Seit dem 7. Oktober 2023 ringen wir bei medico um eine Sprache, die den Ereignissen in und um Gaza mit Empathie und Menschlichkeit, aber auch mit der ihnen entsprechenden Sachlichkeit begegnet. Wir waren dabei stets getragen von der Möglichkeit, mit den richtigen Worten und der angemessenen Intervention ein Handeln der Regierenden erzwingen zu können. Doch nicht nur uns ist dies nicht gelungen.
Seit beinahe zwei Jahren sind wir nun Augenzeugen von Verbrechen gegen die Menschheit, die die israelische Politik und Armee begehen. Die Gräueltaten des 7. Oktobers sind angesichts ihres Ausmaßes schon lange keine glaubwürdige Ursache mehr für das Geschehen. Und je länger dieser live übertragene Genozid anhält und vor unseren Augen stattfindet, umso mehr werden wir ungewollt zu seinen Kompliz:innen. Ein Gewöhnungsprozess tritt ein, der nicht auf Gaza beschränkt bleiben wird. Denn Gaza ist ein Menetekel, ein Vorgriff auf eine Zukunft der Mitleidlosigkeit, die eine neue Qualität erreicht: Das Leid von Millionen Menschen kann nicht nur ignoriert, sondern eine schon lange als überschüssig definierte Bevölkerung ausgehungert und mithilfe von KI, Drohnen und Robotern ausgelöscht werden. Während die Welt dabei seit mehr als zwei Jahren zusieht.
Was entfaltet sich hier vor unseren Augen? Bei medico sprechen wir schon seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine von einem Kriegsregime, das sich weltweit, in Europa und in Deutschland entfaltet. Gemeint ist damit die Militarisierung der Politik und der Ökonomie. Ein Denken in Schwarz und Weiß, die Aufteilung der Welt in Gut und Böse. Das Kriegsregime wiederholt nicht nur die Alternativlosigkeit, die uns schon in den letzten 30 Jahren immer wieder gepredigt wurde, sondern militarisiert sie noch. Eben das hat die israelische Gesellschaft in endlose, schließlich genozidale Kriegshandlungen verwickelt, die einzig auf dem Prinzip der Macht und des Rechts des Stärkeren basieren.
In der Bundesrepublik gesellt sich die Tatsache hinzu, dass das Bekenntnis zur eigenen Gewaltgeschichte als Voraussetzung für ein offenes, dem Nationalismus endgültig abschwörendes und damit einwanderungsfreundliches Deutschland zur Ressentiment-Produktion gegen Zugewanderte verkommen ist. Die Westbindung, die Freiheit und Demokratie versprach, steht heute für die Remilitarisierung Deutschlands. Die angebliche Verteidigung liberaler Demokratie wird selbst illiberal, Dissens wird mit autoritären Mitteln begegnet. Das Völker- und Menschenrecht, das aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs, der Entkolonisierung und als Lehre von Auschwitz entstand, wird einer Staatsräson geopfert, die jede wirksame Einhegung der israelischen Politik, etwa durch gemeinsame europäische Maßnahmen, verunmöglicht. In der Folge gab es keinen gemeinsamen massenmedialen Raum, in dem über Gaza ernsthaft und frei gesprochen und Positionen ausgehandelt werden können.
Dies hat unabsehbare Folgen für die deutsche Gesellschaft. Gerade migrantisch geprägte Menschen werden mit polizeilichen und anderen staatlichen Mitteln massiv unter Druck gesetzt, auch wenn sie schlicht auf das Völkerrecht pochen. Im zehnten Jahr des Sommers der Migration werden hierzulande andere Weltzugänge und Erinnerungskulturen, die nicht nur gesamtgesellschaftlich als Bereicherung wahrgenommen werden sollten, sondern auch den Weg in eine zeitgemäße Multidirektionalität der Erinnerungskultur ebnen könnten, abgetan, verboten, verächtlich gemacht, statt diese als potenzielle Horizonterweiterung zu sehen. Dabei könnte dies eben dazu führen, den Weltzugang über die Erinnerung an Faschismus und Shoah einerseits und über die Kolonialerfahrungen andererseits nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zusammenzudenken. Dass dies vehement abgelehnt wird, führt wiederum zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung und zu einer Entfremdung vieler Migrant:innen. Der entstandene Schaden wird uns noch Jahre beschäftigen.
Radikale Zeugenschaft
Wie Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ stehen wir machtlos und ohnmächtig vor der sich vor unseren Augen entfaltenden Geschichte. Wir erkennen das Elend, können aber nicht entscheidend eingreifen. In diesen Zeiten müssen wir uns fragen, was wir tun können, um dennoch nicht in Komplizenschaft zu geraten. Fertige Antworten haben wir alle miteinander nicht. Ein Ausgangspunkt könnte sein, der aufscheinenden Welt jenseits unserer gewohnten Wege zu begegnen, auf eine Art, die ich radikale Zeugenschaft nennen möchte. Dazu gehört zunächst, sich von der realexistierenden Machtlosigkeit nicht beugen zu lassen. Statt uns ohnmächtig abzuwenden, sollten wir genau hinschauen und Zeugenschaft ablegen.
Gibt es keine geeigneten herkömmlichen Orte, um Zeugenschaft abzulegen, etwa weil ein Gros der Medien der restriktiven Regierungspolitik nachäfft, so müssen neue Wege beschritten werden. Auch aus dieser Überlegung hat medico zusammen mit Partnern zu einer großen solidarischen Massenkundgebung in Berlin aufgerufen. Kein Akt aus medicos gewöhnlichem Repertoire. Doch wenn andere Orte, etwa staatlich getragene bzw. (mit)finanzierte – und das sind fast alle öffentlichen Räume hierzulande –, mitunter sogar rechtswidrig ihre Tore schließen, so müssen wir andere Orte hierfür finden, jenseits der Staatsräson.
Die Wahrnehmung der Verbrechen in Gaza ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Autoritarismus. Dabei geht es nicht nur um den rechtsradikalen Autoritarismus, sondern auch um das autoritäre konservative Milieu und einer nach rechts rückenden Mitte, die bei der Verteidigung ihrer Privilegien nicht gestört werden will. Diese Verzahnung ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und die Idee einer anderen, möglichen Welt nicht aufzugeben, bleiben wichtig. Die einer Welt, in der alle Menschen das Recht auf Rechte haben und nicht abhängig sind von der Gnade von Herrschenden, die, gewählt oder nicht, das alte allmächtige Recht der Fürsten zur allgemeinen Geltung bringen möchten. Waren etwa das Recht auf Gesundheit und damit auf Leben seit jeher kaum zu realisieren, aber doch einforderbar, so sind sie in der Welt von Trump, des enorm einflussreichen deutschstämmigen Milliardärs Peter Thiel, aber auch der Präsidenten Xi und Putin, die neulich in Shanghai lieber als das Thema „Gesundheit für alle“ die technischen Möglichkeiten lebensverlängernder Maßnahmen für Männer ihres Alters diskutierten, nicht einmal diskursiv möglich. Damit wird das Bestehen auf das Recht auf angemessene Gesundheitsversorgung – in Gaza, aber auch jenseits dieses schmalen Streifens – zum Akt des Widerstands.
Die Verbundenheit mit der Welt und der Welt in uns
Das Grauen in Gaza ist keine interne deutsche Angelegenheit, auch wenn es manchen so vorzukommen scheint. Die himmelschreiende Diskrepanz zwischen der Art, wie hierzulande und wie anderswo – etwa in großen Teilen des globalen Südens – darüber berichtet und gedacht wird, muss permanenter Anlass sein, darüber nachzudenken, wie sich die Bundesrepublik zur Welt verhält. Gerade im globalen Süden wird Gaza zum Gradmesser dafür, wie es um die Ernsthaftigkeit des Westens steht, mit seinem kolonialen Erbe zu verfahren. Diesem Menschheitsverbrechen, der Schatten der Aufklärung, ist keine historische Gerechtigkeit widerfahren. Der Umgang mit Gaza wird also die künftigen Beziehungen Deutschlands, Europas und des wie auch immer definierten Westens mit dem Rest der Welt zentral prägen. Ob wir im Sinne einer Reparatur der Geschichte agieren und wie wir mit der Welt interagieren, wird also auch in der Politik und auch im Sprechen über Gaza entschieden. Von hier aus gesehen gibt es vielleicht nur einen vernünftigen Ausweg, der sich als Lehre aus der verbrecherischen Vergangenheit Deutschlands in Europa und im globalen Süden ziehen lässt: Nie wieder gilt für alle.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 03/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!