Kommentar

Solidaritätsinzidenzwert: Null

Auch in der Pandemie geht es darum, was Vorrang hat: Recht auf Profit oder Menschenrechte?

Von Anne Jung

Die wichtigste Debatte der globalen Gesundheitspolitik in Zeiten der Pandemie – die Patentfreigabe – wird, anders als man denken könnte, nicht bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sondern bei der Welthandelsorganisation (WTO) geführt. Das zeigt: Auch angesichts von 180 Millionen Infizierten und vier Millionen Toten wird das Gesundheitswissen weiterhin als Handelsware betrachtet und nicht als globale Allmende. Hätte die Politik der Industrienationen auf den globalen Süden, die Weltgesundheitsorganisation und die Zivilgesellschaft gehört, würden die Medien über Möglichkeiten einer weltweiten Impfstoff-Produktion berichten und nicht über die Börsenkurse von Pharmaunternehmen. Die finanzstarken Industrieländer hätten die Kapitalinteressen zugunsten der globalen Gesundheit in den Lockdown schicken können. Doch das wollen sie nach wie vor nicht.

Warum gerade Deutschland und die EU jede Möglichkeit der zeitweiligen Aufhebung der Patente hartnäckig verweigern, auch gegen die USA und andere, ist geradezu unheimlich. Deutschland, das immer um seinen guten Ruf in der Welt bangt, wird nun unter anderem von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz beschuldigt, die ganze Welt als Geisel zu nehmen. Die Angst ist zu groß, dass mit der Aussetzung der Patente ein Präzedenzfall geschaffen wird: Womöglich würde sich ja zeigen, dass die Versorgung der Welt mit den Impfstoffen schneller ginge und günstiger wäre und dass das öffentliche Gut Krisen besser bewältigt?

Um den globalen Bedarf zu decken, müssen die Produktionskapazitäten ohne Zweifel ausgeweitet werden. Lediglich 0,3 Prozent der Impfdosen gehen aktuell an die 30 ärmsten Länder des globalen Südens. Bei ihnen wird es noch bis zu zwei Jahre dauern, bis sie auf eine Herdenimmunität hoffen können. Hunderttausende werden an Covid-19 sterben, auch weil es in vielen Ländern nur unzureichende öffentliche Gesundheitssysteme gibt. Gleichzeitig werden Schutzmaßnahmen wie Lockdowns lebensgefährlich bleiben, weil Menschen ohne jede soziale Absicherung unmittelbar ihr Einkommen verlieren. Armut und Hunger werden zunehmen.

Süd-Ansätze wurden torpediert

An Alternativen mangelt es indes nicht. Kurz nach dem Ausbruch der Pandemie machte Costa Rica den großartigen Vorschlag, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) solle das Wissen und die notwendigen Technologien zu Covid-19 bündeln. Damit könnten Produkte schneller entwickelt, zugelassen und überall zur Verfügung gestellt werden. Der Versuch scheiterte, weil die reichen Länder die Pharmafirmen nicht dazu verpflichteten und die WHO schlicht ignorierten. Nach dem Scheitern des Technologietransfers folgte Süd-Initiative Nummer zwei: Schon im Herbst 2020 beantragten die Regierungen von Indien und Südafrika bei der WTO eine weitreichende Ausnahmeregelung im TRIPS-Abkommen, in dem Patentfragen und andere handelsbezogenen Aspekte des geistigen Eigentums geregelt sind. Gebraucht werde ein Waiver: eine global vereinbarte und in der WTO verankerte Verzichtserklärung von Rechten des geistigen Eigentums auf Covid-19 Medizinprodukte; nicht für immer, sondern nur bis die Weltbevölkerung eine Immunität gegen das Virus entwickelt hat. Das würde eine bedarfsorientierte Produktion durch mehr Hersteller ermöglichen. Und es würde zu bezahlbaren Preisen und Schutz vor Klagen durch die Industrie führen. Doch auch hier: Vielen Ländern, die in globaler Verantwortung handeln könnten – allen voran Deutschland –, fehlte der politische Wille, über ihre eng definierten nationalen (Wirtschafts-)Interessen hinauszugehen; und denjenigen, die die Chance für globale Solidarität ergreifen wollen, fehlen die Mittel und die Macht.

Lehren aus der HIV-AIDS-Krise

Nicht nur die Torpedierung des Waivers, auch das TRIPS-Abkommen selbst symbolisiert die Dominanz einer Ordnung, die gerade bis zur letzten Impfdosis verteidigt wird. Schon beim Zustandekommen des Abkommens 1994 war absehbar, dass die Ausgeschlossenen der Welt dadurch bei der Gesundheitsversorgung auf der Strecke bleiben würden. Doch die Industrienationen haben es mit dem Pharmariesen Pfizer und Großkonzernen wie Microsoft gegen alle Widerstände des globalen Südens durchgesetzt. (Das hat sich gelohnt: Für das laufende Jahr rechnet Pfizer übrigens mit einem Gewinn von 20 Milliarden Euro durch Corona-Impfstoffe.)

Das hatte schon einmal tödliche Folgen: bei der globalen HIV-AIDS-Krise. Als Südafrika, wo damals jede:r Fünfte HIV-positiv war und AIDS das Überleben einer ganzen Generation bedrohte, den preiswerten Nachbau von Medikamenten gestattete, reichten 39 (!) multinationale Arzneimittelhersteller sowie die USA Klage ein. Diese lähmte die Produktion über Jahre, Behandlungsprogramme starteten verspätet, Hunderttausende starben. Schon damals ging es um globale Ordnungspolitik für die kapitalistische Globalisierung mit dem Ziel, die öffentliche Gesundheitsversorgung durch einen Mix aus Privatisierung und freiwilligen Spenden zu ersetzen. Erst nach weltweitem zivilgesellschaftlichem Druck wurde die Klage zurückgenommen und der Patentpool für HIV-Medikamente bei der WHO errichtet. Die Medikamente kosten seither nur noch einen Bruchteil und eine flächendeckende Versorgung wurde ermöglicht.

Mit dem Waiver könnten solche jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen verhindert werden, weil die Ausnahme global gelten würde und nicht von jedem Land einzeln durchgesetzt werden müsste. Dass diese im TRIPS-Abkommen vorgesehene Möglichkeit heute als überzogene und radikale Forderung diskreditiert wird, zeigt, wie weit sich die Debatte davon entfernt hat, Alternativen denken zu können oder zu wollen. Zumal: So richtig und wichtig diese Ausnahmeregelung aktuell wäre – ausreichend wäre sie bei weitem nicht. Hieran ändern auch die versprochenen Impfstoff-Dosen nichts, die die G7-Staaten den Ländern des globalen Südens jetzt in Aussicht gestellt haben. Es ist erschütternd zu sehen, wie sich der Generaldirektor der WHO, der immer wieder strukturelle Lösungen und eine faire Verteilung angemahnt hat, für jede in Aussicht gestellte Impfdosis bedanken muss. Die „milden Gaben“ der G7 sind wie ein vergifteter Cocktail aus Entrechtung und Abhängigkeit.

Die Welt hätte die Kraft, die Pandemie einzudämmen. Fast 70 Mitglieder der WTO unterstützen inzwischen den Waiver. Das Zentrum der Koalition der Unwilligen bilden Deutschland und die Europäische Kommission. Der wachsende zivilgesellschaftliche Protest erhöht den Druck auf diese Regierungen. Um ihre Blockadehaltung zu legitimieren, behaupten viele Politiker:innen und Pharmafirmen, dass es im globalen Süden keine geeigneten Produktionsstätten gibt. Das ist nicht nur falsch, es ist auch rassistisch. Länder wie Südafrika, Senegal oder Ägypten könnten in Windeseile umrüsten, um mRNA-Impfstoffe herzustellen – flankiert von einem Technologietransfer. Auch Indien, Bangladesch, Pakistan und viele Länder Lateinamerikas könnten die ersehnten Impfstoffe produzieren. Eine andere, im öffentlichen Diskurs leichtfertig wiederholte Mär: Dort produzierte Impfstoffe seien nicht sicher. Dabei wird unterschlagen, dass schon lange mehr als die Hälfte der hierzulande eingesetzten Impfstoffe und Generika aus Indien stammt.

Die Entwicklung mehrerer wirksamer Covid-19- Impfstoffe zeigt, was möglich ist, wenn der politische Wille da ist und (öffentliche) Mittel zur Verfügung gestellt werden. Auch dies ist im globalen Süden registriert worden. Schließlich sterben hier (und nur hier) jedes Jahr Millionen von Menschen an Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose oder der Schlafkrankheit, gegen die es zu wenig wirksame Impfstoffe und Medikamente gibt: Offensichtlich könnte und würde es sie geben – würde sich die Prioritätensetzung bei der hiesigen Forschung und Entwicklung an der Rettung von Menschenleben orientieren und nicht daran, wie gewinnträchtig ein Markt ist. Der aktuelle Moment ist wie geschaffen für eine breitere globale Bewegung, um das Recht auf bestmöglichen Zugang zu Gesundheit allumfassend und universell zu erstreiten – in der Pandemie und darüber hinaus.

Dazu gehört auch die Verrechtlichung der globalen Lieferketten. Ein Blick auf die asiatische Textilproduktion in Zeiten der Pandemie genügt, um nachzuvollziehen, was damit gemeint ist: Nach dem Shutdown in den westlichen Metropolen dauerte es nur einen Wimpernschlag, bis Millionen Menschen, mehrheitlich Frauen, in den asiatischen Megacities ihre prekären Jobs in den Weltmarktfabriken verloren. Denn die großen Textilketten, von H&M bis Mango, setzten die Abnahme und damit die Bezahlung schon gefertigter Ware aus. Wie krankmachend dieses System globaler Ausbeutung ist, zeigt sich auch jetzt, wenn die Geschäfte im globalen Norden wieder öffnen: Von Karatschi bis Dhaka bringt das die Menschen in die Textilfabriken zurück. Allerdings ist die Pandemie dort keineswegs unter Kontrolle und die Arbeiter:innen sind so ungeschützt wie eh und je. Nun sind sie auch noch der Gefahr einer Covid-Infektion ausgesetzt.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 01. Juli 2021

Anne Jung

Anne Jung leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Die Politikwissenschaftlerin ist außerdem zuständig für das Thema Globale Gesundheit sowie Entschädigungsdebatten, internationale Handelsbeziehungen und Rohstoffe.

Twitter: @annejung_mi


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