Am 16. November findet in Chile die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Auch die Abgeordnetenkammer und die Hälfte der Senatssitze stehen zur Wahl. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass von den acht Präsidentschaftskandidat:innen Jeannette Jara, die Vertreterin der Linken und des Progressismus, als Erste in die Stichwahl kommen wird. Noch ist unklar, welcher der drei Kandidaten der Rechten und der extremen Rechten den zweiten Platz belegen wird. Sicher ist aber schon jetzt, dass es eine Stichwahl geben und die linke Kandidatin wahrscheinlich gegen einen der Anführer der extremen Rechten antreten wird.
Um zu verstehen, worum es bei dieser Wahl geht, muss etwas ausgeholt werden. Zunächst einmal müssen wir uns daran erinnern, dass der politische Prozess in Chile in den letzten Jahren durch erhebliche Umbrüche geprägt war. Es waren die sozialen Aufstände von 2019, der estallido social, die diese Phase zunächst einleiteten, in einen Prozess für eine neue Verfassung mündeten und in einer schweren Niederlage des anti-neoliberalen Verfassungsentwurfs von 2022 kulminierten, der von ökologischen und feministischen sozialen Bewegungen, Vertreter:innen indigener Völker und linken Kräften ausgearbeitet worden war.
Diese vernichtende Niederlage hatte enorme politische Konsequenzen. Einerseits wurde die seit 2022 amtierende Regierung von Gabriel Boric, die auf die Verabschiedung des Verfassungstextes gewartet hatte, um die in ihrem Programm enthaltenen Strukturreformen voranzutreiben, stark geschwächt. Gleichzeitig gerieten die sozialen Bewegungen, die die Verfassungsgebende Versammlung angeführt hatten, in einen Zustand der Frustration und des Rückzugs. Auf der anderen Seite fanden die Rechte und die extreme Rechte neuen Schwung und entwickelten eine Politik der konservativen Restauration gegen alle im Verfassungsprozess verteidigten Anliegen, insbesondere gegen den Feminismus. Die kommende Wahl findet also vor dem Hintergrund jener Niederlage und ihrer negativen Folgen statt, aber auch mit den Erkenntnissen und Lehren, die wir daraus ziehen konnten.
Kandidat:innenschau
Als Zweites muss man verstehen, wer bei dieser Wahl gegeneinander antritt. Beginnen wir mit der Kandidatin der Linken und Progressiven, Jeannette Jara. Seit ihrem 14. Lebensjahr kommunistische Aktivistin, Studentenführerin in den 1990er Jahren und Staatssekretärin in der zweiten Regierung von Michelle Bachelet (2014-2018), gewann Jara als Arbeitsministerin in der Regierung von Gabriel Boric an politischer Bedeutung. Unter ihrer Führung wurden wichtige Arbeitsgesetze verabschiedet, wie die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 44 auf 40 Stunden und die bedeutendste Erhöhung des Mindestlohns seit Jahrzehnten. Außerdem war sie maßgeblich an der Rentenreform beteiligt, die zwar weit hinter dem ursprünglichen Entwurf zurück blieb, da sie die privaten Rentenversicherungsgesellschaften (AFP) – private Unternehmen, die die Ersparnisse der Arbeitnehmer:innen investieren, dabei Millionen Gewinne erzielen und miserable Renten auszahlen – nicht abschafft, aber doch eine deutliche Erhöhung der Renten der derzeitigen Rentner:innen, insbesondere der Frauen, ermöglicht, was eines der wichtigsten Ziele war.
Diese Erfolge, die von den Chilen:innen sehr geschätzt werden, ihre Herkunft aus der Mitte der Bevölkerung sowie ihr zugänglicher und einfühlsamer Stil, den viele mit dem der ehemaligen Präsidentin Bachelet assoziieren, machen sie nun zu einer konkurrenzfähigen Kandidatin. All dies trotz ihrer kommunistischen Gesinnung, die in Chile, wo noch immer die Vergangenheit eines starken Antikommunismus lastet, als Nachteil angesehen wird. Ungeachtet dessen sorgte Jeannette Jara in den Vorwahlen der Linken und der Mitte-Links-Parteien Ende Juni für eine Überraschung, indem sie die Kandidatin der selbsternannten Demokratischen Sozialistischen Partei (ein Zusammenschluss mehrerer Parteien der ehemaligen Concertación, darunter die Sozialistische Partei) und die Kandidatin der Frente Amplio deutlich besiegte. Dieser Erfolg machte Jeannette Jara zur Spitzenkandidatin des breitesten politischen Bündnisses seit der Wiederherstellung der Demokratie: Sie wird von neun politischen Parteien (von der Kommunistischen Partei bis zur Christdemokratischen Partei) und mehreren unabhängigen und bürgerlichen Anführer:innen der Linken, wie Rodrigo Mundaca, Gouverneur von Valparaíso, unterstützt.
Auf der rechten Seite kämpfen drei Namen um den Einzug in die Stichwahl: Evelyn Matthei, Vertreterin der traditionellen Rechten, José Antonio Kast von der Republikanischen Partei und Johannes Kaiser von der National-Libertären Partei, wobei die beiden Letzteren der extremen Rechten zuzuordnen sind. Alle drei Kandidat:innen der Rechten haben einen deutschen Migrationshintergrund.
Nach den letzten Umfragen vor Beginn der Wahlsperre (in Chile ist es verboten, 15 Tage vor der Wahl Umfrageergebnisse zu veröffentlichen) könnte Kast in die Stichwahl kommen, gefolgt von Kaiser, der ebenfalls gute Chancen hat. Sollte dieses Szenario eintreten, würden am 14. Dezember eine kommunistische Kandidatin und ein Vertreter der extremen Rechten gegeneinander antreten. Und obwohl es noch lange hin ist und sich die Daten noch ändern können, deuten bislang alle Umfragen darauf hin, dass Jeannette Jara die Stichwahl gegen jeden dieser Gegner verlieren würde.
Das schwierige Navigieren der Linken
Nun ist es zwar beunruhigend, aber nicht überraschend, dass die Kandidatin der Linken mit Gegenwind in die Wahlen zieht. Zumal seit 2009 auch jeweils die Kandidat:innen der Opposition die Präsidentschaftswahlen gewinnen konnten. Dies lässt sich zum großen Teil damit erklären, dass die Unzufriedenheit mit der amtierenden Regierung diejenigen trifft, die für Kontinuität stehen. In diesem Fall hat Jeannette Jara als ehemalige Ministerin der Regierung von Präsident Boric zwar die Unterstützung ihrer Anhänger:innen, erfährt aber auch die Ablehnung derjenigen, die ihre Amtsführung kritisch bewerten.
Hinzu kommt, dass seit dem Ende der Pandemie Themen wie öffentliche Sicherheit, organisierte Kriminalität und illegale Einwanderung in den Vordergrund gerückt sind. Die Rechte hat es verstanden, die Sorgen der Bürger:innen mit einer Politik der harten Hand, Rassismus und Strafverfolgung zu kapitalisieren, die in weiten Teilen der Bevölkerung, insbesondere in den prekärsten Schichten der Arbeiter:innenklasse, auf Unterstützung stoßen. Zwar ist Chile weit davon entfernt, das Ausmaß an Gewalt und Drogenhandel anderer Länder der Region zu erreichen. Dennoch konnten in den letzten Jahren transnationale Banden des organisierten Verbrechens Einzug ins Land halten und in Vierteln der unteren Klassen Terraingewinne verzeichnen und diese kontrollieren. Angst und eine größere Nachfrage aus der Bevölkerung nach Polizeikräften und sogar dem Militär zur Wiedererlangung der öffentlichen Kontrolle sind die Folgen.
In diesem Zusammenhang sehen wir uns als Linke und Progressive an der Macht mit einer Reihe von Problemen konfrontiert, die zu einem Konflikt zwischen der Forderung nach einem harten Durchgreifen, die von einem Großteil der Bevölkerung getragen wird, und einer Politik führen, deren Auswirkungen von den Bürger:innen nicht sofort erkannt werden. Während die Regierung also Mittel in die Verbesserung der polizeilichen und ermittlungstechnischen Kapazitäten zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität investiert hat, nutzt die Rechte die Ängste der Menschen aus und verspricht radikale Maßnahmen à la Bukele, der wegen seines Krieges gegen die Maras in El Salvador einer der international am meisten geschätzten Politiker im populären Lager ist.
Angesichts dieser Umstände und in Anbetracht der Tatsache, dass die Lage für die Kandidatin der Linken und Progressiven besonders schwierig ist, muss dennoch darauf hingewiesen werden, dass der Präsidentschaftswahlkampf offen ist und dass die Aussichten von Jara weiterhin wachsen können. Dafür wird das Ergebnis der ersten Wahlrunde sehr wichtig sein, denn je größer ihr Vorsprung gegenüber ihren Konkurrenten sein wird, desto mehr wird sie sich als starke Kandidatin etablieren können, die in der Lage ist, die Rechte zu besiegen. Das Ergebnis der Parlamentswahlen wird ebenfalls ein wichtiger Indikator sein. Ebenfalls dürfen wir nicht vergessen, dass die extreme Rechte 2021 von Gabriel Boric besiegt wurde und dass der zweite Verfassungsentwurf, 2023 von der Partei von José Antonio Kast ausgearbeitet, mit überwältigender Mehrheit abgelehnt wurde.
Diese Vorgeschichte, zusammen mit dem breiten politischen Bündnis, das sie unterstützt, und den Fähigkeiten von Jeannette Jara selbst, die sich als großartige Kandidatin erwiesen hat, lassen auch die Hoffnung zu, dass wir am 14. Dezember feiern können: Es besteht die reale Möglichkeit, dass das chilenische Volk erneut Nein zur extremen Rechten sagen wird und wir die erste kommunistische Präsidentin in der Geschichte unseres Landes haben werden. Wenn die Linke und die Progressiven ihre Arbeit gut machen, können wir das schaffen.






