Psychosoziale Arbeit in Nicaragua

Eine alte Geschichte

Nachdem die sozialen Proteste brutal niedergeschlagen wurden, verschärft das Ortega-Regime die Unterdrückung noch. In diesen bleiernen Zeiten verfolgt Martha Cabrera einen politischen psychosozialen Ansatz.

Als in Nicaragua im April 2018 blutjunge Leute mit einer überraschend neuen politischen Kultur Massendemonstrationen organisierten, schien die Saat aufgegangen zu sein; eine Saat, die Leute wie Martha Cabrera in den Jahren der Agonie nach dem Ende der sandinistischen Revolution 1990 ausgesät hatten. Die Psychologin, die ihr Gegenüber mit Energie, guter Laune und einem warmen dunklen Timbre in der Stimme in den Bann zieht, hatte sich von der Enttäuschung über die gescheiterte Revolution, das Ereignis ihrer jungen Jahre, nicht überwältigen lassen.

Heute findet Martha Cabrera die Idee der Emanzipation im autonomen Subjekt, das sich in Verbindung mit anderen setzt. Daraus entstanden ist eine Beschäftigung mit den psychosozialen Folgen verschiedener politischer und persönlicher Erfahrungen, die in der postrevolutionären Zeit zu einem Stillstand sozialer Bewegung geführt hat. Ein von medico gefördertes „psychosoziales Fortbildungsprogramm zur sozialen Transformation“, das Martha Cabrera Anfang der 2000er-Jahre mit Kolleg:innen durchführte, sollte der Frage nachgehen, warum all die postrevolutionären NGO-Projekte von Gendergerechtigkeit über Ökolandbau so wenig Spuren des Aufbruchs hinterließen. Ergebnis war, dass die Programme von den vielen Verbindungen aus kollektiven und individuellen traumatischen Erfahrungen ausgehen müssten, um andere Formen der politischen Organisation zu ermöglichen. In einem psychosozialen medico-Report veröffentlichte Martha damals den Text „Nicaragua ist ein Land aus vielen Schmerzen“. Als ich 2018 Nicaragua besuchte und viele Gespräche mit jungen und alten Beteiligten der Protestaktionen gegen das immer autoritärer auftretende Regime des Sandinisten Ortega führte, fielen Begriffe wie „toxische Männlichkeit“. Die Erkenntnis über die patriarchalen Strukturen der Revolution und der einstigen Revolutionäre gehörte zum nachdenklichen Gepäck dieser Jungen, die oft selbst aus sandinistischen Familien stammten.

Die Aufstandsbewegung der jüngsten Zeit ist an der Repression der Ortega-Regierung zerschellt. Für ein Land mit 6,5 Millionen Einwohner:innen sind die Zahlen, mit denen die Sandinisten für Friedhofsruhe sorgten, erschreckend: 325 Menschen kamen ums Leben, 100.000 flohen ins Exil; zumeist nach Costa Rica, zeitweise saßen Hunderte junger Leute im Gefängnis. Die Angst ist allgegenwärtig. Nun gilt es erneut, aus diesen Erfahrungen zu lernen und wieder erweist sich der politische psychosoziale Ansatz als hilfreich: Heute, so Martha, sei die sandinistische Revolution verblasst. Die jungen Leute seien vernetzt in den lateinamerikanischen Bewegungen, in denen der Feminismus eine tragende Rolle spiele. Das „Psychosoziale Netz“ organisiert die Verständigungsräume, in denen darüber Debatten stattfinden. Sie sind eine Form des Überwinterns bis zum nächsten politischen Frühling.

Katja Maurer

Veröffentlicht am 12. Mai 2021

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