Brasilien

Brachiale Industrialisierung

Der Nordosten Brasiliens ist Zentrum der brasilianischen Erzgewinnung, den Preis zahlt die Bevölkerung. Doch AnwohnerInnen wehren sich.

Von Christian Russau

Piquiá de Baixo ist ein dörflich wirkender Stadtteil von Açailândia, einem 100.000-Einwohner-Ort im brasilianischen Bundesstaat Maranhão, über 2.000 Kilometer nordöstlich gelegen von den alten Metropolen Rio und Sao Paolo. Bis auf die Bundesstraße bestehen die Straßen aus Lehm wie man es in einem Bundesstaat erwarten kann, der zu den ärmsten Brasiliens zählt: Maranhão. Allerdings fehlt Piquiá de Baixo der Charme eines Dorfes. Denn dieser Teil der Stadt Açailândia, die in den letzten 15 Jahren einen Wirtschaftsboom mit Wachstumsraten bis 23 Prozent vorweisen konnte, ist der Ort derer, die von diesem Aufschwung nicht profitieren.

Hier zahlen die Menschen für die Idee einer nachholenden Industrialisierung, wie sie in vielen Schwellenländern betrieben wird, mit ihrer Gesundheit. 1.100 Menschen leben hier. Die einzige asphaltierte Straße, die Bundesstraße 222, teilen sich Schulkinder mit LKWs, die glühende Eisenlava transportieren. Auf der einen Seite wird der Ort von Bahngleisen begrenzt, auf denen unausgesetzt drei Kilometer lange Züge mit 330 Waggons voller Eisenerz fahren und immer wieder unvermittelt anhalten und genauso unvermittelt weiterfahren. Kinder auf dem Weg zur Schule oder Bauern und Bäuerinnen auf dem Weg zum Feld müssen dann lange Umwege inkaufnehmen – oder unter dem Zug durchkrabbeln. Eine weitere ständige Gefahrenquelle für Unfälle. Und dann ist der Ort noch umzingelt von drei Eisenwerken, einem gasbetriebenen Kraftwerk , einer Zementfabrik sowie einem neu gebauten Stahlwerk. Ohne jeden Filter regnen sie ihre Abfälle auf den Stadtteil und machen die Menschen krank. Wer allerdings medizinische Hilfe braucht, sollte Krankheiten oder Unfälle auf den Mittwochnachmittag verlegen. Dann nämlich hat die einzige Gesundheitsstation des Ortes Sprechstunde.

Staub überall

Bereits in den 1980er Jahren kam die Landesregierung auf die Idee, lokale Wertschöpfung in der Region anzusiedeln, Arbeitsplätze zu schaffen, Entwicklung voranzutreiben und hier in Piquiá de Baixo, auf der Hälfte des Weges von Carajás nach São Luis, die erwähnten Eisenhüttenwerke anzusiedeln. Nahezu jede Familie beklagt Todesfälle in der Familie, meist wegen Lungenleiden, Herzkreislaufproblemen oder Krebs. In den Hüttenwerken Filter einzubauen? Das wäre zu teuer, würde die Produktion unrentabel machen und wichtige Arbeitsplätze kosten. Sagen die Regierung, die Behörden, die Firmen. Und so leiden die Bewohner bis heute unter dem Staub.

„Wir hatten ja keine Ahnung, wie wir uns zur Wehr setzen sollten.“ Dona Tida schaut in die Runde, die sich in dem kleinen Klubhaus der Mütter versammelt hat. Auf weißen Plastikstühlen sitzen zwölf Frauen aller Generationen in einem der vier Gemeindehäuser von Piquiá de Baixo.

„Wir Älteren haben alle keine Uni und nur wenige Jahre die Schule besucht.“ Irgendwer schlug vor, zunächst eine Anwohnervereinigung zu gründen, berichtet Dona Tida. Aber wie? Es gab viele Fragen: Wie organisiert man einen Protest? Und wie damit umgehen, dass Familienmitglieder in den Eisenhütten arbeiten? „Da haben wir Priester aus der Gegend eingeladen und uns beraten lassen“, berichtet sie. „Woher sollten wir wissen, wie man das alles macht, wie man einen offenen Protestbrief nach Brasília schickt, wie man Unterschriften aus aller Welt organisiert? Die Padres haben mit uns geredet, uns zugehört und gemeinsam sind wir das dann angegangen“, so Dona Tida, die am 1. Mai Geburtstag hat. Auch in Brasilien ist das der Tag der Arbeit und des Widerstands. Sie wird nun 70 Jahre alt. Diesen Geburtstag, sagt sie, wird sie besonders feiern. Denn der jahrelange Widerstand des kleinen Dorfes gegen die Eisenhüttenwerke, gegen den alltäglichen Staub, hat einen ersten großen Erfolg erzielt.

Umsiedlung wegen Umweltbelastung

Es war Ende 2015, als ganz Piquiá de Baixo in einen Freudentaumel fiel. Denn die Bundesregierung hatte dem Antrag für die Umsiedlung von Piquiá de Baixo stattgegeben und dem Stadtteil zugesichert, im Rahmen des sozialen Wohnungsbauprogramms Minha Casa, Minha Vida („Mein Haus, mein Leben“) ein neues Gelände, acht Kilometer von Piquiá entfernt, zur Verfügung zu stellen und dort für alle betroffenen Familien Neubauten zu errichten.

„Nur weg von diesem Staub!“, sagt Joselma. Die Mittdreißigerin wohnt seit ihrer Geburt in Piquiá. Und sie nickt, wenn Dona Tida, die am längsten bei dem Widerstand dabei ist, von den Anfängen erzählt. „Entweder kämpfen wir zusammen oder wir sterben hier alle“, so Joselma. Sie zeigt auf den verwaisten weißen Plastikstuhl neben ihr. „Heute Morgen, bevor ihr gekommen seid, haben wir hier gefegt und geputzt.“ Sie fährt mit den Fingern über die Sitzfläche und Lehnen. „Schon wieder alles rußig, schwarz. Siehst Du das?“ Es ist nicht zu übersehen. Alle zwölf Frauen zeigen auf die besonders verrußten Stellen. „Hier, das Fensterbrett, da auf dem Holztisch, alles voll mit dem Zeug. Und“, so fügt Dona Tida hinzu, „das alles hier, dieses rußig, schwarze Zeug, das geht direkt in unsere Lungen. Kein Wunder, dass hier alle krank sind.“
 

Weg aus dem alten Piquiá de Baixo, hinein ins neue Piquiá. Es hatte lange Diskussionen über diesen Umsiedlungsplan gegeben. Denn viele Bewohner waren wütend, sie verlangten vom Eisenhüttenwerk, das ihre Häuser mit Staub bedeckt, Entschädigung und saubere Produktion. Ihr Argument: Wir waren zuerst da. Warum sollten sie der Firma ihre Heimat überlassen? Es gab viele Diskussionen in der Anwohnervereinigung. „Bevor die Hüttenwerke hierher kamen, war hier Wald. Wir haben Viehzucht betrieben. Unten am Fluss haben wir gebadet und gefischt“, sagt Seu Adelson, der seit vier Jahrzehnten in Piquiá wohnt. „Heute ist alles verschmutzt. Da regnet es auf uns Staub vom Eisen, der Kohle, vom Zement – und das Gas und alles gleichzeitig. Wer kann das 24 Stunden am Tag ertragen?“ Er macht eine lange Pause. „So ist es dann vielleicht besser, dass wir hier weggehen. Denn sauber wird das hier nie wieder.“

Der Kampf der Bewohnerinnen und Bewohner um ihre Rechte wird seit vielen Jahren von Justiça nos Trilhos, frei übersetzt „Gerechtigkeit auf den Gleisen“, unter stützt. Das war nötig, um dem lokalen Protest landes-der Rechten und Rechtsradikalen erleben, war dies weit Gehör zu verschaffen. „Am Anfang haben wir erst noch eine symbolische Handlung dafür, wem die linke

einmal geredet“, sagt Dona Tida. „Dann aber haben wir vor der Schlackehalde protestiert, in der sich ein Kind beim Spielen kurz zuvor tödlich verletzt hatte.“ Die Firma bestritt damals jede Verantwortung für den Unfall mit Hinweis auf die von ihr aufgestellten Warnschilder. Doch der Tod des Kindes hat die Menschen so empört, dass sie mit ihrem Widerstand nicht nachließen. „Wir sind mit Topf-deckeln vor das Fabrikgelände gezogen“, erzählt Dona Tida und muss dabei lachen. „Der Lärm unserer Topfdeckel hatte gegen das Getöse des Hüttenwerks keine Chance. Dennoch haben wir für Ärger gesorgt und die Zufahrt blockiert.“ Daraufhin waren die Firmenvertreter zu ersten Gesprächen bereit. Viele Verhandlungen später erreichten die Bewohner, dass alle ansässigen Firmen, die mit ihrer Umweltbelastung das Weiterleben im Stadtteil unmöglich machen, ein Ersatzterritorium kaufen und die Wiederansiedlung finanzieren müssen.

Mitten in der politischen Krise Brasiliens, noch vor der vorläufigen Amtsenthebung der gewählten Präsidentin Dilma Rousseff, machte eben diese die Umsiedlungspläne juristisch unangreifbar. In ihrer Anwesenheit wurde der Vertrag zwischen der staatlichen Caixa-Econômica-Bank, den Behörden und den Bewohnerinnen und Bewohnern unterzeichnet, der den etwa 1.100 Menschen des Stadtteils Piquá de Baixo ihre Umsiedlung im Rahmen des sozialen Wohnungsbauprogramms Minha Casa, Minha Vida ermöglicht. Im Drama um die Amtsenthebung von Rousseff, die viele medico-Partner bei aller Skepsis gegenüber der PT-Regierung als stillen Putsch Präsidentin eigentlich verpflichtet ist: Den Marginalisierten in einem Land, das noch immer einen der größten Unterschiede zwischen Arm und Reich in Lateinamerika aufweist.

Für die medico-Partnerinnen und Partner, die die Anwohner von Piquiá de Baixo genauso unterstützen wie Anwohner beim größten Stahlwerk Lateinamerikas in Rio de Janeiro, die seit Jahren mit ähnlichen Umwelt-und Gesundheitsbelastungen leben müssen, hat dieser Vertragsabschluss paradigmatische Bedeutung. Die Anwohner beider Städte stehen ohnehin in einem mit medico-Unterstützung organisierten engen Austausch. Jetzt ist die Frage, ob sich das gute Beispiel von Piqiá de Baixo wiederholen lässt.

Veröffentlicht am 23. Mai 2016

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