zwei leistungsstarken Triebwerken entwickelt, die fast eine Tonne Munition transportieren kann. Ihre Serienproduktion hat bereits begonnen, vor einem Jahr wurden die ersten ersten Akıncı im Beisein von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan an die türkische Luftwaffe und das Heer übergeben.

Türkei will Drohnen-Seemacht werden

Mit einem weiteren unbemannten System will die Regierung in Ankara zudem die vierte Seemacht im Mittelmeer werden. Als Kızılelma (roter Apfel) hat Baykar Makina mit staatlicher Unterstützung ein unbemanntes Kampfflugzeug entwickelt, das 2023 seinen Erstflug absolvieren soll. Es ist tarnkappenfähig und soll eine Vielzahl von Militäraktionen durchführen können. Nach gegenwärtigen Plänen soll der Kızılelma auf dem Flugzeugträger TCG Anadolu stationiert werden. Der Drohnenflieger würde damit das US-Kampfflugzeug F35 ersetzen, das eigentlich für die Luftwaffe beschafft werden sollte. Die Türkei wurde jedoch vor drei Jahren von der Regierung in Washington aus dem Programm ausgeschlossen, nachdem Präsident Erdoğan den Kauf von Flugabwehrraketen aus Russland angekündigt hatte.

Neben mehreren Kızılelma will die Marine auch bis zu 50 TB-Systeme auf der Anadolu einsetzen. Hierzu entwickelt Baykar Makina die Version TB3 mit klappbaren Flügeln, damit sie platzsparend auf der Anadolu geparkt werden kann. So wird die Türkei nicht nur zur vierten Seemacht im Mittelmeer. Sie wäre auch das weltweit erste Land, das einen Flugzeugträger mit Kampfdrohnen bestückt.

Matthias Monroy ist Wissensarbeiter, Aktivist und Redakteur der Zeitschrift „Bürgerrechte & Polizei/CLIP.“

Konferenz 10 Jahre Rojava - Bedrohtes Rojava: Von Rüstungsexporten bis Drohnenkrieg

Diskussion mit Jan van Aken (arbeitet zu internationalen Konflikten bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung), Matthias Monroy (Wissensarbeiter, Aktivist und Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP), Chloé Troadec [Rojava Information Center] Aufzeichnung auf der Konferenz 10 Jahre Rojava am 11.09.2022 im medico-Haus, Frankfurt

Veröffentlicht am 09. August 2022

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