Unter einem Wasserfall aus Blumenranken spreche ich mit drei Frauen in einem Straßencafé. Sie sind Aktivist:innen und Teil der Antipressionskämpfe Nicaraguas – also ebenjenen Landes, das sich vom Sehnsuchtsort der internationalistischen Linken unter dem Regime des ehemaligen Revolutionärs Ortega in eine Diktatur verwandelt hat. Die Frauen erzählen mir von ihrer psychosozialen Arbeit mit politisch Verfolgten, Inhaftierten, Exilierten die medico seit vielen Jahren unterstützt. Und sie erzählenvon der Bedeutung einer besonderen Blume für die Widerstandsbewegung in Nicaragua: Aus Schutz vor Verfolgung müssen sie unerkannt bleiben und sind aus gegebenen Anlass alle margaritas, Gänseblümchen. In blau, in gelb und lila.
medico: In vielen Ländern führt der zunehmende Autoritarismus zu einer seltsamen Stimmung. Schon bevor es kracht, merken Menschen: "Da braut sich was zusammen." Das geht auch Leuten in Deutschland gerade so. Wenn ihr zurück blickt, gab es ein ähnliches Gefühl, als sich Nicaragua in Richtung Diktatur entwickelt hat?
Margarita Azul: Ich erinnere mich, dass es eine große Unzufriedenheit und Enttäuschung über die ehemalige Revolutionsbewegung der "Frente", also die Frente Sandinista de Liberación Nacional, gab. Es war offensichtlich, dass es bei den Wahlen Betrug gegeben hatte. Es war klar, dass eifrig an der Stillisierung Ortegas zumgrößten Revolutionsführers gearbeitet wurde.
Margarita Amarilla: Die Leute waren sehr skeptisch. Aber bevor Ortega 2007 die Wahlen wieder gewann, hatten wir eine neoliberale Regierung. Die hat viele Privatisierungen durchgesetzt, Reichtum zentralisiert und zur Vergrößerung sozialer Ungleichheit beigetragen. Gleichzeitig gab es bereits viel Kritik an der Frente. Es war also eine Wahl zwischen den "Schlechten" und den "weniger Schlechten". Deshalb entbehrt der Diskurs, es handle sich beim Eintritt in die Diktatur um einen Staatsstreich, jeder Grundlage. Vielmehr war es eine Transition.
Margarita Morada: Parallel gab es eine große Müdigkeit in der Bevölkerung. Niemand wollte mehr so richtig auf den Barrikaden sein. Wir haben oft den Kopf geschüttelt, weil es schien, dass die jungen Leute apathisch seien, nichts von der Politik wissen und vor allem arbeiten wollten. Dass 2018 die Proteste gegen die korrupte Ortega-Regierung und deren Rentenreform dann gerade von jungen Menschen getragen wurden, war es eine große Überraschung. Die Empörung über das Massaker an den jungen Protestierenden versetzte das ganze Land in Aufruhr.
Auch die Gründung eures Kollektivs geht auf die Proteste 2018 zurück. Was war für euch ausschlaggebend?
Margarita Morada: Im Frühjahr 2018 besetzten Studierende in Managua ihren Campus. Sie wurden von der nationalen Polizei und paramilitärischen Gangs mit brutaler Gewalt verfolgt, viele wurden verletzt, manche sogar mit Scharfschützengewehren erschossen. Das löste eine Welle des Protests aus, die das ganze Land erfasste: die Bauer:innenverbände, die Unternehmer:innen, die Feminist:innen, die katholische Kirche; es kamen wirklich alle zusammen, die für Demokratie und gegen die Diktatur waren. Nicaragua ist wirklich ein kleines Land; wir waren alle miteinander verbunden und kannten uns um ein paar Ecken. Gleichzeitig versuchte das Regime, den wachsenden Protest mit brutaler Repression niederzuschlagen. Letztlich wurden über 320 Menschen getötet.
Für uns war klar, dass wir in einer solchen Situation nicht unbeteiligt an der Seite stehen können. In Nicaragua setzt sich unsere Generation mehrheitlich aus Töchtern und Enkelinnen von Menschen zusammen, die schon damals gegen die Somoza-Diktatur Widerstand geleistet haben. Dieses Erbe wurde in gewisser Weise reaktiviert.
Margarita Azul: Wir sind ein Netzwerk von psychosozialen Arbeiter:innen und wir sind alle politische Subjekte. Also haben wir uns gefragt, was wir aus dieser Perspektive beitragen können. Daraus ist die Arbeit mit von der Repression betroffenen Menschen und die psychosoziale Begleitung von deren Familien entstanden – alles im Verborgenen. Für uns war das ein Akt der Solidarität und des politischen Widerstands. Das Ziel der Diktatur ist es, dich zu brechen, dich von ihr abhängig zu machen. Wir kennen das in Nicaragua von der vorherigen Diktatur. Die Repression soll dich kaputt machen. Unsere psychosoziale Unterstützung zielt deswegen darauf ab, dass dies nicht gelingt. Wir arbeiten dabei mit der Kraft, die die Menschen selbst schon mitbringen. So hat es angefangen. Und so machen wir weiter.
Hat euch das psychosoziale Wissen aus den früheren revolutionären Bewegungen geholfen?
Margarita Amarilla: Uns muss klar sein, dass die Diktatur uns vernichten will – als Bewegung, als Dissidente und als Menschen. Es geht um Kontrolle und absoluten Gehorsam. Wir aber sind nicht bequem. Bestärkt fühlen wir uns in der Aufrechterhaltung des Widerstands durch die Erzählungen älterer Genoss:innen aus der Zeit des bewaffneten Widerstands der 1970er und 80er Jahre. Natürlich handelt es sich um unterschiedliche Kontexte. Damals war vor allem die politische Überzeugung im Kampf für eine befreite Gesellschaftstärker als alles andere. Das Wissen darum hat uns in Momenten geholfen, in denen uns sonst die Angst gelähmt hätte. Auch wenn wir Angst haben, treiben uns Wut, Empörung und Überzeugung an.
Margarita Morada: Wir sind eine Bevölkerung, die immer für die eigene Autonomie gekämpft hat. Dieses Mal aber ist niemand bewaffnet. Der Kampf für Demokratie und Freiheit ist deshalb langsamer. Gleichzeitig werden kritische Lehren aus der Zeit des bewaffneten Kampfes gezogen. Die Tradition des "Caudilismo", die Verherrlichungen einer Führungsfigur, wird als Konstruktion des Machterhalts sichtbar. In Nicaragua hat das ja fast etwas von einer Dialektik: Die verlängerte Geschichte des bewaffneten Kampfes hat uns gelehrt, weder die Führer noch die Ermordeten zu verherrlichen. Es entstanden ganze Mythen um die Personen, die ihr Leben für die Revolution gaben. Das wollen wir nicht wiederholen.
Was wollt ihr ändern?
Margarita Morada: Aus unseren Gesprächen wurde schnell klar, dass wir weiter gemeinsam jede:r für jede:n kämpfen wollen. Aber dieses Mal, ohne uns zu opfern. Denn dein Leben ist das nicht wert. In der sandinistischen Revolution war der Schrei “¡Patria libre o morir!” (dt.: „Freies Land oder Sterben“) der zentrale Schlachtruf. Jetzt rufen wir "¡Patria libre y vivir!" ("Freies Land und Leben!") Soll heißen: "Dein Leben ist wertvoll und tot wirst du nichts erreichen. Lasst uns das anders machen, in dem wir nicht das eigene Leben aufs Spiel setzen." Vor diesem Hintergrund sehen wir eine Notwendigkeit, die Widerstandsformen und -methoden zu verändern. Wir ignorieren unsere Verletzlichkeit nicht, wir sind nicht allein und lassen niemand alleine, sondern kümmern uns um unsere sozialen Beziehungen und Netzwerke.
Ist nicht gerade die Gefahr, dass diese sozialen Gefüge zerrissen werden größer, je stärker die Repression ist?
Margarita Azul: Bewegungen zu spalten, ist ein gezielter Angriff, der zu oft gelingt. In unserem eigenen Netzwerk ist es gelungen, uns dieser Logik zu entziehen und uns nicht klein machen zu lassen. Als Teil der feministischen Bewegung sind wir füreinander da und unterstützen uns. Wenn sie eine Person angreifen, dann greifen sie wirklich alle an. Und diese Empörung wiederum gibt uns Kraft.
Margarita Amarilla: Ich kenne kaum jemanden, der nicht außer sich gewesen ist über den Tod von Álvaro Conrado, einem 15-jährigen Jungen, den Paramilitärs am 20. April 2018 erschossen, weil er Wasser an die Protestierenden verteilte. Oder der Tag, an dem sie die Studierenden töteten, die sich in eine Kirche geflüchtet hatten. Die hatten nicht einmal Steine, um sich zu verteidigen. Es gibt so viel mehr Fälle. Am Gedenkmarsch der Mütter für die Getöteten beteiligten sich dann Hunderttausende. Und selbst an diesem Tag haben sie Mütter ermordet und Studierende getötet. Ich weiß wirklich nicht, wer da noch an sich halten konnte. Die Gewalt hat uns nicht gelähmt, im Gegenteil, wir haben uns gegen sie organisiert.
Habt ihr denn gar keine Angst?
Margarita Amarilla: Natürlich haben wir alle Angst. Die größte Angst aber ist die, was sie deiner Familie, deinen Freund:innen antun können. Denn auf die Massenproteste folgten die massiven Inhaftierungen, die Exilwellen, die Überwachung und die Flucht ins Exil. Die Repression ist darauf ausgelegt, die Bevölkerung zu terrorisieren. Denn auf die Massenproteste folgten Überwachung, massive Inhaftierungen, Fluchtbewegungen. Es sind sehr gezielte Maßnahmen, um Angst zu schüren, Panik zu erzeugen. Und sie haben Erfolg, und das ist das Schlimmste. Offener Widerstand ist in Nicaragua deswegen gerade quasi unmöglich. Eine compañera sagte letztens, "wir sollten keine leeren Floskeln nutzen, wie ‘wir müssen Hoffnung haben’." Stattdessen müssen wir an der Hoffnung arbeiten; die entsteht nicht aus dem nichts, sondern daraus, dass es ihnen nicht gelingt, unsere sozialen Netzwerke zu zerschlagen. Wir geben die Wette auf die Möglichkeit von Veränderung nicht auf.
Margarita Azul: Die Repression hat tiefsitzende Ängste aus den 1980er Jahren geweckt. Die Schüsse auf Demonstrant:innen haben bei einigen Menschen das Gefühl des Krieges zurückgeholt und sie begannen, am ganzen Körper zu zittern. Uns hat das betroffen gemacht, als die Leute uns von den Bildern zerstörter Körper erzählten, die sie noch aus der Zeit des bewaffneten Kampfes kannten. Auch deswegen ist unsere psychosoziale Arbeit so wichtig.
Wie seid ihr damit umgegangen?
Margarita Azul: Wir haben in Gesprächen versucht zu verdeutlichen, dass die Gefühle, die die Menschen haben, normal sind. Denn was wir in Nicaragua haben, ist staatliche Gewalt, staatlicher Terrorismus. Nicht die Reaktionen der Leute sind „abnormal“, sondern der Kontext, der sie auslöst. All diese Unterdrückung, all diese Gewalt. Ein Mann erzählte mir von seinem Leben im Exil und von den psychotischen Ausbrüchen seines Partners, weil der Stress, den er in Nicaragua erlitten hat, zu groß ist. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das leider eine häufige Reaktion ist und sind überrascht, dass nicht mehr Menschen in psychiatrischer Behandlung sind.
Gelingt es euch auch, die vielen Menschen im Exil mit ihren Traumata zu begleiten?
Margarita Amarilla: Wir sehen bei den Menschen, die wir begleiten, wie tief die Trauer um das eigene Land ist. Vor 2018 reisten nur sehr wenige Menschen überhaupt ins Ausland. Nach 2018 hat sich das dramatisch geändert, fast 12 Prozent der Bevölkerung haben das Land verlassen. Für viele ist es sehr schwierig, zu akzeptieren, dass sie im Exil leben. Die erste Reaktion ist: Das wird nur vorübergehend sein. Es fällt ihnen schwer, zu akzeptieren, nicht nach Nicaragua zurückkehren zu können. Mit ihnen arbeiten wir an beidem, der erlebten Traumatisierung und der Trauer um den Verlust ihres Zuhauses. Wir nennen das "el duelo del país".
Was ist eure Antwort darauf?
Margarita Morada: Es gibt keine gute Antwort darauf außer, mit dem Verlust leben zu lernen – und die Verbindungen aufrecht zu erhalten. In den Begleitungen spielt es eine große Rolle, dass wir Aktivist:innen den gleichen Hintergrund und damit auch ähnliche Erfahrungen haben. In Nicaragua passieren Dinge, die so unwirklich sind, dass man nicht einmal glauben kann, dass sie passiert sind. In der psychosozialen Begleitung schätzen die Leute oft, dass sie sich nicht erklären müssen.
Dass muss auch sehr intensiv sein für euch.
Margarita Azul: Ja, natürlich. Das Gute ist, dass wir den Schmerz und die Geschichten teilen. Das Kollektiv ermöglicht es uns, Pausen zu machen, innezuhalten und dann weiterzuarbeiten. Wenn man von Repression und Stress überwältigt ist, kann man schonmal verzweifeln. Als wir anfingen mit der psychosozialen Begleitung, waren wir so wütend, dass wir nicht mehr ausgingen. Weder um Geburtstage zu feiern, noch um irgendetwas anderes Schönes zu unternehmen. "Weil es nichts zu feiern gibt!" Aber es ist gefährlich, so einen Zustand zu normalisieren. Wir haben uns gesagt: „Um weiterzumachem, müssen wir uns treffen. Wir müssen lachen, feiern und auf eine andere Art und Weise leben, gerade um weiter machen zu können.
Margarita Morada: Mit anderen Worten, wir haben uns den Raum gegeben, um zu atmen und uns neu zu erfinden, in Nicaragua und außerhalb Nicaraguas. Was wir wollen, ist eine Veränderung für die nächsten Generationen. Wir wollen, dass sie in einer besseren Gesellschaft leben, auch wenn das im Moment noch in weiter Ferne scheint. Wir haben viel gelernt. Auf eine sehr harte Art und Weise. Vor allem haben wir gelernt, dass wir keine Held:innen mehr wollen. Sondern wir wollen mehr margaritas.
Mehr Gänseblümchen?
Margarita Morada: Wir wollen, dass Nicaragua blüht. Und dass die Gänseblümchen, wie ein Blumenteppich wachsen, der die Grenzzäune zwischen Exil und Nicaragua überwuchert und sich gegenseitig festhält. Die Gänseblümchen sind mächtig. Im Jahr 2021 wurden mehrere sehr wichtige Oppositionelle inhaftiert. Unter ihnen auch die Menschenrechtsaktivistin und Politikerin Ana Margarita Vijil. Nach ihrer Verhaftung wussten wir nichts mehr über ihren Aufenthaltsort. Um ein Lebenszeichen von Margarita zu fordern, haben wir alle ein Foto oder eine Zeichnung der Blüte eines Gänseblümchens in den sozialen Netzwerken und an öffentlichen Plätzen veröffentlicht.
Margarita Amarilla: Das war ein Zeichen der Solidarität mit Margaritas Familie. Natürlich hat Ana Margarita eine ganz besondere Biografie. Aber Margarita hätte auch jede von uns sein können. Margarita war und ist eine Frau, die wie viele Frauen in Nicaragua Kritik geäußert und Widerstand geleistet hat gegen die Diktatur. Wir waren alle Margarita. Wir sind alle Margaritas.
Das Interview führte Julia Manek.
Gemeinsam mit Partnerorganisationen in Mexiko, Guatemala und Nicaragua baut medico seit zwei Jahren ein transnationales Netzwerk zur psychosozialen Begleitung von Exilierten und intern Vertriebenen auf. Kern des Projektes ist es, Menschen im Exil und intern Vertriebene zu stärken, damit sie weiter Teil politischer Kämpfe bleiben können. Nicht nur in Lateinamerika: Überall auf der Welt machen die Kämpfe von medico-Partner:innen im psychosozialen Bereich deutlich, wie wichtig es gerade unter politischem Druck ist, Räume offen zu halten, in denen auch Dissens besprechbar bleibt und das gegenseitige Vertrauen zu stärken. Nicht zuletzt für einen gemeinsamen, politischen Umgang mit individuell erscheinenden emotionalen Belastungen.