Die Nakba – die Massenvertreibungen der Palästinenser:innen in den Jahren 1947 bis 1948 – bedeutete die Zerstörung einer gesamten Gesellschaft. Im Zuge der Gründung des israelischen Staates wurden mindestens 750.000 Palästinenser:innen vertrieben – mehr als drei Viertel der palästinensischen Bevölkerung auf dem Gebiet, auf dem Israel 1948 entstand. Diese Erfahrung wiederholte sich 1967, als im Zuge der israelischen Besatzung des Gazastreifens, des Westjordanlandes und Ostjerusalems – also derjenigen Gebiete, die 1948 nicht erobert worden waren – weitere ca. 300.000 Palästinenser:innen vertrieben wurden. Seitdem setzt sich die Vertreibung in unterschiedlichen Formen fort: durch administrative Maßnahmen, Landenteignung und den systematischen Entzug von Lebensgrundlagen. Die Nakba ist daher kein abgeschlossenes historisches Ereignis, sondern ein bis heute andauernder Prozess systematischer Vertreibung.
In Deutschland lebt die größte palästinensische Diaspora Europas. Dennoch, und obwohl der Holocaust und die Nakba eng miteinander verwoben sind und die Nakba u.a. eine Folge des Holocaust ist, wird sie aus dem kollektiven Gedächtnis Deutschlands ausgeklammert. Der Bezug zur deutschen Geschichte wird immer nur einseitig hergestellt, in der Darstellung Israels als sicherer Hafen für Jüdinnen und Juden. Die systematische Vertreibung und Enteignung der Palästinenser:innen wird nicht mit dem Selbstverständnis Israels als jüdischem Staat verknüpft. Darüber hinaus wird die palästinensische Gewalterfahrung tabuisiert; wenn sie sichtbar wird, wird sie als etwas Bedrohliches gespiegelt, als etwas, das mit dem Holocaust konkurriert und die deutsche Erinnerungskultur kontaminiert. Die Darstellung des Holocaust und der Nakba als antagonistisch verhindert, beides als Teile eines historischen Prozesses und die israelische Staatsgewalt gegen Palästinenser:innen als Fortsetzung des europäischen Antisemitismus zu sehen. Deutschland wiederum kann sich so der Auseinandersetzung mit der Gegenwart seiner Geschichte entziehen und sich als moralisch rehabilitierte Nation positionieren.
Die palästinensische Erfahrung israelischer siedlerkolonialer Gewalt ist so unangenehm nahe der jüdischen Erfahrung nationalsozialistischer Gewalt in Europa, dass man zuweilen nicht einmal das Wort Palästina aussprechen kann. Diese Nähe der jüdischen und der palästinensischen Erfahrung von Gewalt führt dazu, dass palästinensische Sichtbarkeit peinlich berührt, weshalb Palästinensischsein bedrohlich wirkt und abwesend gemacht werden soll. Das Tabu israelischer Staatsgewalt ist so wirkmächtig, dass Palästinensischsein per se zu etwas sozial Verworfenem wird.
Das soziale Tabu um ihre Identität und Gewalterfahrung hat für Palästinenser:innen in Deutschland diese Gewalt wiederholt und vertieft und zu einer traumatischen Erfahrung gemacht. Es hat zu Melancholie, Gefühlen der Unsichtbarkeit, Nichtigkeit, Schuld und Scham im Inneren und Selbstverneinung im Äußeren geführt, kurz gesagt, zu einer traumatischen Existenz.
Eine Palästinenserin der zweiten Generation erinnerte sich daran, wie sie als Studentin immer für eine Jüdin gehalten wurde, weil sie so „frei“ gewesen sei. Sie hatte die Menschen in diesem Glauben gelassen, weil es angenehmer gewesen sei, jüdisch zu sein. Die jüdische Erfahrung sei so ähnlich der palästinensischen, aber eben nicht tabu. Sie habe sich eine «total künstliche Identität aufgebaut, in die sie ihren ganzen Schmerz habe stecken können». Die Tabuisierung war selbst eine Form von Gewalt, die sie zu etwas zwang, was sie selbst als Ersatzhandlung bezeichnete: Um den Schmerz über die mehrfache Vertreibung in ihrer Familiengeschichte mit ihrer Umgebung teilen zu können, schlüpfte sie in die Identität, verbarg sie ihren Schmerz im Schmerz des jüdischen Anderen. Um Anerkennung als Mensch zu erfahren, wiederholte sie eine Form von Gewalt an sich selbst, die sie gesellschaftlich wiederholt erfährt: die Überschreibung ihrer palästinensischen Erfahrung mit der jüdischen Erfahrung in Europa.
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Sobald israelische Staatsgewalt sichtbar wird, wird sie moralisch gerechtfertigt, indem Palästinenser:innen in einer Täter-Opfer-Umkehr als moralisch Abweichende markiert werden: in immer neuen Variationen als Terrorist:innen, islamistische Extremist:innen oder Antisemit:innen werden sie Israel als Teil der ‘christlich-jüdischen’ Wertegemeinschaft gegenübergestellt. Infolgedessen erscheint die Gewalt gegen Palästinenser:innen als gerechtfertigt. Viele, besonders der ersten Migrationsgeneration, haben dies verinnerlicht. Sie empfanden die erlebte Gewalt als etwas Schambehaftetes und Selbstverschuldetes und wurden dadurch ihrer eigenen Gewalterfahrung beraubt.
Die ihnen zugeschriebene Bedeutungslosigkeit führte zu Angst vor Sichtbarkeit und davor, eigene Wut oder Trauer zu empfinden oder ihr Ausdruck zu verleihen. Sie prägte auch die Beziehung zu ihren Kindern: Die elterliche Melancholie schrieb sich als emotionale Abwesenheit in das Verhältnis ein und beeinflusste maßgeblich, wie traumatische Erfahrungen weitergegeben wurden. Häufig kam es zu einer Umkehrung der sozialen Rollen, und viele Kinder entwickelten den Wunsch, mit dem Trauma ihrer Eltern zu verschmelzen und ihnen stellvertretend soziale Anerkennung zu verschaffen.
Ich zitiere aus einem Gespräch mit einer jungen Frau, die damit haderte, dass sie die Geschichte der Vertreibung ihres Vaters zu seinen Lebzeiten nicht aufzeichnen konnte. In ihrem Bericht vermischen sich ihre eigenen Empfindungen mit denen ihres Vaters:
„Ich habe irgendwie immer befürchtet, dass es irgendwann zu spät sein wird. Jetzt haben wir nur noch Geschichten, und natürlich habe ich Erinnerungen daran, aber ich habe einfach Angst, dass sie im Laufe der Zeit zu Erinnerungen an Erinnerungen werden und man nicht mehr weiß, was wirklich gesagt wurde, und ich weiß nicht, ob ich mir das verzeihen kann. Und jetzt ist er weg und hat alle Geschichten mitgenommen, und ich habe ihm gesagt, als er starb, jetzt haben wir unser Buch nicht mehr, jetzt haben wir unseren Film nicht gemacht, natürlich ist es immer so, dass, wenn man etwas selbst erlebt, es am meisten in der eigenen Haut schmerzt, ich will mir nicht anmaßen zu sagen, dass ich genauso gelitten habe wie er, [...] aber es war irgendwie nicht so trennbar. [...] es betrifft mich genauso sehr, manchmal fühlte ich, als ob ich den Schmerz eins zu eins spürte. [...] [...] wie der Schmerz in seiner reinsten Form [...] Wie das Kind, kaum zehn Jahre alt, seine Murmeln zurücklassen muss.
„Komm, schnell, wir gehen jetzt. Wir kommen in zwei Wochen zurück.“ Doch diese zwei Wochen – sie sind bis heute nicht vergangen..”
Viele Akteure – sowohl der ersten als auch der zweiten Generation – begannen, ihre Identität im öffentlichen Raum zu verneinen oder zu verbergen, um den Schmerz zu vermeiden, sozial stigmatisiert zu werden, statt als Menschen Anerkennung zu erfahren. Ein Gespräch mit einer Palästinenserin der zweiten Generation zeigt, in welche Doppelleben dies mündete:
„Niemand spricht darüber ... man hört es nicht im Geschichtsunterricht, ich habe es nie in der Schule gehört. [...] unsere Geschichte darf es nicht geben in der Weltgeschichte. Aber [...] sie ist nicht erfunden oder ein Wunschgedanke. Sie ist wirklich passiert. Und die meisten Leute wollen es einfach nicht glauben. Die meisten Leute wollen einfach immer noch an der Version festhalten 'das Land war leer'. So war es nicht und ich verstehe nicht, warum man nicht darüber reden kann. Man muss immer aufpassen, ob es in der Schule ist ... ob es bei der Arbeit ist, selbst meine Klassenkameraden wussten nicht, dass ich Palästinenserin bin, und so bin ich aufgewachsen.”
Die israelische Offensive gegen Gaza im Jahr 2014, bei der über 2.000 Menschen getötet wurden, ebenso wie der genozidale Krieg gegen Gaza heute, markierten für viele Palästinenser:innen einen Wendepunkt. In Deutschland wurde diese Gewalt als notwendige Selbstverteidigung im Kampf gegen Antisemitismus dargestellt. Die fehlende Empathie für palästinensisches Leid deuteten viele nun nicht mehr als Unwissen oder als Ausdruck historischer Schuld, sondern als anti-palästinensischen Rassismus. Das verstärkte das Gefühl der Entfremdung von der Gesellschaft, in der sie leben. Eine junge Frau schilderte mir ein Gespräch mit ihren Eltern während des Gaza-Kriegs 2014, in dem sich diese Erfahrung der Entfremdung verdichtete:
„In einem sehr merkwürdigen Gespräch darüber, wo meine Eltern begraben werden sollten, sagten sie: ‚Nun, dort, wo ihr seid, wo unsere Kinder sind.‘ Und dann habe ich mich gefragt, wo ich selbst begraben werden möchte. In Deutschland? Auf keinen Fall! Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass mein Körper in diese deutsche Erde kommt. Das war ein sehr seltsamer Gedanke, wirklich, denn ich war nirgends länger als hier.“
Die Rede basiert auf der Dissertation von Sarah El Bulbeisi, die 2020 unter dem Titel "Tabu, Trauma und Identität: Subjektkonstruktionen von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz, 1960-2015" erschienen ist.





