Brasilien

Die Erholung wird Jahre dauern

Interview mit Raquel Torres, Redakteurin der Plattform Outra Saúde, „Andere Gesundheit“.

medico: Kannst du uns einen Überblick über die aktuelle Covid-19-Situation in Brasilien geben?

Raquel Torres: Das ist aus verschiedenen Gründen gar nicht so einfach. Brasilien ist ein riesiges Land, in dem das Virus überall, aber mit unterschiedlicher Infektionsdynamik auftritt. Andererseits bilden die existierenden Daten kaum das reale Infektionsgeschehen ab, weil die Regierung viel zu wenig testen lässt, um wirklich einen Überblick zu bekommen. Deshalb wissen wir gar nicht, wie viele aktive Covid-19-Fälle es tatsächlich gibt. Offiziell gibt es zum jetzigen Zeitpunkt (Stand: 10.11.2020) 5,6 Millionen nachgewiesene Covid-19-Fälle und 162.000 an oder mit dem Virus Verstorbene. Ein großes Problem ist zudem, dass die Regierung oftmals nicht veröffentlicht, wie viele Tests überhaupt durchgeführt wurden. In den letzten Monaten lag die Positivitätsrate der Covid-19-Tests konstant bei knapp 20 Prozent, in Deutschland hingegen nur bei 7 Prozent.

Welche Rolle spielt das öffentliche Gesundheitssystem Sistema Único de Saúde (SUS) in der Pandemiebekämpfung?

Es spielt eine zentrale Rolle bei der Pandemiebekämpfung. Es hat auch schon vor der Pandemie die Gesundheitsversorgung von Dreiviertel der brasilianischen Bevölkerung gesichert. Die Struktur des SUS ist für die Pandemiebekämpfung sehr gut geeignet, weil sie sehr basisorientiert aufgebaut ist. Es verfolgt eine Familien-basierte Gesundheitsstrategie, in der Tausende von Gesundheitsarbeiter*innen engen Kontakt zu den Menschen pflegen. Genau diese Gesundheitsarbeiter*innen können jetzt zur Erhebung von Daten zum Infektionsgeschehen und zur Nachverfolgung von Infektionsketten genutzt werden. Wichtiger ist aber, dass das SUS für die Patient*innen einen kostenlosen und damit demokratischen Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglicht. Allerdings leidet das öffentliche Gesundheitssystem seit Jahren unter chronischer Unterfinanzierung. So rächt sich nun, dass es zu wenige öffentliche Krankenhausbetten gibt und Patient*innen deswegen auf eine Behandlung warten. Das bittere ist je doch, dass es freie Krankenhausbetten für Privatpatient*innen gibt, die sogar gegen Bezahlung durch das SUS auch SUS-Patient*innen zur Verfügung gestellt werden könnten. Und so sterben vor allem arme Menschen trotz freier Betten an dem Virus, weil sie keine private Krankenversicherung haben.

Bereits unter der sozialdemokratischen Vorvorgängerregierung gab es eine Stärkung der privaten Gesundheitsvorsorge zu Lasten von SUS. Nun hat die Regierung angekündigt, bei der Bekämpfung der Pandemie verstärkt auf den Privatsektor zu setzen. Was heißt das konkret?

Die Regierung setzt in der aktuellen Situation auf sogenannte Public-Private-Partnerships. Beispielsweise sollen administrative Aufgaben in der Pandemiebekämpfung durch private Unternehmen durchgeführt werden, die dann aus den öffentlichen Kassen bezahlt werden. Es geht also noch nicht darum, bestehende öffentliche Infrastruktur an den Privatsektor zu verkaufen, oder die Menschen für die Versorgung durch das SUS bezahlen zu lassen. Trotzdem gab es nach der Ankündigung der Regierung eine breite öffentliche Empörung, die Bolsonaro und seinen Wirtschafsminister Paulo Guedes dazu gezwungen hat, einen Tag später ihren Vorschlag zurückzuziehen. Mich hat diese empörte Reaktion von großen Teilen der Bevölkerung positiv überrascht, denn im Alltag ist die Unterstützung für das öffentliche Gesundheitssystem nicht spürbar.

Bei der Bekämpfung des HIV-Virus ist Brasilien einen unkonventionellen Weg gegangen und hat in staatlichen Laboren Präparate gegen das Virus selbst hergestellt. Inwiefern hätte Brasilien denn die Möglichkeiten, nun selbst Dosen des Impfstoffes zu entwickeln oder herzustellen?

Brasilien hat eine sehr starke öffentliche Pharmaindustrie. Das staatliche Forschungsinstitut Fiocruz ist an der Entwicklung eines Impfstoffes beteiligt. Die Regierung hat darüber hinaus über Fiocruz ein Abkommen mit der US-Pharmafirma AstraZeneca über deren möglichen Impfstoff vereinbart, das Brasilien die Produktion von 100 Millionen Impfstoffdosen im kommenden Jahr zusichern würde. Allerdings würde nur die Abfüllung und Verpackung in Brasilien stattfinden. Die Regierung des Bundesstaats Sao Paulo hat zudem einen Lizenzvertrag mit einer chinesischen Firma über deren potenziellen Impfstoff abgeschlossen, die in der Entwicklung weiter ist. Präsident Bolsonaro lehnt einen „kommunistischen“ Impfstoff aus China jedoch vehement ab. Das zeigt, dass die Regierung bei der Pandemiebekämpfung überaus ideologisch handelt.

Mit welchen langfristigen Folgen der Pandemie rechnest du?

Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis sich die Gesellschaft erholt hat. Viele kleine und mittlere Unternehmen mussten schließen, die Arbeitslosigkeit ist spürbar gestiegen. Vor allem Menschen in informellen Arbeitsverhältnissen, mittlerweile mehr als jede*r Zweite, leiden sehr . Die Regierung zahlt ihnen seit einigen Monaten knapp 50 US-Dollar, damit sie nicht verhungern. Eine der schlimmsten Folgen jedoch ist, dass in den meisten Bundesstaaten die Schulen seit sieben Monaten geschlossen sind. Das heißt, die Regierung hat bisher keine anderen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung entwickelt als den Lockdown.

Das Interview führten Katja Maurer und Julian Toewe.

Im Rahmen der Brasilien-Arbeit unterstützt medico unter anderem die Arbeit der Gesundheitsplattform „Otra Saúde“.

Spendenstichwort: Brasilien

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 01. Dezember 2020

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