Entwicklungsgläubigkeit

Brasiliens steiniger Weg zur Weltmacht

In Brasilien regiert die Entwicklungsgläubigkeit auf Kosten von Gesundheit, Umwelt und anderer öffentlicher Güter. Das lässt sich die Bevölkerung nicht länger gefallen.

Seit seiner Unabhängigkeit träumt Brasilien vom Aufstieg zur Weltmacht. Der Anspruch manifestiert sich in Großprojekten – von Brasilia, der aus dem Nichts der Halbwüste gestampften Hauptstadt, über die Wolkenkratzer in Rio de Janeiro bis zu den anhaltenden Urwaldrodungen als Projekten der Besiedlung und der Urbarmachung. Aktuell auf Platz sechs in der Weltrangliste der ökonomisch entwickelten Länder stehend, scheint diese Idee zum ersten Mal Wirklichkeit zu werden. Seit in Brasilien linke Präsidenten regieren, ist die Entwicklungsgläubigkeit, die sich über alle ökologischen und sozialen Bedenken hinwegsetzt, mit erfolgreichen Sozialprogrammen gepaart. Die Zahlen schwanken, aber bis zu 30 Millionen Menschen sind seit der Wahl des links-sozialdemokratischen Präsidenten Lula 2003 aus der extremen Armut aufgestiegen. Durch den gestiegenen Konsum sind viele feste Jobs entstanden. Und Programme wie „Strom für alle“ erreichen tatsächlich oft noch die hintersten Winkel des Landes. Es gibt also nicht nur willkürliche Karitas, sondern eine öffentliche Infrastruktur, die Rechte aller allen gewähren kann.

Trotz dieser Entwicklung hat medico international in den letzten Jahren seine Förderung lokaler Partner in Brasilien ausgebaut. Zusätzlich zu der Unterstützung der Bewegung der landlosen Bauern (MST) und der Ausbildung von Waiapi-Indianern im Amazonasgebiet zu Gesundheitspromotoren gibt es nun drei weitere Partner: Zum einen das Movimento Paulo Jackson (Bewegung Paulo Jackson, ein auf ungeklärte Weise umgekommener Umweltaktivist aus Caetité) aus Bahia, eine Gruppe von Umweltaktivisten, die sich gemeinsam mit der katholischen Gemeinde in der Kleinstadt Caetité gegen die massiven Umwelt- und Gesundheitsschäden durch die örtliche Uranmine zur Wehr setzen; zum zweiten PACS (Institut für politische Alternative in Südamerika), ein basisorientierter Thinktank von Sozialwissenschaftlern, die in dem marginalisierten Stadtteil Santa Cruz, rund 60 Kilometer vom Zentrum Rios entfernt, Anwohnerinitiativen unterstützen. Diese setzen sich gegen die umwelt- und gesundheitsschädlichen Folgen eines Stahlwerkes zur Wehr, das zu 80 Prozent dem deutschen Unternehmen ThyssenKrupp gehört. In beiden Fällen werden die Rechte der lokalen Bevölkerung und der Arbeiterinnen und Arbeiter in den jeweiligen Betrieben zugunsten privatwirtschaftlicher Interessen verletzt. Es handelt sich um exemplarische Konflikte über den Entwicklungsweg Brasiliens und damit über die Bedeutung der Menschen- und Bürgerrechte, also auch des Rechts auf Gesundheit.

Internationale Vernetzung für das Recht auf Gesundheit

Erst die Millionen-Demonstrationen im Juni 2013 in vielen Städten Brasiliens haben deutlich gemacht, dass das gesellschaftliche Dazugehören nicht nur in Konsum bestehen kann. Die Forderung nach Bildung und Gesundheit für alle war zentral. Das, was eigentlich allen gehört, sollte endlich auch wirklich allen gehören. Das war die Botschaft der Millionen. Der brasilianischen Gesundheitsbewegung, die sich in einer regelrechten Abwehrschlacht gegen die privaten Gesundheitsversicherungen befindet, welche auf Kosten des öffentlichen Sistema Universal de Saúde (SUS) gefördert werden, haben die Juni-Demonstrationen Aufschwung verschafft. Deshalb unterstützt medico als dritten neuen Partner die Gesundheitswissenschaftler des brasilianischen Zentrums zur Erforschung der Gesundheit (CEBES) dabei, ein Grundlagendokuments zur Situation der universellen Gesundheitsfürsorge in Brasilien zu erarbeiten. Die darin entwickelten Positionen sollen im Jahr der Fußballweltmeisterschaft 2014, wenn alle Welt auf Brasilien schaut, die Debatten der sozialen Bewegungen und den Wahlkampf beeinflussen.

Wenn die Annahme von medico stimmt, dass die Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit nur global durchgesetzt werden kann, sind solche Vernetzungen mit Partnern in Schwellenländern strategische Unternehmungen. Nicht ohne Grund könnte man Caetité und die Auseinandersetzungen um den Uranabbau als das Brokdorf Brasiliens bezeichnen. Hier wehrt sich eine abgelegene Kleinstadt – 800 Kilometer oder zwölf Fahrstunden von der nächsten Metropole Salvador da Bahia entfernt – gegen radioaktive Verseuchungsgefahr durch einen offen betriebenen Urantagebau. In Caetité begegnen sich immer wieder Antiatomkraftaktivisten aus Namibia, Frankreich und Kanada, um sich auszutauschen und Erkenntnisse über die tatsächlichen Gefahren zu sammeln. medico fördert diese Form einer systematischen Aufklärungsarbeit über mögliche Gesundheitsschäden.

Die Konstellation rund um das ThyssenKrupp-Stahlwerk in der Bucht von Rio ähnelt der in Caetité: Eine marginalisierte Gemeinde, die ursprünglich von der Fischerei lebte, wurde mit dem Versprechen, dass wertvolle Arbeitsplätze entstehen, ihrer Heimat und ihrer Gesundheit beraubt. Der Skandal zieht sich schon über Jahre hin. Die Umweltschäden des Stahlwerks waren und sind so immens, dass es mehrfach vorübergehend geschlossen wurde. Die brasilianische ThyssenKrupp-Tochter TKCSA hat für den umwelt- und gesundheitsschädlichen Fallout Strafen in Millionhöhe zahlen müssen. Hinzu kam, dass der Stahlmarkt zusammenbrach. Aus den kühnen und von McKinsey prognostizierten Gewinnerwartungen ist so auch für ThyssenKrupp ein Desaster geworden. Die deutsche Firma will das Stahlwerk nun so schnell wie möglich loswerden.

Aber was ist mit den Gesundheitsschäden der Bevölkerung und dem Arbeitsplatzverlust der Fischer? medico unterstützt die lokalen Partner von PACS bei der Erstellung eines Gesundheitsmappings, das die vielen Gesundheitsfragen, die im Rahmen des Stahlwerkes entstanden sind, auflistet. Hier geht es vor allem darum, bei einem Verkauf die Interessen der lokalen Bevölkerung zu sichern. Schon jetzt aber hat ihr Kampf gegen die umweltschädlichen Auswirkungen des Stahlwerks eines gezeigt: Doppelte Standards in Sachen Umwelt- und Gesundheitsrechte werden nicht einfach hingenommen. Wieder spielen der internationale Austausch und das Entstehen von transnationalen Öffentlichkeiten eine große Rolle. Sie können, so die Hoffnung, dazu beitragen, dass Menschenrechtsstandards überall gelten.

Veröffentlicht am 25. März 2014

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