Nordostsyrien/Rojava

Unter Beschuss

07.06.2023   Lesezeit: 5 min

Seit zehn Jahren kämpft das selbstverwaltete Rojava um Sicherheit und Perspektive. Doch dem demokratischen Experiment wird die dringend nötige internationale Anerkennung weiterhin verwehrt. Und es bleibt Angriffen ausgesetzt. 2022 hat die Türkei diese noch intensiviert.

Von Anita Starosta

Seit nunmehr einer Dekade existiert die selbstverwaltete Region Rojava in Nordostsyrien. Zu Beginn sprachen wir bei medico über die dortigen Entwicklungen als „demokratisches Experiment“, das von den syrischen Kurd:innen im Norden des Landes ausgegangen ist. Heute ist es viel mehr als das. Die Selbstverwaltung umfasst inzwischen ein Drittel des syrischen Territoriums und fußt auf der Beteiligung aller hier lebenden ethnischen Minderheiten. Trotz permanenter Bedrohung durch die Türkei, internationaler Missachtung und der Bürde zehntausender IS-Kämpfer, die inhaftiert und versorgt werden müssen, geben die Menschen in Rojava nicht auf und halten an einem demokratischen Syrien fest. So auch unsere langjährigen Partnerorganisationen vor Ort. Fast seit Beginn begleitet medico lokale Aktivist:innen und Helfer:innen und unterstützt so den Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens. Dazu gehörte in den ersten Jahren zusammen mit dem Kurdischen Roten Halbmond besonders die Nothilfe für Kriegsvertriebene. Wir haben bei der Bereitstellung einer Blutbank für das belagerte Kobanê geholfen, bei der Errichtung von Flüchtlingslagern unterstützt und die Notversorgung gefördert, sei es für verfolgte Jesid:innen aus dem Shengal-Gebirge oder für Flüchtende aus dem türkisch besetzten Afrin.

Allen Bedrohungen und Schwierigkeiten zum Trotz gelang es, eine selbstverwaltete Verwaltungsstruktur zu bilden, die das Leben von knapp fünf Millionen Menschen organisiert und sie versorgt – unter ihnen 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Doch die Bedingungen sind auch nach zehn Jahren nicht einfach, im Gegenteil: Die konstanten völkerrechtswidrigen Angriffe durch das türkische Militär hinterlassen inzwischen deutliche Spuren in Infrastruktur und Psychen. 2022 fanden insgesamt 130 Drohnenangriffe statt, bei denen 87 Menschen starben und 150 verletzt wurden. In Deutschland wird darüber fast nie berichtet. Vor Ort aber sind sie für die Bevölkerung als alltägliche psychische Belastung allgegenwärtig: Zu jedem Zeitpunkt kann überall eine Drohne einschlagen. Es gibt keine Möglichkeit, sich davor zu schützen. Meist sind Personen in relevanten Positionen in Militär oder Selbstverwaltung Ziel solcher Angriffe. Ende September 2022 traf es auch zwei medico-Partner:innen. Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Sero fuhren in einem Auto, als sie mit einer türkischen Bayraktar-Drohne getötet wurden. Beide waren Vorsitzende der Verwaltungsabteilung Justizreform für die Region Cizîrê der Autonomen Selbstverwaltung Nordostsyrien und an diesem Tag unterwegs, um Gefängnisse in der Region zu besuchen.

Auch medico-Partner:innen wurden getötet

Zeyneb war uns gut bekannt aus der Unterstützung eines Waisenhauses, in dem verstoßene Kinder jesidischer Mütter, die von IS-Angehörigen vergewaltigt worden waren, Zuflucht finden. Als Leiterin der Frauenkommission setzte sich Zeyneb besonders für eine Zusammenführung der Mütter mit ihren Kindern ein, gegen die Widerstände einer patriarchalen Abstammungsordnung. Später übernahm sie die Leitung der Gefängnisse, in denen IS-Kämpfer inhaftiert sind, ebenfalls eine sehr sensible Aufgabe. Personen wie Zeyneb werden gezielt getötet, um die zivile Selbstverwaltung zu schwächen; ersetzbar sind sie nicht.

Bei unseren Partner:innen in der Region hat die Tötung zu großer Wut und extremer Unsicherheit geführt, denn sie war ein weiterer Beleg, dass ziviles Engagement und der Einsatz für eine bessere Gesellschaft mit dem Leben bezahlt werden können. In Deutschland ist es kaum gelungen, mit dieser Meldung durchzudringen: „medico-Partner:innen von türkischer Drohne ermordet“ führte weder zu Schlagzeilen noch zu einer Infragestellung der deutschen Türkei-Politik . Im November 2022 flog das türkische Militär zwei Wochen lang Luftangriffe auf wichtige zivile Infrastrukturen in der Region. Getreidesilos, Stromwerke, Ölförderanlagen und Krankenhäuser wurden zerstört. Bis heute ist die Stromversorgung nur notdürftig wiederhergestellt. Noch immer ist es schwierig, Diesel zu bekommen oder Gasflaschen, die zum Kochen benötigt werden. In einer ohnehin wirtschaftlich sehr instabilen Lage haben sich die Lebensbedingungen so weiter verschlechtert.

Aufgrund der mangelhaften Versorgung mit Trinkwasser infolge der Verknappung des Zuflusses aus dem Euphrat durch die Türkei und die anhaltende Dürre in der Region brach rund um Hasakeh und Raqqa schließlich noch die Cholera aus. Als die Region Anfang Februar 2023 dann von dem verheerenden Erdbeben erschüttert wurde, waren die Nothelfer:innen des Kurdischen Roten Halbmondes einmal mehr im Einsatz. Dabei erfahren sie kaum internationale Anerkennung. Vom syrischen Regime werden sie in ihrer Arbeit immer wieder behindert. Umso wichtiger sind die solidarischen Beziehungen nach Deutschland und in die Welt. So unterstützen wir weiterhin Initiativen und Organisationen in Nordostsyrien, die Menschenrechte und Demokratie verteidigen. Mit Spenden an medico international konnten wir neben dem Waisenhaus für die jesidischen Kinder auch den Bau des ersten zivilen Prothesenzentrums in Qamislo fördern und die Menschenrechtsarbeit unserer Partnerorganisation „Right Defense Initiative“ unterstützen, die Menschenrechtsverletzungen mit dem Ziel dokumentiert, eines Tages vor dem internationalen Strafgerichtshof Gerechtigkeit zu erlangen. Sie alle tragen dazu bei, dass das „demokratische Experiment“ längst gelungen ist und weiter Bestand hat, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Rück- und Ausblick in ungewissen Zeiten

Im September 2022 war das medico-Haus zwei Tage lang Ort eines konstruktivkontroversen wie solidarischen Austausches über das demokratische Projekt Rojava. Alte und neue Weggefährt:innen, Expert:innen, medico-Partner:innen und Akteur:innen der Autonomen Selbstverwaltung Nordostsyrien kamen zusammen, zogen Bilanz, reflektierten die aktuellen Herausforderungen und diskutierten Perspektiven der Region. Die Gäste aus Nordostsyrien – die Politikerin Ilham Ehmed vom Syrisch-Demokratischen Rat und der Europavertreter der Selbstverwaltung, Dr. Abdulkarim Omar – berichteten von der Schwierigkeit, als permanent bedrohter, nicht anerkannter politischer Akteur international zu agieren. Auch auf Panels zu den Auswirkungen der Klimakrise, dem Einsatz von Wasser als Waffe oder dem internationalen Umgang mit inhaftierten IS-Anhänger:innen wurde deutlich: Die Selbstverwaltung leistet Enormes, steht aber unter immensem Druck.

Seit Beginn des Aufstandes gegen das Assad-Regime 2011 ist Syrien ein Schwerpunkt in der Projektarbeit von medico. Trotz und wegen der Restauration der autoritären Machtstrukturen in Damaskus. Insgesamt hat medico fast eine Million Euro Fremd- und Eigenmittel eingesetzt. Der überwiegende Teil unterstützte das Projekt der demokratischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien.

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita


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