Syrien

Bessere Noten im Luftschutzkeller

Interview mit Abdulsattar, Aktivist des zivilen Zentrums in Erbin, über Bildungsarbeit im Schatten von Assads Kampfflugzeugen und erfolgreichen Widerstand gegen die Willkür der Rebellen.

Ihr führt ein ziviles Zentrum in Erbin – was macht ihr da eigentlich?

Wir führen hier zum Beispiel Qualifizierungsmaßnahmen durch und leisten psychosoziale Unterstützung. Außerdem gibt es Freizeitangebote für die Kinder der Umgebung und wir haben eine Bücherei.

Ihr seid auch im Bereich Bildung tätig. Da gibt es etwa die unterirdischen Schulen, die Adopt a Revolution zusammen mit medico international unterstützt. Welche Rolle spielt euer Zentrum dabei?

Früher hatten wir mal 1.000 SchülerInnen – jetzt sind es 5.000. Die Zahl der LehrerInnen hingegen ist ziemlich konstant geblieben – genau genommen ist sie sogar leicht rückläufig. Das Leben unter Belagerung ist hart und die Bombardements des Regimes sind heftig und so fliehen manche über die Tunnel, sodass Fachkräfte hier in der Gegend immer rarer werden. Deshalb versuchen wir hier im zivilen Zentrum die NachwuchslehrerInnen auszubilden. Durchgeführt werden diese Lehrgänge von den verbliebenen Fachlehrern. In den letzten zwei Monaten gab es beispielsweise Fortbildungen für Englisch-, Französisch-, Mathematik- und Physikunterricht.

Warum sind die Schulen eigentlich unterirdisch?

Seit sich die Revolution zum bewaffneten Konflikt entwickelt hat, hat das Regime immer wieder auch Schulen angegriffen. Zunächst durch Artilleriebeschuss, dann aus der Luft. In Erbin gab es 20 über der Erde gelegene Schulen, von denen mehr als 15 direkt bombardiert und schwer beschädigt wurden. Die restlichen liegen in extrem gefährdeten Gegenden.

Unsere Lösung, den Unterricht unter die Erde zu verlegen, ist also eine Folge der Sicherheitslage. So ist es für die SchülerInnen weniger gefährlich.

Was bedeuten die Bomben darüber hinaus für euren Alltag und den der Kinder?

Luftangriffe oder Artilleriegeschützfeuer beeinträchtigen natürlich unser aller Alltag sehr. Was die Kinder betrifft, so haben wir etwa festgestellt, dass es auch Auswirkungen auf die Leistungen der SchülerInnen hat, ob sie nun ober- oder unterirdisch unterrichtet werden. Die SchülerInnen die in den Kellern unterrichtet werden bringen bessere Ergebnisse. Die SchülerInnen über der Erde fühlen sich nicht sicher vor Angriffen. Bei jeder abgefeuerten Kugel bekommen sie Angst und manchmal auch, wenn nur ein Moped vorbeikommt, dann denken sie gleich an die Kampfflugzeuge.

Sobald ein Flugzeug Erbin unter Beschuss nimmt, verwandelt es sich in eine Geisterstadt. Die Menschen verstecken sich in Bunkern, Kellern oder auch in ihren Häusern, in den untersten Stockwerken. Dann kann man nichts mehr machen. Bei der schlimmsten Welle waren es 35 Angriffe am Tag. Einmal wurde ich auch selbst bei einem getroffen, am 7. Januar 2016. Da flogen Russland und das Regime 25 Angriffe, bei einem wurde ich verletzt.

Wenn es russische Bomben sind, hilft oft nicht mal mehr der Keller.

Und die Belagerung?

Grundlegende Dinge des täglichen Bedarfs gibt es einfach nicht, die Stromversorgung ist seit Jahren unterbrochen. Wenn der Generator mal zwei Stunden läuft, ist das ein teurer Luxus. Fließendes Wasser gibt es seit drei Jahren nicht mehr. Unser Wasser beziehen wir also aus den Brunnen der Stadt. Laut unserer letzten Analyse sind 60 Prozent davon verseucht und so muss es erst desinfiziert werden.

Und die Situation wird nicht besser – kürzlich fielen wieder Teile des Damaszener Umlandes ans Regime.

Weiter südlich, dort wo viel Gemüse angebaut wird, mit dem die ganze Gegend versorgt wurde. Gott weiß, was die nächste Zeit bringen wird, die Ereignisse überschlagen sich gerade. Hoffentlich geht alles glatt, aber es ist gefährlich.

Zurück zur Bildungsarbeit: Wie sieht es mit den Kindern aus, die ihre Familien verloren haben und deshalb jetzt nicht mehr in die Schule gehen?

Wir arbeiten eng mit dem Koordinierungsausschuss von Erbin zusammen. Die haben beispielsweise Verzeichnisse von Waisenkindern, von Gefallenen, Getöteten oder Verhafteten. Zunächst einmal fordern wir deren Angehörige verstärkt auf, die Kinder in unseren Schulen anzumelden, wir behandeln die Fälle dieser Kinder mit höchster Priorität. Für diese Kinder gibt es auf jeden Fall immer einen Platz.

Es gibt auch noch andere Bildungsprojekte in der Stadt…

Ja, die gibt es. Es gibt weitere Schulen, religiöse Schulen etwa, und solche die direkt zu islamischen Organisationen gehören, zu den islamistischen Muslimbrüdern etwa. Deswegen sind unsere freien Schulen ja so wichtig. Wir bieten den Eltern eine Alternative, die ihre Kinder in eine Schule ohne ideologische Indoktrination schicken wollen. Und das nehmen wir sehr erst. Ich bin ja zum Beispiel ein Aktivist der Revolution, aber in der Schule sprechen wir mit den SchülerInnen nicht über das Regime und steuern sie nicht in eine bestimmte Richtung. Unsere Aufgabe liegt nur darin, sie zu unterrichten. Natürlich lehren wir Toleranz und Menschenrechte, aber politisch verhalten wir uns ganz neutral. In anderen Schulen dagegen werden manchmal Plakate gehisst. In einer der religiösen Schulen beispielsweise, die der Miliz Jaysh al-Islam („Armee des Islam“). In diesen Schulen ist die Hälfte der Stunden Religionsunterricht! Wir konzentrieren uns vorrangig auf Mathe, Englisch, Fremdsprachen und alle anderen Fächer, alle Fächer sind bei uns gleichwertig, wir behandeln keines bevorzugt.

Wie sieht es in eurer Umgebung darüber hinaus mit militanten Gruppen aus?

Davon gibt hier im Osten von Damaskus leider viele. Ahrar al-Sham, Jaysh al-Islam, die Faylaq al-Rahman um nur einige zu nennen. Die meisten sind Extremisten. Die Jaysh al-Islam ist nach Grabenkämpfen aus Erbin abgezogen. Insbesondere Faylaq al-Rahman mischt sich jetzt noch in zivile Belange ein, andere Gruppen sind hier einfach zu schwach.

Diese Miliz aber machte Druck auf die Ortsvorstände und andere Einrichtungen, damit sie sich ihr anschließen. Das hat zu Aufruhr geführt, den Leuten missfällt das, dass die versuchen, gerade Erbin als zweitgrößte Stadt im östlichen Umland von Damaskus unter ihre Kontrolle zu bringen. Auch dass der Sicherheitsdient von Faylaq al-Rahman sich in alles einmischt und willkürlich Leute festnahm führte zu großem Unmut. Wer politisch nicht mit ihnen auf einer Linie ist, dem werfen sie ISIS-Gefolgschaft vor. Dabei sind das oft ganz säkulare Leute und trotzdem behaupten sie dann, die seien ISIS.

Wir forderten die Freilassung dieser Gefangenen in Erbin und dass sich Faylaq al-Rahman und andere militärische Gruppierungen nicht in zivile Angelegenheiten einmischen. Auch nicht deren Anhänger, die das etwa in der Bildung versuchen.

Und dann haben die das Feuer auf Demonstranten eröffnet, was leider sehr an das Vorgehen des Assad-Regimes erinnert. Die Leute haben noch massiver demonstriert und eine Frau wurde so schwer angeschossen, dass sie verstarb. Die hatte Kinder und das hat die Leute so aufgebracht, dass es zu einem regelrechten Aufstand kam und letztlich haben die Demonstrationen ihr Ziel erreicht. Faylaq al-Rahman hat seine Truppen vollkommen aus der Stadt abgezogen und ist jetzt nur noch an der Front. Auch die Einmischung in zivile Angelegenheiten hat nachgelassen, aber nicht ganz aufgehört, so dass es weiter Widerstand aus der Bevölkerung dagegen gibt.

Der Druck der Zivilbevölkerung hat also zum Abzug der Rebellengruppen aus der Stadt geführt.

Die Milizionäre leben nicht unter Zivilisten. Das gibt es jetzt schon länger nicht mehr. Die Rebellengruppen halten sich nur am Stadtrand an der Front auf.

Oft ist es für zivilgesellschaftliche Initiativen aus verschiedensten Gründen nicht leicht, das Vertrauen der Bevölkerung vor Ort zu erlangen: Wegen des schweren Erbes von Diktatur und Korruption, wegen des Krieges oder der Belagerung. Wie gewinnt ihr das Vertrauen der Bevölkerung vor Ort, damit die Menschen sich einbringen und an euren Angeboten teilnehmen?

Wir haben damit gar kein Problem. Das Vertrauen ist da, weil die Leute vom Zentrum von Anfang der Revolution an da waren. Sie sind nie weg und sind in der ganzen Stadt bekannt. Es gibt also kein Vertrauensproblem. Kürzlich haben wir beispielsweise einen Kindergarten eröffnet und da war es so, dass die Leute, kaum dass sie gehört hatten, dass wir das machen, zur Anmeldung kamen.

Was bedeutet euch Solidarität?

Natürlich ist internationale Solidarität absolut notwendig. Sie wirkt sich auf die Arbeit hier im Land aus. Besonders für uns Aktivisten ist es sehr wichtig, dass die Welt weiß, dass es immer noch bürgerschaftliche Aktivisten gibt, trotz der russischen und syrischen Bomben.

Unterstützen auch Sie das zivile Zentrum in Erbin und die freien Schulen der Stadt! Wir garantieren ein Mindestgehalt für die engagierten LehrerInnen, finanzieren Schulmaterial und ermöglichen so den Fortbestand dieses pädagogischen Hoffnungsraumes inmitten des anhaltenden Bürgerkriegs. Spendenstichwort: Syrien

 

Veröffentlicht am 12. Dezember 2016

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