Corona-Virus

Quarantäne mit Augenmaß?

Der Virus hat Europa erreicht, die Panik nimmt zu. Über Erfahrungen, die jetzt zu beherzigen wären.

Von Dr. Andreas Wulf

Das Versprechen der grenzenlosen Globalisierung, die zuerst ein wirtschaftspolitisches Projekt war, spiegelt sich auch in den scheinbar grenzenlosen touristischen Optionen, die dem wohlhabenden Teil der Welt offenstehen. Oder offen standen, muss man wohl sagen. Die Globalisierung nimmt nun auch in Europa immer mehr das bedrohliche Gesicht der umfassenden Einschließung und Abschottung an, das sich in den vergangenen zwei Monaten vor allem in Asien abspielte. Waren es vor zwei Wochen noch die luxuriösen Kreuzfahrtschiffe, die von den asiatischen Hafenstädten abgewiesen wurden, als hätten sie die Pest an Bord, trifft es nun ein großes Ferienhotel auf den Kanarischen Inseln, das sich für 1.000 Gäste zu einem temporären Gefängnis verwandelt hat.

Und wie immer ist China der Welt einen Schritt voraus. Mit neuen Apps sammeln die Behörden in Hangzhou Gesundheits- und Bewegungsdaten ihrer Bürger*innen und die Algorithmen legen ihre Mobilität fest: Grün bedeutet freier Durchgang an Straßensperren, Gelb bedeutet 7 Tage Quarantäne, Rot 14 Tage. Überwacht wird dies durch die geschätzten 500 Mio. Überwachungskameras, die es in der Volksrepublik gibt und analog durch die lokalen Parteikomitees, die flächendeckend für diese Maßnahmen eingesetzt werden.

Der Virus ist immer einen Schritt voraus

Der deutsche Gesundheitsminister gibt sich noch beruhigend, es bestünde (aktuell) nur ein geringes Risiko in Deutschland, alle Infizierten stünden unter Überwachung und seien in Behandlung. Aber auch er zeigt vorsichtshalber schon mal die Instrumente des Infektionsschutzgesetzes, sollte es zu einem ähnlichen Ausbreitungsfall wie in Italien kommen: Nicht nur die geliebten Bundesliga-Spiele würden abgesagt, auch die Verhängung von Quarantäne über ganze Städte wären bei uns ebenso möglich wie beim südeuropäischen Nachbarn. Alles solle aber mit Augenmaß und Verhältnismäßigkeit geschehen.

Dabei macht gerade der Fall des Hotels auf Teneriffa deutlich, dass der Virus immer einen Schritt voraus ist. Gerade durch die bis zu 14tägige Inkubationszeit, in der die Infizierten noch gesund sind, sind solche Ausbreitungen in der mobilen Welt nicht aufzuhalten. Die Hoffnung auf eine Eindämmung in China oder doch wenigstens in den asiatischen Ländern ist spätestens mit der Ankunft der Epidemie im Iran und in Italien, in der die Infektionsketten nicht mehr eindeutig nachzuverfolgen sind, kaum noch aufrecht zu halten.

Panik beim Ausbruch, Vernachlässigung zwischen Epidemien

Der Umfang und die Geschwindigkeit der modernen Mobilität hat in einem Umfang zugenommen, dass diese Versuche vielleicht von vornherein zum Scheitern verurteilt waren – im Vergleich zu 2003, als mit SARS ein anderer Corona-Virus auftrat, sind heute mehr als doppelt so viele Tourist*innen global unterwegs. Ebenso hat die Urbanisierung in den vergangenen 20 Jahren enorm zugenommen und damit die Verbreitungsmöglichkeiten von neu auftretenden Infektionen.

„You cannot wall in a virus“, urteilt Larry Gostin, Professor für Global Health Law an der Georgetown University in Washington. Er sieht das größte Drama im typischen Ablauf von Panikreaktionen bei akuten Ausbrüchen und in der Vernachlässigung des Themas zwischen den Epidemien: Ein schlagender Hinweis ist die im typischen Trump-Stil erfolgte Ankündigung der US-Regierung, sofort eine Milliarde US-Dollar in die Impfstoff- und Medikamenten-Forschung zu Corona/COVID-19 zu stecken. Die EU will 230 Mio. Euro zur Unterstützung der betroffenen Länder in Europa freigeben. Gleichzeitig hat der Notfallfonds für Epidemien bei der WHO, der nach der Ebola-Krise eingerichtet wurde, und der eigentlich immer mit 100 Mio. Dollar für Notfälle gefüllt sein soll, diese Zielmarke aufgrund der spärlichen Beiträge der Mitgliedstaaten in den letzten 5 Jahren fast nie erreicht.

Gehandelt wird erst, wenn die Wirtschaft bedroht ist

Zwar wird viel vom Aufbau und der Unterstützung „resilienter Gesundheitssysteme“ geredet und geschrieben und in einzelnen Projekten werden auch Kooperationen entwickelt, wie beispielsweise das Robert Koch Institut seit einigen Jahren mit Nigeria. Aber eine echte, starke, langfristige und globale Investition in die Vorsorge- und Fürsorgekapazitäten der Länder außerhalb der OECD-Zone sähe anders aus.

Tatsächlich gibt es ein Muster in der Reaktion der Welt auf diese wie auch die vorigen globalen Epidemien SARS, MERS, H1N1: Erst dann, wenn eine Krankheit die Grundlagen der globalen Wirtschaftsströme bedroht und auch die Menschen in der First und Business Class der „Weltgemeinschaft“ betrifft, gibt es plötzlich enorme Mittel, die für die chronischen Hungerleider der Welt, für die armen Diabetiker*innen, die psychisch Kranken und Krebspatient*innen nie zur Verfügung stehen.

Menschenrechte stehen hintan

Noch bedenklicher allerdings erscheint die Bereitschaft der „Weltgemeinschaft“, im Falle der Katastrophe alle Aufmerksamkeit für den sonst so gepriesenen „Menschenrechtsansatz“ in der Gesundheitspolitik zu vergessen: eine massive Einsperrung von Millionen Menschen löst mehr Bewunderung für die „Stärke“ der chinesischen Behörden aus, als die richtigen Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel und der problematischen Nebenwirkungen einer solchen autoritären Politik. Die WHO erwähnt Menschenrechte nicht in ihren strategischen Zielen bei der Beantwortung der Corona-Epidemie. Selbst Amnesty International und Human Rights Watch halten sich zurück, wie der südafrikanische AIDS- und Menschenrechtsaktivist und langjährige medico-Partner Mark Heywood anmerkt. Kaum Erwähnung findet auch die Unterdrückung der ersten Berichte über neuartige Infektionen schon seit Anfang Dezember durch die chinesischen Behörden, zu deren Symbol der tragische Tod des Arztes Li Wenliang wurde, der gezwungen wurde, seine Warnungen vor einer neuen SARS-ähnlichen Lungenentzündung zu „verantwortungslosen fake news“ zu erklären.

Tatsächlich helfen gegen fake news und Panikreaktionen nur eine offene, selbstkritische Haltung von Behörden, Presse und Öffentlichkeit, die auch die bekannte aber weiterhin wichtige Botschaft der begrenzten Gefährlichkeit des COVID-19 verbreiten und statt mittelalterlicher Pestgemälde eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Gefahren geben, auf die dann angemessen reagiert werden kann.

Erfahrungen nutzen!

Es wäre bei der COVID-19-Epidemie dringend an der Zeit, die Erfahrungen der jährlichen Grippeausbrüche zu beherzigen: Alles hängt von den Kapazitäten eines Gesundheitssystems ab, in dem auch solche saisonalen Belastungen eingeplant sind und in dem nicht überarbeitetes und schlecht bezahltes Personal mit knappen Ressourcen möglichst viel Umsatz für die miteinander konkurrierenden Krankenhäuser erwirtschaften soll.

Wenn dann Kranke auf den Fluren liegen müssen, ist die öffentliche Empörung groß. Statt Panik hilft hier aber nur systematisches Umsteuern hin zu einem echten Pflegepersonalschlüssel, in dem auch Kapazitäten für solche zusätzlichen Belastungsspitzen eingeplant sind. So sehr Jens Spahn auch das deutsche Gesundheitssystem preisen mag, die aktuell von seinem Ministerium vorgeschlagenen Personaluntergrenzen reichen längst nicht aus. Hier braucht es weiterhin auch Druck von außen und unten – an vielen Krankenhäusern haben sich solche Gesundheitsbewegungen in den letzten Jahren bereits entwickelt. Am 8. März wäre eine neue Gelegenheit dazu, wenn am internationalen Frauentag in vielen Städten auch Gesundheitsarbeiter*innen und Care Worker*innen auf der Straße sind. Und am 17. Juni, wenn die Gesundheitsminister in Berlin zu ihrem jährlichen Treffen zusammenkommen.

Veröffentlicht am 26. Februar 2020
Andreas Wulf

Dr. Andreas Wulf

Andreas Wulf ist Arzt und seit 1998 bei medico international. Er ist Berlin-Repräsentant und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit.


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