Systemkrise in Brasilien

Der Hass der alten Mittelschicht

In Brasilien folgt zurzeit eine Protestaktion auf die Nächste. Mal wird gegen, mal wird für eine Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff demonstriert.

In Brasilien folgt zurzeit eine Protestaktion auf die Nächste. Mal demonstrieren die Befürworter_innen eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin Dilma Rousseff, mal die Gegner_innen des sogenannten Impeachment ("Anklage"). Gestern Abend versammelten sich einige zehntausend Menschen auf der Praça da Lapa in Rio de Janeiro, um zusammen mit Kulturschaffenden und dem früheren Präsident Luiz Inácio Lula zu demonstrieren. „Não vai ter golpe!“ – „Es wird keinen Putsch geben!“ lautet die Parole. 

Vorgeworfen wird Rousseff, den Regierungshaushalt manipuliert zu haben, indem sie Geld vorübergehend umgewidmet und erst später wieder seinem eigentlichen Zweck zugeführt hat. Eine scheinbar nicht unübliche Praxis. In diesem Fall scheint es der Rechten aber Ernst zu sein mit dem Versuch, die ungeliebte politische Gegnerin loszuwerden. Zwar lässt sich ihr selbst im milliardenschweren Korruptionsskandal um den früheren Staatskonzern Petrobras, der eine Zeit lang von ihr geführt worden war, nichts nachweisen. Trotzdem stimmte gestern eine Sonderkommission des Parlaments in Brasília für die Einleitung des Verfahrens gegen Dilma. Teile der Sonderkommission stecken wiederum bis über beide Ohren im Korruptionsskandal. Gegen Eduardo Cunha, Hüter des Impeachment-Verfahrens im brasilianischen Parlament, wurde in der Schweiz ein Verfahren wegen Geldwäsche und Bestechung eröffnet.

Die Isolation von Rousseff schreitet trotzdem voran. Vizepräsident Michael Temer verließ mit seiner PMDB nach 14 Jahren die Koalition mit der Arbeiterpartei. Temer scheint auf seine Einsetzung als Übergangspräsident zu hoffen. Sollte Dilma tatsächlich abgesetzt werden, könnte eine kommende Regierung schnell bei den Sozialausgaben kürzen, fürchtet Paulo Henrique, Mitglied des Direktoriums von medico-Partner CEBES, der für das universelle Recht auf Gesundheit streitet. Einschnitte beispielsweise bei der Bolsa Familia, einem Zuschuss zum Familieneinkommen der Ärmsten, würden sofort verheerende Auswirkungen haben.

Die Kosten für die Armutsbekämpfung sind zwar vergleichsweise gering, aber der Hass auf den Aufstieg der Armen ist größer. „Die alte, weiße Mittelschicht erträgt es nicht, dass die Kinder ihrer schwarzen Putzfrau auf die gleiche Schule gehen können“, sagt Graciela Rodriguez, Direktorin des Equit-Instituts für Geschlechter- und Wirtschaftsforschung. Umstandslos die Regierung verteidigen will aber kaum jemand. Pater Dário Bossi vom medico-Partner Justiça nos Trilhos, das für die Rechte der Menschen entlang der Transportstrecke von Eisenerz im nördlichen Bundessstaat Maranhão kämpft, nimmt zwar an den Demos gegen das Impeachment teil, kritisiert aber, dass die Arbeiterpartei sich von der Macht habe korrumpieren lassen. „Ein Reinigungsprozess täte ihr gut.“

Ob die Partei, die 2005 bereits in einen Bestechungsskandal verwickelt war, sich hätte anders entwickeln können, ist umstritten. Das politische System, das nach dem Ende der Diktatur eingeführt wurde sorgt dafür, dass zurzeit Koalitionen mit bis zu zehn Parteien gebildet werden müssen – die sich für ihre Einbindung in die Regierung bezahlen, das heißt bestechen lassen. „Die Koalitionen waren zwangsweise so breit, dass die Arbeiterpartei nie mit ihrem Programm regieren konnte“, sagt Paulo Henrique. Die Armut im Land konnte zwar deutlich reduziert werden, einen Wandel der politischen Kultur aber hat es weder unter Lula noch unter Dilma gegeben. Die Subventionen für die privaten Krankenversicherungen wurden nicht angetastet, die Landreform kam nicht voran und das Wirtschaftsmodell der Arbeiterpartei setzt auf den Export von Rohstoffen. Ökologie und die Rechte der indigenen und afrobrasilianischen Bevölkerung bleiben auf der Strecke. Selbstkritik? Fehlanzeige.

Selbst schuld oder nicht, beliebt ist die Partei nicht mehr. Mit Ex-Präsident Lula hat sie aber eine Führungsfigur, mit der sie noch immer Wahlen gewinnen könnte. Umfragen bescheinigen ihm jedenfalls gute Chancen, sollte er bei den 2018 anstehenden Präsidentschaftswahlen antreten. Wäre das ein Neuanfang? Kaum. Das politische Modell Brasiliens ist erschöpft und das Interesse, es zu verändern, ist gering. Ob die Unterstützungsaktionen für Dilma Rousseff zu einem Wandel der politischen Kultur beitragen können ist offen.

Moritz Krawinkel, Mitarbeiter der Öffentlichkeitsarbeit von medico, aus Rio de Janeiro. Er besucht auf seiner Reise medico-Projektpartner in Brasilien.

Veröffentlicht am 12. April 2016

Moritz Krawinkel

Moritz Krawinkel leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Außerdem ist der Soziologe in der Redaktion tätig und für die Öffentlichkeitsarbeit zu Zentralamerika und Mexiko zuständig.

Twitter: @mrtzkr


Jetzt spenden!