Rojava

Krieg ohne Aufmerksamkeit

Seit Tagen wird Nordsyrien heftig bombardiert, die Region steuert auf eine humanitäre Katastrophe zu und die Welt schweigt. medico-Partner helfen vor Ort.

Von Anita Starosta

Seit Tagen greift die Türkei die zivile Infrastruktur in Nordsyrien an. Die Lebensgrundlagen der Bevölkerung in der Region werden gezielt zerstört. Innerhalb von drei Tagen wurden über 145 Ziele in allen Städten getroffen. Bisher wurden Dutzende Menschen getötet und verletzt, 80 Prozent der zivilen Einrichtungen sind beschädigt: Wasser- und Energieversorgung, Krankenhäuser und Schulen, Ölfelder, Fabriken und Warenlager. Dabei setzt die türkische Armee Drohnen und Bomben aus Kampfflugzeugen ebenso ein wie Artillerie aus den türkisch besetzten Gebieten Nordsyriens heraus. Hunderttausende Menschen sind seit Tagen ohne Strom und Wasser, darunter Zehntausende intern Vertriebene.

Das Corona-Krankenhaus in Dêrik wurde komplett zerstört, eines der wichtigsten Krankenhäuser dieser Art in der Region. Zahlreiche weitere Gesundheitseinrichtungen sind kaputt, Krankenhäuser von der Stromversorgung abgeschnitten, Kühlketten unterbrochen – es gibt Aufrufe Blut zu spenden. Auch das Elektrizitätswerk Suwediya ist erneut Ziel von Luftangriffen. Das Werk versorgte große Teile der Provinz Hasakeh. Allein in Hasakeh sind rund 800.000 Menschen ohne Strom, in ganz Nordostsyrien trifft es an die zwei Millionen Menschen, auch die Flüchtlingslager. Verteilerstationen in Amuda, Qamishlo, Qahtaniya und wiederum Hasakeh sind durch Drohnenangriffe außer Betrieb gesetzt. Ohne Elektrizität funktioniert auch die Wasserversorgung nicht, zudem wurden Staudämme getroffen. Die einzige Gasverteilungsstation ist nach Luftangriffen außer Betrieb. Ölfelder und behelfsmäßige Raffinerien wurden ebenfalls getroffen und die Dieselversorgung – Heizmittel in Nordsyrien – ist nicht mehr gesichert.

Alle medico-Projekte in Nordsyrien sind von den aktuellen Angriffen betroffen. Projekte müssen eingestellt werden, die Kinder des von medico unterstützten Waisenhauses in Hasakeh evakuiert werden, die Nothelfer:innen des Kurdischen Roten Halbmonds sind pausenlos im Einsatz. Sie versorgen Verletzte und helfen bei Behandlungen in anderen Gesundheitseinrichtungen.

Der Winter steht bevor und das Ausmaß der Zerstörungen – die Angriffe halten aktuell noch weiter an – ist schon jetzt so verheerend, dass sich die Frage stellt, wie ein Überleben hier überhaupt noch möglich sein soll. Der Region droht ein Exodus.

Wahllose Bombardierung, gezielte Tötung

Die Angriffe durch das NATO-Mitglied Türkei sind ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Die türkische Regierung legitimiert die Bombardierungen mit Verweis auf den PKK-Anschlag in Ankara vom 2. Oktober. Angeblich soll einer der Attentäter aus Nordostsyrien kommen – Beweise gibt es dafür keine, aber das spielt ohnehin keine Rolle. Am 3. Oktober gab Außenminister Fidan auf einer Pressekonferenz alle zivilen Ziele in Nordsyrien und Nordirak zum Abschuss frei.

Schon im vergangenen Jahr nutzte die türkische Regierung den Terroranschlag auf der Istiklal-Straße in Istanbul, um im November eine zweiwöchige Luftoffensive gegen die Region zu führen. Damals wurde eine Syrerin als vermeintliche Terroristin vor die Kameras gezerrt und schon damals zielte die Militäraktion auf die Infrastruktur ab – ein Kriegsverbrechen. Unter den Zerstörungen des letzten Jahres leidet die Bevölkerung bis heute. Die humanitäre Situation ist extrem angespannt, die Versorgungslage mangelhaft. Seit den Angriffen gibt es nur einige Stunden am Tag Strom, Diesel ist rar und teuer und auf eine neue Gasflasche zum Kochen muss man in der Regel eine Woche warten. Hinzu kommt die enorme psychische Belastung für die Bevölkerung; Drohnenangriffe sind allgegenwärtig. Am 6. Februar erschütterte das Erdbeben die ganze Region und auch Nordsyrien, was die Lage weiter verschlechterte und die Nothelfer:innen vor extreme Herausforderungen stellte.

Auch unsere Partner:innen selbst sind in Lebensgefahr. Nicht nur durch die Bombardierung ziviler Einrichtungen, sondern auch durch gezielte Drohnenangriffe. So ist die Angst groß, sich in der Region zu bewegen. Zuletzt wurden im September 2022 medico-Partner gezielt getötet.

Drohnen surren auch über den Rehabilitationszentren für Jugendliche, die unter der Herrschaft des IS groß geworden sind und Geschosse schlagen neben den Lagern ein, in denen IS-Anhängerinnen mit ihren Kindern festgehalten werden. Die Gefahr, dass der IS und IS-nahe Gruppen diese erneute unübersichtliche Lage für sich nutzen, ist real und die Angst vor neuen Anschlägen und Ausbruchversuchen groß. Seit Jahren bittet die Selbstverwaltung Nordostsyriens um internationale Unterstützung bei der Betreuung der Gefangenen.

Internationales Schweigen

Die aktuelle türkische Militäroperation kann nur mit der Zustimmung des russischen und des US-Militärs erfolgen, die in der Region über die Lufthoheit verfügen. Dem türkischen Angriff muss endlich Einhalt geboten werden. Doch die internationale Gemeinschaft schweigt. Bisher gibt es keine einzige öffentliche Verurteilung der Angriffe durch führende Politiker:innen. Es gibt kaum mediale Berichterstattung, allein der Abschuss einer türkischen Drohne durch US-Kräfte führte zu einer Runde in den Nachrichten. Ansonsten schaffen es bisher vor allem die Agenturmeldungen des türkischen Staatsdienstes in die Medien.

Internationale Hilfe für die betroffene Bevölkerung kündigt sich nicht an, obwohl eine humanitäre Katastrophe vor der Tür steht. Wie schon beim Exodus der armenischen Bevölkerung aus Berg-Karabach rufen regionale Aggressionen wohl aufgrund der geopolitischen Implikationen und Abhängigkeiten keine ernsthafte Reaktion mehr hervor. Niemand steht den Betroffenen zur Seite. Dabei gibt es in dieser Situation nur eine Position: in Verteidigung der Zivilbevölkerung, auf der Seite des Menschenrechts.

Heftige Angriffe auf Idlib

Auch die islamistisch kontrollierte Region Idlib in Nordwestsyrien wird seit einigen Tag von syrischem und russischem Militär bombardiert. Zuvor hatte es ein islamistisches Attentat auf eine syrische Militärakademie in Homs gegeben. Ohne Rücksicht auf zivile Verluste werden Wohnviertel, Krankenhäuser, Märkte, eine Blutbank in Idlib-Stadt und Hauptstraßen in Schutt und Asche gelegt. Durch heftigen Raketen- und Artilleriebeschuss geriet zudem ein Flüchtlingslager in Brand.

Auch das von medico und Adopt a Revolution unterstützte Frauenzentrum in Idlib-Stadt, ein wichtiger Zufluchtsort in diesem militarisierten Gebiet, wurde getroffen. So wie alle anderen, die können, fliehen auch die Mitarbeiterinnen des Zentrums aus Idlib-Stadt in Richtung Norden. Dort hat das Erdbeben Anfang Februar viele Gebäude zerstört, Tausende Menschen leben noch immer in Zelten. Immerhin hoffen sie dort, zunächst in Sicherheit vor den Bomben zu sein. Alternativ bleiben nur die von der Türkei besetzten Gebiete wie Afrin, aus denen Hunderttausende vertrieben wurden und wo bis heute Menschenrechtsverletzungen stattfinden.

Die aktuellen Angriffen bedrohen unsere Partner:innen vor Ort massiv. Dennoch bemühen sich die Nothelfer:innen des Kurdischen Roten Halbmonds, die Menschenrechtsorganisation RDI, die Mitarbeiter:innen des Kinderheims in Hasakeh und des Frauenzentrums in Idlib sich weiterhin darum, in dieser Notsituation Hilfe zu leisten. Mit einer Spende können Sie diese Arbeit unterstützen.

Spendenstichworte: Rojava und Syrien

Veröffentlicht am 10. Oktober 2023

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Türkei, Nordsyrien und den Irak zuständig.

Twitter: @StarostaAnita


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