Chile

¿El pueblo unido?

Die Hoffnung auf die Götterdämmerung war groß. Doch in Chile ist das weltweit beachtete Projekt einer neuen und wegweisend fortschrittlichen Verfassung gescheitert – an einer Mehrheit, die eigentlich vom Neuanfang profitiert hätte. Wie konnte das passieren?

Von Mario Neumann

Es ist ein Ohrwurm und eines der Lieblingslieder linker Demo-Gänger auf der ganzen Welt: Die Hymne „El pueblo unido“ besingt seit über 50 Jahren den Widerstandsgeist des chilenischen Volkes. Komponiert noch zu Zeiten der sozialistischen Regierung Salvador Allendes, wurde es nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 zu einem gesungenen Selbstverständnis der Linken: Das „einige Volk“, wenn es als solches politisch in Erscheinung tritt und nicht durch Gewalt, Diktatur und Unterdrückung an der Artikulation seines Willens gehindert wird, möchte eine andere Welt.

Von der sozialistischen Unbestechlichkeit dieses Volkes sind die chilenische Linke wie auch ihre globalen Unterstützer:innen seitdem wie selbstverständlich ausgegangen. Und diese Hoffnung wurde jüngst noch einmal genährt: Nach einem monatelangen Aufstand gegen die neoliberale Regierung im Jahr 2019 hatte sich in Chile ein explosiver politischer Prozess entwickelt, an dessen Ende ein Referendum über eine neue Verfassung stand. Diese wurde von einem eigens dafür gewählten, unabhängigen Gremium erarbeitet, das Züge einer echten demokratischen Revolution trug. 155 in ihren Wahlkreisen direkt gewählte Kandidat:innen, viele von ihnen verankert und bekannt geworden in Basisbewegungen, zogen in das Gebäude des ehemaligen Kongresses in der chilenischen Hauptstadt ein und erarbeiteten im Auftrag der Bevölkerung eine neue Verfassung. Fast 80 Prozent der Menschen hatten im Jahr 2020 in einem ersten Referendum für dieses Verfahren gestimmt. Herausgekommen war nach einem langwierigen und intensiven Prozess eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt, die sicherlich viele Mängel hatte, aber dennoch ein robuster Einstieg in eine soziale und demokratische Transformation des chilenischen Staates hätte sein können.

Allein, das „Volk“ wollte nicht so, wie seine Hymne es ihm seit Jahrzehnten nahelegt. Im alles entscheidenden Moment, als die Abstimmung über das institutionelle Transformationsprojekt anstand, hat sich der geeinte Wille des chilenischen Volkes gegen die Linke und gegen die Veränderung gestellt – und das mit einer überwältigenden Mehrheit von über 60 Prozent. Nur in acht von über 346 Kommunen gewann das „Apruebo“ – das „Ja“ zur neuen Verfassung – und auch das meist nur knapp. Unter den jungen Frauen erreichte das „Nein“ 58 Prozent, bei allen anderen weiblichen Altersgruppen war die Ablehnung noch höher. Abgelehnt haben sie damit nicht nur eine erste paritätische Verfassung, sondern auch die sehr weit gehende Formulierung des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung. Sogar Gefängnisinsass:innen lehnten das „Apruebo“ ab, obwohl ihre Situation in jeder Hinsicht durch die neue Verfassung verbessert worden wäre. So hat sich der politische Wille der Bevölkerung gegen das Projekt der Veränderung gewandt, was nicht nur eine intellektuelle Erschütterung, sondern auch eine emotionale Herausforderung für alle Protagonist:innen des gescheiterten Wandels darstellt – darunter auch die medico-Partnerorganisationen des linken Think- tanks Nodo XXI, der Klimabewegung Modatima oder der Coordinadora Feminista 8 de Marzo. Die Enttäuschung ist überwältigend und die Suche nach Erklärungen für das Scheitern eine Aufgabe, die nicht nur Aktivist:innen in Chile beschäftigt und beschäftigen sollte.

Vom Neoliberalismus geprägte Subjektivitäten

Zweifellos ist es der politischen Rechten gelungen, den in Teilen überforderten und überarbeiteten Verfassungskonvent als eine abgehobene politische Veranstaltung darzustellen. Den Diskurs über die vermeintliche Abgehobenheit von Gender- und Rassismus-Debatten kennen wir auch in Europa nur allzu gut – er ist nicht selten eine diskursive Waffe in den Händen der tatsächlichen Eliten. Die in privaten Händen konzentrierte Medienmacht tat ihr Übriges. Und dennoch bleibt die Bereitschaft innerhalb der Bevölkerung, sich diesen Narrativen anzuschließen und die politische Chance, die in der neuen Verfassung lag, nicht zu ergreifen, erklärungsbedürftig. Dass die Eliten ihre eigene Entmachtung nicht bewerben würden, war schließlich absehbar.

Haben 50 Jahre Neoliberalismus eine Subjektivität erzeugt, die trotz einer weit geteilten Unzufriedenheit und Frustration über die eigenen Lebensbedingungen jeden Horizont verloren hat und deswegen vor fundamentaler Veränderung zurückschreckt? War die Rebellion von 2019 doch nur ein Ruf nach mehr Teilhabe an Konsumkultur und neoliberaler Lebensweise? Auch diese Fragen sind nicht abwegig. Ihr stehen linksradikale Interpretationen des Referendums entgegen, die die Ablehnung in einer fehlenden Radikalität der neuen Verfassung begründet sehen, die weniger den Aufstand von 2019 als vielmehr den politischen Betrieb fortgeschrieben hätte. Doch das scheint eher Wunschdenken zu sein, das das Gefühl einer potenziellen linken Mehrheit konservieren möchte.

Doch vielleicht ist eines trotz aller strategischen Fragen gewiss: Die Verabschiedung des Neoliberalismus bleibt auch als Projekt einer gesellschaftlichen Minderheit eine richtige Sache, der die Treue zu halten sich nicht erledigt hat. Ebenso gewiss ist, dass medico auch nach dem Ende der Hoffnung an der Seite der chilenischen Partner:innen stehen wird, die absehbar schon bald abwenden müssen, dass ein Faschist die nächste Präsidentschaftswahl gewinnt. Hoffen wir, dass das chilenische Volk zumindest dann einigermaßen geeint dagegen stimmt.

Für einen Neuanfang: Kampagne und Reflexion

medico hat die sozialen Bewegungen Chiles im Sommer 2022 mit einer Informations- und Spendenkampagne bei ihrer Mobilisierung für das „Apruebo“ unterstützt. Auf einer Dienstreise ein halbes Jahr vor dem Referendum hatten wir bereits den Eindruck gewonnen, dass die Medienmacht der Eliten eine ernsthafte Gefahr für den Erfolg der neuen Verfassung sein könnte. Unser bescheidener Beitrag hat den Lauf der Dinge nicht verändern können. Die Zusammenarbeit mit unseren Partner:innen aber geht weiter.

Die emanzipatorischen Aufbrüche und Niederlagen der vergangenen Jahre in Chile hat medico auch von der Soziologin Pierina Ferretti von der medico-Partnerorganisation Nodo XXI publizistisch begleiten lassen: Die neun Artikel ihres „Chilenischen Tagebuches: 30 Pesos“ reflektieren die Entwicklungen vom großen Aufstand 2019 über den Sieg des linken Kandidaten Gabriel Boric bei der Präsidentschaftswahl im Dezember 2021 und die Arbeit des Verfassungskonvents bis zum gescheiterten Referendum im September 2022 und den politischen Folgen.

medico fördert in Chile soziale Bewegungen und Partnerorganisationen. Von Recherchen über strukturellen Rassismus bei der Strafverfolgung von Mapuche im Süden des Landes über die Stärkung von Frauenrechten bis zur Unterstützung des Verfassungsprojekts.

Veröffentlicht am 07. Juni 2023

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit zu Südamerika und dem Libanon. Seit seiner Jugend ist er politischer Aktivist, hat lange für das Institut Solidarische Moderne (ISM) gearbeitet.

Twitter: @neumann_aktuell


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