Chile

Der Geist der Diktatur

Eine Studie über Repression und Menschenrechtsverletzungen in Chile analysiert Kontinuitäten – 50 Jahre nach dem Putsch.

Von Jan Schikora

Im Oktober 2019 erfasste Chile ein sozialer Aufstand ungekannter Dimension. Der Estallido Social, was übersetzt in etwa „die soziale Explosion“ heißt, trieb Hunderttausende Menschen auf die Straßen. Innerhalb kürzester Zeit entfaltete er eine solche Wucht, dass die Regierung um den rechtskonservativen Präsidenten Sebastián Piñera kurz davor stand, gestürzt zu werden. Die Ablehnung des bestehenden Systems und seiner Auswüchse im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich – das Erbe von Diktatur und Jahrzehnten ungehemmten Neoliberalismus, der in Chile eng mit dem Namen der Chicago Boys verbunden ist – erreichte in diesen Wochen eine nie dagewesene Breite und Intensität.

Die brutale Antwort des Staates verdeutlichte, dass Staatsterror, Repression und Menschenrechtsverbrechen keineswegs im Jahre 1990 gemeinsam mit der Diktatur abgeschafft wurden, sondern bis heute Konstanten der chilenischen Gesellschaft geblieben sind. Dies jedenfalls ist eine der zentralen Thesen der Broschüre La Memoria Estallada – Algunas reflexiones sobre el trauma político y la justicia a 50 años del golpe de estado en Chile (“Die zersplitterte Erinnerung – Einige Überlegungen über politische Trauma und Gerechtigkeit anlässlich von 50 Jahren Staatsstreich in Chile“), herausgegeben von medicos langjähriger Partnerorganisation Corporación de Promoción y Defensa de los Derechos del Pueblo (CODEPU).

Qualität der Gewalt

In vier Kapiteln wird dargestellt, dass und wie Militär und Carabineros, die chilenische Militärpolizei, bis heute an Korpsgeist, Wertesystem und Operationslogik aus Zeiten der Pinochet-Diktatur festgehalten haben. Beide Institutionen werden dabei gedeckt und gestärkt von großen Teilen der Politik und des Justizapparats - und selbst von Organen, die dem Schutz der Menschenrechte verpflichtet sind, wie beispielsweise das Instituto Nacional de Derechos Humanos (INDH). Auch deshalb seien im Oktober 2019 und danach „Traumata in einer brutalen und zersetzenden Art und Weise zurückgekehrt“.

Angesichts von „Leichnamen ermordeter Menschen, die in abgebrannten Geschäften gefunden wurden, der Ermordung von Demonstrant:innen durch Angehörige von Militär und Polizei während der Unruhen, von Folter und sexueller Gewalt, Verstümmelungen und willkürlichen Verhaftungen, die nicht selten in mehrmonatigen extralegalen Gefängnisaufenthalten mündeten“, fällt die Bilanz über die Aufklärung solcher Verbrechen ernüchternd aus: Bis heute sei es gelungen, das wahre Ausmaß von staatlicher Gewalt und Terror während der sozialen Proteste zu verschleiern und deren Aufarbeitung zu behindern. Nur ein Bruchteil der mit dem Estallido Social verbundenen 34 Todesfälle und 460 Fälle systematischer Verstümmelung von Menschen durch Gummigeschosse, die schwerwiegende Augen- und Kopfverletzungen verursachten, wurden aufgeklärt und kamen vor Gericht. Reparationen an die Opfer, zu Beginn seiner Amtszeit vom frisch gewählten Präsidenten Gabriel Boric in Aussicht gestellt, lassen bis heute auf sich warten.

Gegenwärtigkeit der Vergangenheit

Zu Recht verweisen die Autor:innen der Studie darauf, dass die Erinnerung an historische Ereignisse stets aufs Neue umkämpft und (re-)konstituiert wird. Dies zeige sich aktuell daran, dass die konservativen und rechten Sektoren der chilenischen Gesellschaft die vor 50 Jahren begangenen Gräueltaten ebenso konsequent leugneten und zu vertuschen versuchten, wie sie es nunmehr mit den von staatlichen Akteuren begangenen Straftaten im Zuge des Estallido Social tun.

Die andauernde Relativierung und Leugnung staatlicher Verbrechen verletzt erneut und weiterhin diejenigen, die unter den Aggressionen gelitten haben. 

 

Dazu gehören Ignacio, Claudio und Felipe, die sich 2019 in der Primera Línea den Aggressionen von Militär und Carabineros direkt entgegenstellten und dabei schwere Augen- und Kopfverletzungen davontrugen. Sie schildern nicht nur die erlittenen Gewalttraumata, sondern auch Stigma, Diskriminierung und Verachtung, die ihnen in unmittelbarer Folge ihrer Verletzungen von Mitarbeiter:innen des öffentlichen Gesundheitssektors entgegenschlugen. Auch Carolina, Joaquín, Jorge, Felipe und Mónica sind Opfer von Polizeigewalt, Staatsterror und Folter geworden – während des Estallido Social oder viel früher – zu Zeiten der Diktatur. CODEPU hat die Menschen, die derlei Erfahrungen durchleben mussten, in transgenerationalen Gruppengesprächen zusammengebracht. „Es ging darum, uns zu erniedrigen, uns auf die unterste Stufe menschlicher Existenz zu reduzieren. Wir fühlten, was es heißt, dass sie in der Lage sind, was auch immer sie wollen mit uns zu tun und es über uns ergehen zu lassen“, heißt es an einer Stelle, in der zugleich nicht ganz klar wird, ob diese Schilderungen sich auf die Diktatur oder auf die heutige Situation, die Repression im Zuge des Estallido Social, bezieht. Das macht nachdenklich. Denn Erniedrigungen, Drohungen, Würgetechniken, Schläge, Verbrennungen, Scheinhinrichtungen und sonstige Formen physischer und psychischer Gewalt gehören zum Repertoire der „Ordnungskräfte“ von einst und heute.

„Die Carabineros handeln heute wie schon immer in einer Sphäre völliger Straflosigkeit“, beschreibt Joaquín das Empfinden vieler Menschen in Chile. Das führe letztlich dazu, dass man „die Person fürchte, die angeblich doch dafür da ist, für unsere Sicherheit zu sorgen, aber das komplette Gegenteil davon macht“. Die Publikation ist insofern auch eine Herausforderung für Menschenrechtsorganisationen, da sie essenzielle Fragen aufwirft, die die Arbeit zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte antreiben: Wie mit psychischem Leid und traumatischen Ereignissen umgehen, wie über die Erinnerung nach einem halben Jahrhundert nachdenken, wie über die Gegenwart für eine bessere Zukunft und wie über die Zukunft der Menschenrechte?

Ohne Aufarbeitung keine Zukunft

Dies führt zurück zum Umgang mit dem 50. Jahrestag des Putsches in Chile. Gräueltaten und Todesfälle während der Diktatur wurde in jenen Jahren oftmals als Folge von Auseinandersetzungen rivalisierender Gruppen der extremen Linken inszeniert, trivialisiert und vereinnahmt – eine Darstellung, die die Gewalt und Grausamkeit des Staates, der der eigentliche Urheber hierfür war, systematisch leugnete. Viele dieser falschen Darstellungen haben die Rückkehr zur Demokratie überdauert, eine Verurteilung der Täter verhindert und eine Rehabilitierung der Opfer und ihrer Familien erschwert. Auch die Zahlung von Wiedergutmachungen und Reparationen lief nie wirklich an.

Dies ist umso tragischer, so die Autor:innen, als die tiefere Bedeutung einer Wiedergutmachung gerade darin liegt, eine grundlegende Beziehung zur Wahrheit und, damit verbunden, die kollektiven Beziehungen und zwischenmenschlichen Bindungen wiederherzustellen, die durch die offizielle Lüge und Leugnung beschädigt wurden. Dies ist in Chile bis heute nicht geschehen. Die Macht der Gruppen, die das Erbe der Diktatur verteidigen, ist bis heute kaum gebrochen.

Download

La Memoria Estallada

Algunas reflexiones sobre el trauma político y la justicia a 50 años del golpe de estado en chile. CODEPU.4 MB

Seit Mitte der 1980er-Jahre, also noch unter dem Pinochet-Regime, unterstützt medico die Menschenrechtsarbeit von CODEPU zur juristischen, gesellschaftlichen und psychosozialen Aufarbeitung der Diktaturverbrechen – bis heute. Hinzugekommen sind Partnerorganisationen wie die Umweltbewegung MODATIMA oder die Feministinnen von der Coordinadora Feminista 8 de Marzo. Sie setzen sich für die Überwindung des neoliberalen Erbes der Diktatur und für ein besseres Leben für alle ein.

Veröffentlicht am 30. November 2023

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