Chile

Von den Barrikaden zur neuen Verfassung

Chile stimmt am 4. September über die wohl weltweit progressivste Verfassung ab. Wie kam sie zu Stande und was steht drin?

Von Mario Neumann

und Katja Maurer

Es sind höchstens fünf Minuten Fußweg von der Moneda, dem Präsidentenpalast, bis zum Kongressgebäude. In Santiago de Chile hatte das vor dem Militärputsch 1973 Sinn gemacht. Dem Präsidenten wurde unmittelbar das Parlament an die Seite gestellt. Diese Symbole einer parlamentarischen Demokratie machte Diktator Pinochet gleich zunichte. Das Parlament, nur noch ein schwacher Abklatsch seiner selbst, wurde in ein monströses, an Nazi-Architektur erinnerndes Gebäude nach Valparaíso verlegt und entmachtet. Die Moneda aber ließ Pinochet in eine Ikone diktatorischer Herrschaft verwandeln. Heute ist das einstige Parlamentsgebäude, das mittlerweile den offiziellen Namen „Ex Congreso“ trägt, zugleich Schauplatz einer Wiedergutmachung und eines Aufbruchs. Im Kongress tagt die Verfassungsgebende Versammlung. Die in Personenwahl gewählten Abgeordneten repräsentieren eine chilenische Gesellschaft, die sich in vielen Kämpfen und zuletzt im Herbst 2019 in einem monatelangen Aufstand um einen Bruch mit der kolonial geprägten neoliberalen Ordnung bemüht. Nach dem Aufstand soll nun eine neue Verfassung die Forderungen des Aufstands institutionalisieren.

Bei unserer Reise im März dieses Jahres konnten wir diesen Prozess und die damit verbundene Umkehrung der symbolischen Ordnung direkt erleben. Während im Gebäude die Vertreter:innen eines möglichen neuen Chiles tagten, standen vor der Tür die Vertreter der alten Elite, die sich entmachtet fühlt. Aus Lautsprechern drang die Folklore des althergebrachten Patriotismus. Huasos, Herren mit breitkrempigem Hut und Banderole in den chilenischen Nationalfarben, schrien lauthals gegen die Veränderung der Verfassung an. Chilenische Flaggen wehten überall. Diese Flaggen hatte der Aufstand durch die Mapuche-Fahne ersetzt. Die Huasos, eine chilenische Cowboy-Ausgabe, aber schicker und reicher, verteidigten vor der Verfassungsgebenden Versammlung ihr „Recht auf den Rodeo“, das Zureiten und Zuschandereiten des Viehs. Es ist eine von vielen kleinen und großen Kampagnen gegen das Neue.

Wie geht das?

Im Kongressgebäude treffen wir auf energiegeladene junge Leute, viele junge Frauen, die entweder selbst Abgeordnete sind oder für Abgeordnete arbeiten. Im Garten sitzen Grüppchen um Computer und beratschlagen. Bis auf die Vertreter der alten Elite, schlaksige Herren in teuren Anzügen, kennen sich alle hier und verweigern jede Kleidungs-Etikette. Ein Hund läuft herum ohne Leine und erinnert an den Matapaco. Matapaco, frei übersetzt „Carabinero-Fresser“, griff während des Aufstands immer wieder die Polizei an und gesellte sich freundschaftlich zu den Aufständischen. So wurde der Hund zum beliebtesten Symbol des Aufstands.

Die politische Arbeit an der neuen Verfassung ist mittlerweile abgeschlossen. In sieben Kommissionen, die sich unter anderem mit dem politischen System, den Grundrechten, der Umwelt und den Naturrechten, aber auch mit wissensbasierten Systemen und der Kultur beschäftigten, wurden die Verfassungsartikel ausgearbeitet. Diese mussten im Plenum der gewählten Abgeordneten mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen werden. So sind in einer Rohfassung 499 Artikel entstanden. Nach deren Überarbeitung durch eine „Harmonisierungskommission“ wird am 4. September das Referendum stattfinden: Alle Bürger:innen ab 16 Jahren sind zur Abstimmung verpflichtet und können so über die Annahme des finalen Textes entscheiden.

Der nun vorliegende Vorschlag unternimmt den Versuch, die indigenen Völker Chiles in ihre Rechte zu setzen und den Staat zu dekolonisieren; ein paritätisches Recht einzuführen, das von der Gleichheit der Geschlechter und geschlechtlicher Selbstbestimmung ausgeht; eine Reform des politischen Systems vorzunehmen, das die politische Macht weg vom Präsidenten hin zum Parlament verstärkt; einen Rat der Regionen statt eines Senats zu schaffen und damit die Dezentralisierung des Staates zu priorisieren. Die demokratischen Zugewinne der neuen Verfassung bestehen vor allen Dingen im Gleichheitsgebot, das allen Unterfangen unterliegt, und so noch in keiner Verfassung der Welt steht. Das könnte umwälzende Folgen in allen Institutionen des Landes haben, da es – wenn das „Apruebo“ („Ich stimme zu“) gewinnt – eine geschlechter-paritätische Besetzung verlangt. Auch legt der Entwurf Chile als „sozialen und demokratischen Rechtsstaat“ fest. Chile, so heißt es im ersten Absatz von Artikel 1, ist „plurinational, interkulturell und ökologisch“. Mit dieser neuen Verfassung würde die Pinochet-Diktatur und das Paradigma des Neoliberalismus, der in Chile seinen Ausgang nahm, ad acta gelegt.

Doch wichtig ist nicht nur das, was nun schwarz auf weiß geschrieben steht und vielleicht so etwas wie eine der ersten Verfassungen der Welt ist, die von den jüngsten sozial-ökologischen, feministischen und dekolonialen Kämpfen geprägt ist. Ebenso wichtig ist der dahinterstehende demokratische Prozess vom Aufstand bis zur permanenten Diskussion über die Zukunft eines Landes und seine künftigen Spielregeln. Während die Rechte schon parallel zur noch tagenden Constituyente gegen alle Veränderung mobilisierte, tagte diese manchmal bis in die Nachtstunden. Die Versammlung wanderte von Ort zu Ort, um dort lokale Anhörungen durchzuführen. Sie bearbeitete nicht nur die vielen Vorschläge, die die einzelnen Kommissionen erhoben hatten, sondern auch die Vorschläge aus der Bevölkerung. So hatte jede:r chilenische Bürger:in sieben Stimmen, um Verfassungsinitiativen außerhalb der Constituyente zu unterstützen. Ab 15.000 Stimmen mussten die eingebrachten Vorschläge dort verhandelt werden.

Die alte chilenische Elite und die rechten Parteien wissen schon lange, dass sie die neue Verfassung ablehnen werden. Mit dem Tag ihrer Ausarbeitung begann ihre von Fake News und Populismus geprägte Gegen-Kampagne. Nicht einmal ein Drittel der 155 Mandate und somit nicht einmal die Sperrminorität konnten sie bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im April 2021 erreichen. In den sozialen Medien waren die Abgeordneten der Constituyente ständig damit beschäftigt, den Stand der Verfassungserarbeitung zu erläutern. Die Rechte hat hingegen mit ihrer Ablehnung eine einfache Botschaft und besitzt die Kontrolle über die wichtigsten Medien. Die alte Verfassung setzt den Vorrang privater Dienstleistungen vor allen öffentlichen. Nur wenn kein privates Unternehmen Dienstleistungen anbietet, darf die öffentliche Hand überhaupt aktiv werden. Die Privatisierung alles Öffentlichen von der Bildung über die Rente bis zum Gesundheitswesen hat quasi Verfassungsrang. So ist in Chile nicht nur das Wasser von allen seinen Quellen an privatisiert (über die Dramatik der hieraus folgenden Wasserknappheit berichteten wir bereits im letzten rundschreiben), sondern auch die gesamten Fischbestände des Landes. 4.000 Kilometer Küste sind in privater Hand.

Verfassung sticht Neoliberalismus?

Auch in anderen Ländern Lateinamerikas haben verfassungsgebende Prozesse stattgefunden. Während in Ecuador und Bolivien vor allem die dekolonialen Elemente der neuen Verfassung durch eine starke indigene Bewegung und deren Aufstände durchgesetzt wurden, trug der Aufstand in Chile allgemeinen Charakter über alle Herkünfte hinweg. Die Constituyente hat etwas von der Versammlung des dritten Standes und konnte so vielleicht nur gegen die Elite durchgesetzt werden, weil diese die Wahlerfolge der progressiven, linken und popularen Kräfte so nicht hat kommen sehen. Einer der wichtigsten Lateinamerika-Forscher, der Portugiese Boaventura de Sousa Santos, sieht in diesen Versuchen, über eine neue Verfassung eine Neugründung des Staates zu schaffen, einen unabgeschlossenen Prozess der Nationenbildung. Es handle sich um einen „experimentellen Staat“, der sowohl eine Verfassung der Bürger:innenrechte zur Grundlage hat als auch kollektive Rechte insbesondere der durch den Kolonialismus unterdrückten indigenen Bevölkerungen formuliert.

Dass dies eine Gratwanderung ist, braucht man den Chilen:innen nicht zu sagen. Vom ersten Tag seiner Präsidentschaft an war Gabriel Boric mit den eskalierenden Konflikten in der Mapuche-Region beschäftigt. Die Rechte setzt in ihrer Kampagne gegen die Verfassung auf alte koloniale antiindigene Muster, während der Streit in Südchile, von dem wir im letzten Heft berichteten, nicht durch verbesserte kulturelle Rechte geschlichtet werden kann. Eine Enteignung der Forstwirtschaft und die Rückgabe ganzer Landstriche an die Mapuche wären nötig. Aber sind solche radikalen politischen Schritte auch durchsetzbar? Und vor allem: Lässt sich der Neoliberalismus tatsächlich mit einer nationalen Initiative „abschaffen“, wo er doch global operiert und abgesichert ist?

Die Antwort auf beide Fragen lautet „Jein“. Wenn das Referendum am 4. September gewonnen und die neue Verfassung angenommen wird, ist die Transformation des Neoliberalismus ganz sicher nicht abgeschlossen. Sie wird Jahre dauern – ganz zu schweigen von den Grenzen, die ihr gesetzt sind. Dazu zählt die Auflage, die dem Prozess von vornherein gesetzt war: dass die neue Verfassung internationale (Freihandels-)Abkommen nicht antasten darf. Dabei ist Chile mit über 20 solcher Verträge weltweit einer der Spitzenreiter. Dennoch setzt die neue Verfassung an die Stelle des Verfassungsranges des Neoliberalismus und seines brutalen Staates neue Institutionen, die der Umwelt, den Menschenrechten, dem Feminismus und dem Plurinationalen verpflichtet sind. Vielleicht ein Anfang vom Ende und eine Inspiration für die politische Vorstellungskraft weltweit, ausgerechnet im Geburtsland des Neoliberalismus. In diesen düsteren Zeiten ist das eine ganze Menge und jede Unterstützung wert.

medico unterstützt ab sofort mit der Spendenkampagne„Adiós Neoliberalismo“ Organisationen in Chile, die in der aktuellen Verfassungsdebatte eine besondere Rolle spielen: Dazu zählen u.a. die Umweltorganisation MODATIMA, die gegen die Privatisierung des Wassers kämpft und die Fundación Nodo XXI, die sich 2012 im Zuge der Studierendenproteste gründete. Nodo XXI versteht sich als Thinktank für linke, progressive Politik und vernetzt Akteur:innen aus Politik, Bewegung und Zivilgesellschaft.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 23. Juni 2022

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit zu Südamerika und dem Libanon. Seit seiner Jugend ist er politischer Aktivist, hat lange für das Institut Solidarische Moderne (ISM) gearbeitet.

Twitter: @neumann_aktuell


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