Chile

Pinochet, ein Untoter

50 Jahre nach dem Militärputsch in Chile ist die Erinnerung immer noch umkämpft.

Von Katja Maurer

Das „Museo de la Memoria“ in Santiago de Chile liegt südlich des Zentrums und der besseren Viertel. Zwischen geduckten Häusern im Stadtteil Yungay befindet es sich direkt gegenüber einem getreulich gepflegten Park mit Bänken, einem Springbrunnen, Blumenrabbatten und einem Kiosk. Hier lässt sich über die im Museum ausgestellte Form der Erinnerung an die Opfer der chilenischen Militärjunta gut nachdenken. Und das Nachdenken lohnt: Das Museum ist nämlich auch ein Symbol der umkämpften chilenischen Erinnerungskultur in all ihrer Ambivalenz.

Errichtet von brasilianischen und chilenischen Architekten, ist es baulicher Ausweis einer vom Bauhaus inspirierten Moderne in Lateinamerika. Schlichte Quader gruppieren sich zu einer gestückelten Erinnerung. Doch so beeindruckend das Gebäude ist, so fragwürdig erscheint die Ausstellung. Sie versucht der Erinnerung an die Opfer gerecht zu werden. Aber sie bietet keine andere Beschreibung des Putsches als die des Menschenrechtsverbrechens: Alle werden auf das Opfer-Sein reduziert, ihr politisches Begehren in der Allende-Zeit bleibt außen vor. Es ist, als wolle das Museum mit der Erinnerung an die Verfolgung die vorausgegangenen politischen Konflikte und die Kämpfe um Emanzipation von einer kolonial durchtränkten Zwei-Klassen-Gesellschaft überdecken. Kein Wunder, dass man ebenso vergeblich nach einer Beschäftigung mit den anhaltenden erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen in Chile sucht.

Am Politischen vorbeigemogelt

An einer Wand neben dem Museumscafé ist das letzte Gedicht des Künstlers Victor Jara, der 1973, wenige Tage nach seiner Verhaftung, im Nationalstadion ermordet wurde, angebracht: „Gesang, wie schlecht gelingst du mir / Wenn ich Schrecken singen muss / Schrecken, wie den, den ich erlebe / und den ich sterbe“. 50 Jahre nach dem Tod Jaras – heute trägt das Nationalstadion seinen Namen – wurden seine Mörder verhaftet. 50 lange Jahre später, von denen 33 Jahre als demokratische Jahre gelten und die doch die Straflosigkeit nur mühsam und in wenigen Fällen aufheben konnten. Man verlässt das Museum dann mit dem Eindruck, dass diese Periode schlimm war, nun aber die Demokratie gesiegt hat. Ein kleiner Röhrenfernseher zeigt zum Schluss in einer Endlosschleife die Kampagne, die 1990 zur Abwahl von Pinochet führte. Sie trug den Titel „La alegria ya viene“ (Die Freude wird kommen). Die auf Spaß abzielende, politisch bewusst harmlos gehaltene Kampagne, entwickelt von einer Werbeagentur, bildete mit diesem Slogan die löchrige Oberfläche, unter der sich der Konsens der Demokraten nach dem Ende des Putsches herauskristallisierte. An einer wirklichen Beschäftigung mit dem Begehren der Unidad Popular und dem dramatischen Scheitern ihres Versuchs, tiefgreifende Umwälzungen durchzusetzen, mogelte sie sich vorbei.

Wir schaffen Gerechtigkeit „im Rahmen des Möglichen“, hatte der erste demokratisch gewählte Präsident Patricio Aylwin 1990 verlauten lassen. Darüber sind viele Täter unbestraft gestorben. Der Verbleib der verschwundenen politischen Gefangenen wurde nicht aufgeklärt, in vielen Fällen bis heute. Wenn es zu Urteilen kam, zum Beispiel gegen den Geheimdienstchef Manuel Contreras, landeten die Täter in Luxusgefängnissen, die eigens für sie errichtet worden waren. Der konsensuale Übergang zur Demokratie, den Politiker:innen des Parteienbündnisses Concertación jahrelang als chilenisches Erfolgsmodell anpriesen, vermied nicht nur die Konflikte mit den einstigen Gegnern und ließ Pinochet mit über 90 Jahren friedlich im Bett einschlafen. Er hat auch maßgeblich zur Entpolitisierung und Fragmentierung der chilenischen Gesellschaft beigetragen. Die Angehörigen-Verbände wurden systematisch isoliert. Sie störten die Geschichtsaufarbeitung „im Rahmen des Möglichen“. Und heute, rund um den 50. Jahrestag des Putsches, wächst in der Bevölkerung eine negationistische Stimmung: Die Verbrechen werden schlicht geleugnet.

Der aktuelle linke Präsident Gabriel Boric wollte zu Beginn seiner Amtszeit diese Tradition unterbrechen und machte Haydee Oberreuter, die selbst von Militärs unvorstellbar brutal misshandelt wurde, zur Staatssekretärin für Menschenrechte. In einem Gespräch vor anderthalb Jahren kurz nach ihrer Ernennung sagte sie mir, dass sie sich nicht als Aushängeschild für die Regierung missbrauchen lassen werde. Sie werde diese Arbeit nur tun, wenn sie substanzielle Veränderungen in der Erinnerungspolitik durchsetzen könne. Anderthalb Jahre später ist sie nicht mehr Teil der Regierung.

Vitales Freiheitsbegehren

Das „Ende der Geschichte“, das mit dem Scheitern und der teilweisen Auflösung der realsozialistischen Länder die Politik unter die Ökonomie subsumierte, wurde in Chile besonders intensiv begangen. Das ist nicht verwunderlich und in gewisser Weise eine Gegenbewegung zum sozialistischen Experiment Allendes. Denn der Militärputsch von 1973 beendete einen der weltweit wichtigsten Versuche, nationales Selbstbestimmungsrecht über die eigenen Ressourcen mit einer partizipativen Demokratie zu verknüpfen. Über die repräsentativ-parlamentarische Form ging diese weit hinaus. Gerade zu Beginn der Allende-Regierung war die Aufbruchsstimmung überall zu spüren. „Ich hatte das Gefühl, mit meinen Händen den Himmel berühren zu können“, sagt eine Freundin, die damals 13 Jahre alt war. Der Umschwung mobilisierte die ganze Gesellschaft. In Carmen Castillos Film „Calle Santa Fe“ über den charismatischen Führer Miguel Henriquez der linksradikalen Partei MIR erzählen Bauern und Landarbeiter von ihrer Subjektwerdung in diesem Aufbruch. Vorher seien sie zu einem fremdbestimmten Schicksal der Würdelosigkeit verdammt gewesen, zu einer Nichtexistenz. „Was lebendig bleibt“, sagt Carmen Castillo über diese Zeit, „ist das Begehren; dieses Begehren können sie nicht töten. Wir haben das Mysterium des Genusses berührt. Das verzeihen sie uns nicht.“

So ist der 50. Jahrestag des Putsches in Chile nicht nur Anlass, an die Monstrosität der Militärs und die Installierung des Neoliberalismus als Modell für den Globalen Süden nachzudenken, sondern auch an das „vitale Freiheitsbegehren“ (Enzo Traverso) zu erinnern, das die Regierung der Unidad Popular zum Ausdruck brachte: die Idee einer Umgestaltung der Welt, die sich in der Erweiterung der Menschenrechtscharta um soziale Rechte und eine globale Umverteilung ausdrückte. Der spanische Politikwissenschaftler Joan Garcés nannte den chilenischen Versuch „das modernste Experiment in den antikapitalistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts“ inklusive einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft, der Ablehnung des bewaffneten Kampfes und der Anerkennung aller individuellen Freiheitsrechte.

Die Allende-Regierung war ein unerhörter Akt gegen die herrschende kapitalistische Vernunft, für eine wirklich entkolonisierte Unabhängigkeit. Damit war sie Teil einer politischen Weltkonjunktur. Die Blockfreien-Bewegung fordert nichts weniger als eine „neue Weltwirtschaftsordnung“ und ihr Recht auf Entwicklung. 1974 präsentierte der algerische Präsident Boumedienne auf der UN-Vollversammlung die „Erklärung über die Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung“. Da hatte sich Allende schon erschossen, um nicht den Militärs in die Hände zu fallen. Explodierte Erinnerung Anlässlich des 50. Jahrestags des Putsches hat die chilenische Menschenrechts- und medico-Partnerorganisation CODEPU (Komitee für die Rechte der Völker), mit der medico schon vor Jahrzehnten kooperierte, eine Publikation vorgelegt, in der sie über die Aktualität politischer Traumata und historischer Gerechtigkeit nachdenkt.

Für sie, so schreiben sie, ist die Erinnerung keine Angelegenheit, die an etwas erinnert, „das vorbei ist“. Im Gegenteil sei sie eine historische Realität, die „ständig umkämpft ist und sich neu erzählt“. Die Publikation verbindet die Erfahrungen nach 1973 mit den Aufbegehren, die nach einer langen Phase der Angst und der Stille in den vergangenen zehn Jahren Geschichte wieder neu eröffnet haben. So verweist der Titel „Die explodierte Erinnerung“ auch auf den Aufstand von 2019 der jungen Generation, auf den der Staat mit aller Härte reagierte. „Der 18. Oktober 2019 hat die dominierende Stabilität für einen Moment unterbrochen. Die offizielle Zeit, in der das Land funktionierte, war aufgehoben” schreiben sie.

Im Sprechen über Hoffnungen und Traumatisierungen arbeiten nicht nur in der Publikation verschiedene Generationen an einer Erinnerung, die sich der offiziellen postulierten Wahrheit widersetzt. Der Aufstand von 2019 war in dieser Hinsicht auch eine Explosion des kollektiven Gedächtnisses, eine euphorische und verzweifelte Ermächtigung über die Geschichte, in der „der Feind nicht aufgehört hat zu siegen“, wie Walter Benjamin sagt. Eben das geschah 2022: Der verfassungsgebende Prozess, in den sich der Aufstand institutionalisierte, fand bekanntlich keine Mehrheit. Von dieser Niederlage haben sich die sozialen Bewegungen und die chilenischen Linken bis heute nicht erholt. Der linke Präsident Boric, der mit einer rechten Mehrheit regieren muss, hat seither kaum Handlungsspielraum und stellt die öffentliche Sicherheit in den Mittelpunkt seiner Regierungsarbeit und damit entgegen seiner Ankündigungen die Ausweitung polizeilicher Gewalt.

Aber auch die alte Ordnung trägt nicht mehr. Zwar haben die Populisten um den Rechtsradikalen Kast in der Neuauflage des verfassungsgebenden Prozesses gesiegt. Allerdings sieht es nicht danach aus, als würde der Verfassungsentwurf, der den Neoliberalismus noch verschärfen will, bei der Abstimmung im Dezember eine Mehrheit erzielen können. Seit dem Putsch haben mehrere Generationen darum gerungen, die Geschichte in ihr Recht zu setzen, ein kollektives Gedächtnis zu grün[1]den, das die Monster der Geschichte bannt. Anlässlich des 50. Jahrestages machte der wichtigste chilenische Regisseur, Pablo Larraín, einen sarkastischen Film, in dem Pinochet als Untoter, als Vampir durch Chile geistert. Das ist wohl der Stand der Dinge.

Seit Mitte der 1980er-Jahre, also noch unter dem Pinochet-Regime, unterstützt medico die Menschenrechtsarbeit von CODEPU zur juristischen, gesellschaftlichen und psychosozialen Aufarbeitung der Diktaturverbrechen – bis heute. Hinzugekommen sind Partnerorganisationen wie die Umweltbewegung MODATIMA oder die Feministinnen von der Coordinadora Feminista 8 de Marzo. Sie setzen sich für die Überwindung des neoliberalen Erbes der Diktatur und für ein besseres Leben für alle ein.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 14. November 2023
Katja Maurer

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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