Brasilien

Die Macht der Erdbeere

Trotz Lulas Wahlsieg wird es keine Antwort auf das soziale Schicksal von Millionen geben. Viele gehen deshalb eigene Wege.

Von Mario Neumann

Ehrlich gesagt hielt ich bis zum Mai 2022 Erdbeeren für eine ziemlich deutsche Angelegenheit. Ich hatte das natürlich nie wirklich durchdacht, aber es hätte mich nicht gewundert, wenn es sie so gut wie nirgendwo sonst auf der Welt gäbe. Vielleicht dachte ich so, weil die Erdbeere hierzulande oft zusammen mit Spargel gehandelt wird. Und der ist ja nun bekanntermaßen eine ziemlich deutsche Angelegenheit. Doch zurück zu den Erdbeeren, die ich lange quasi für Kartoffeln hielt: Mein Eindruck hat sich geändert. Seit jenem Tag, als ich zum ersten Mal in Rio de Janeiros größtem Favela-Komplex Erdbeeren aß. „Hier sind die Erdbeeren wichtiger als die Wahlen. Denn sie spenden den Menschen mehr Hoffnung als die Reden der Politiker.“ Das sagt Ana zu mir, ohne Häme oder Ressentiment in der Stimme. Sie sagt das auch nicht als Polemik, sondern es ist aus ihrer Perspektive eine Tatsachenfeststellung.

Um Ana zu treffen, fahren wir mit dem Taxi durch den Norden Rio de Janeiros, die Zona Norte. Hier reiht sich Favela an Favela, rechts und links sehen wir kaum mehr als unverputzte, von den Bewohner:innen gebaute Backsteinhäuser, die sich chaotisch miteinander zu einem Territorium verbinden. Hier ist Favela-Land, das regelmäßig von Polizei und Militäreinsätzen heimgesucht wird, bei denen die Bewohner:innen von Massakern sprechen, während die Polizei von Krieg redet. Wir biegen ab nach Penha, einem Favela-Komplex von 13 miteinander verwachsenen Siedlungen, einem der gewaltvollsten Orte der Stadt. Es ist früh morgens und die Straßen sind noch leer. Plötzlich stoppt unser Taxifahrer abrupt und sagt, wir müssten jetzt aussteigen und den Rest zu Fuß gehen. Wir schauen hoch und vor uns steht ein Pferd, dahinter ist die Straße zu Ende und große Steine ragen empor. Kein Durchkommen.

Das gelobte Land

Wir gehen die letzten Meter zu Fuß und gelangen nach Terra Prometida. Hier leben Ana Santos und ihr Mann Marcelo Correa in einem kleinen Häuschen umgeben von Hügeln, Pflanzen und der neu enstehenden Favela, die rechtlich noch als Landbesetzung gilt und so einen gewissen Schutz besitzt. Als Marcelo hört, dass ich aus Deutschland komme, sagt er begeistert „Ah, Nietzsche!“. Sie haben es hier in der Nähe schon einmal versucht, sind dann vertrieben worden und nach einer kurzen Auszeit zurückgekommen. Die Terra Prometida, das „gelobte Land“ liegt inmitten des Naturschutzgebietes Serra da Misericórdia – einer grünen Oase inmitten eines riesigen Slums.

Die Nachbarschaft ist während der Pandemie stark gewachsen. Ana und Marcelo begleiten diesen Prozess mit ihrer Organisation CEM, dem „Zentrum für Integration in der Serra da Misericórdia“, die sich für Ernährungssouveränität der Favela-Bewohner einsetzt. „Unsere Arbeit wird in Partnerschaft mit verschiedenen Kollektiven und Institutionen durchgeführt und will das ganze Spektrum der Lebensmittelproduktionskette betrachten: vom Anbau bis zum Konsum.“ Der Favela-Komplex Penha liegt in einem Gebiet mit der höchsten Bevölkerungsdichte im Stadtgebiet, der kleinsten Grünfläche pro Einwohner und den niedrigsten Luftqualitätsindizes der Stadt – die viertschlechteste in der gesamten Metropolregion. In diesem Sinne bietet die Arbeit von CEM einen Kontrapunkt zu dem an, „was die gesellschaftliche Realität der Bevölkerung aufzwingen will“, sagen sie in ihrer Selbstdarstellung.

Mit anderen Worten: Hier, wo Menschen einerseits unter Favela-Bedingungen leben, die Natur andererseits ländliche Bedingungen bietet und gleichzeitig geschützt werden muss, versucht man, eine Autonomie und Souveränität der Bewohner:innen über städtische Landwirtschaft zu schaffen. Denn wenn die Alternative ist, im Glücksfall täglich Stunden durch die Stadt zu fahren, um bei den reichen Weißen zu putzen oder Wasserflaschen an der Ampel zu verkaufen, nur um abends etwas essen zu können, dann kann man genauso gut die Lebensmittelproduktion autonom organisieren und Überschüsse verkaufen.

Wir gehen vielleicht 45 Minuten umher, in denen uns Ana beiläufig Geschichten davon erzählt, wie man mit Klugheit und Kreativität einfache Antworten auf einen ganzen Haufen Probleme findet. Ein Beispiel: Viele Frauen sind hergekommen, die vor häuslicher Gewalt geflohen sind. Anstatt bei den Reichen putzen zu gehen, lernen sie hier von Ana, wie sie die Natur in der Stadt bewirtschaften können. Doch die Frauen müssen sich um ihre Kinder kümmern – die Schulen sind schlecht und in der Pandemie zum Teil geschlossen gewesen. Also organisieren Ana und ihr Mann auf ihrem Gelände zusätzlichen Schulunterricht. Unterdessen erhalten die Mütter Kurse in Agrarökologie. An der selbst organisierten Schule gibt es derzeit zwei Lehrerinnen: eine für die Schulnachhilfe, eine für Theater. Mit den jungen Leuten aus der Nachbarschaft soll außerdem ein Podcast entstehen, der über WhatsApp und an drei Orten in der Favela mit Lautsprechern übertragen werden soll. Das Leben im Stadtteil, Gesundheit und Kultur werden die Themen sein, da – wie Anna sagt – man hier „ansonsten nur von Unglück oder von Religion hört“.

Die Menschen in Terra Prometida produzieren in ihren eigenen Gärten Lebensmittel, Kräuter und ökologische Produkte. Diese werden selbst genutzt, getauscht und auf Märkten angeboten – zum Beispiel auf denen der medico-Partnerorganisation MST, der großen brasilianischen Bewegung der Landlosen, die Noam Chomsky Anfang des Jahrtausends einmal „die wichtigste und aufregendste Volksbewegung der Welt“ nannte. In ganz Brasilien gibt es unzählige Initiativen, die ähnliche Versuche wie der MST oder CEM unternehmen. Ihnen allen geht es um Ernährungssouveränität und um eine andere Form von Landwirtschaft, ob im urbanen Raum oder auf dem Land.

Hunger und Klimaschutz

Im Juni dieses Jahres meldete die Deutsche Presse Agentur anlässlich einer Studie des Brasilianischen Forschungsnetzwerks für Ernährungssicherheit (Rede PENSSAN) für den Zeitraum von November 2021 bis April 2022, dass sich durch mehr als zwei Jahre Corona-Pandemie die Ernährungssituation in Brasilien zugespitzt habe. „125,2 Millionen Brasilianer haben keinen vollständigen und dauerhaften Zugang zu Nahrung.“ 33,1 Millionen unter ihnen leiden demnach an Unterernährung, 19 Millionen mehr als noch im April 2021. Bei Wikipedia wird die brasilianische Landwirtschaft ganz anders beschrieben. Sie habe große Bedeutung nicht nur für das Land selbst, sondern auch für den Rest der Menschheit. „Theoretisch könnte Brasilien etwa eine Milliarde Menschen ernähren, weshalb es als Ernährer der Welt gilt.“

Lula hat die Hungerfrage innenpolitisch zur größten Herausforderung seiner Präsidentschaft erklärt, während er außenpolitisch – nicht zuletzt auf der Weltklimakonferenz – den Schutz des Amazonas zur Gretchenfrage machte. „Bolsonaro hat mit seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik die in der ersten Amtszeit von Lula geschaffenen Organisationen und Räte zur Bekämpfung des Hungers zerschlagen. Lula will jetzt die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit und Hunger erneut zur Chefsache machen. Während seiner letzten beiden Amtszeiten hatte er es tatsächlich geschafft, durch Sozialprogramme Hunger und Armut zu verringern. Doch aufgrund der neuen Mehrheitsverhältnisse – Bolsonaros Partei stellt beispielsweise die stärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus – ist es zweifelhaft, ob ihm das erneut gelingen kann“, sagt der Journalist und Brasilienkenner Niklas Franzen. In seiner Antrittsrede erklärte Lula, dass er unter Beweis stellen möchte, dass es möglich ist, Reichtum zu generieren, ohne die Umwelt zu zerstören.

Hunger und Ökologie

Man könnte meinen: Erst kommt das Fressen, dann die Ökologie? Der französische Philosoph Pierre Charbonnier macht dagegen in seinem viel beachteten Buch „Überfluss und Freiheit“ auf einen simplen Sachverhalt aufmerksam: In einer Zeit, in der Ökologie und Politik nicht länger zu trennen seien und dies auch in das Bewusstsein unserer Gesellschaften eingedrungen ist, müssen auch unsere Vorstellungen von Emanzipation neu formuliert werden. Damit verbunden sind für ihn auch Fragen der Autonomie und der Freiheit. Denn wenn aus der Einsicht in die Unhaltbarkeit unserer Lebensweise etwas anderes erwachsen soll als eine neue protestantische Ethik des Verzichts oder eine autoritäre Ökologie, dann stellt sich die Aufgabe, Freiheit, Autonomie und Emanzipation aus ihrer häufig untergründigen Verknüpfung mit dem technischen Fortschrittsoptimismus zu lösen und sie mit der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen zu harmonisieren. Sein theoretischer Imperativ lautet dann auch, die „Freiheit im Zeitalter der Klimakrise neu zu erfinden“.

Der Glaube an Fortschritt und Technik als Zauberformel für ein gutes Leben hat sich also als Irrtum und kurze Epoche der Geschichte erwiesen. Utopie heißt dann, dass sich ein lebenswertes Leben nicht über Konsumsteigerung und Güterverbrauch, sondern nur über neue Lebensformen denken lässt, die auch ein neues Verhältnis zur Natur entwickeln und erschließen müssen. Über diese Fragen wird hierzulande viel geredet, aber die Veränderung reduziert sich doch meist auf das Einkaufsverhalten und den Biomarkt. Die kleinen Projekte vom MST über CEM und die unzähligen anderen Initiativen hingegen können im Kleinen ein neues Paradigma vorleben, das auch Bedeutung für das große Ganze hat. Ihnen gelingt in Ansätzen, was viele, die endlos über die Klimakrise sprechen, nicht einmal denken können.

Es ist immer ein bisschen schwierig, Orte wie die Terra Prometida im Namen einer europäischen NGO zu besuchen. Denn natürlich gibt es ein Machtverhältnis durch die Tatsache, dass man potenzieller Geldgeber ist. Aber jetzt raten Sie mal, wie mein Tag zu Ende ging, als ich sagte, dass ich gerne noch bleiben würde, aber mein Flug leider in wenigen Stunden gehe? Eine Nachbarin, deren Familie wir vorher besuchten und in deren Garten man mir strahlend Kräuter und Früchte unter die Nase hielt, antwortete: „Du armer Junge musst zurück nach Frankfurt. Das tut mir leid für dich, aber du kannst immer herkommen!“ Besser kann man die Welt nicht auf den Kopf stellen.

Die brasilianische Landlosenbewegung MST – Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra – setzt sich seit nunmehr bereits 40 Jahren für die Rechte von landlosen Kleinbäuerinnen und -bauern und Landarbeiter:innen und deren Zugang zu Land ein. Sie und die städtische Bewegung der Obdachlosen (MTST) sind beide medico-Partnerinnen. Sie machen vor, was sich nun auch in der Arbeit in der Favela Penha wiederholt: Formen des alternativen Zusammenlebens mit einem ökologischen Denken zu verbinden und die Frage der sozialen Gerechtigkeit durch die Mobilisierung und Politisierung der ärmsten gesellschaftlichen Gruppen auf der politischen Tagesordnung zu halten.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 12. Dezember 2022

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit zu Südamerika und dem Libanon. Seit seiner Jugend ist er politischer Aktivist, hat lange für das Institut Solidarische Moderne (ISM) gearbeitet.

Twitter: @neumann_aktuell


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