Nordostsyrien

Gezielte Tötung

Ein türkischer Drohnenangriff tötet Verantwortliche für medico-Projekte in Nordostsyrien.

Von Anita Starosta

Am Dienstag, den 27. September gegen Mittag, traf eine türkische Bayraktar-Drohne ein Fahrzeug auf einer Straße nahe der Stadt GirkêLegê und tötete Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero. Beide waren Vorsitzende der Verwaltungsabteilung Justizreform für die Region Cizîrê der Autonomen Selbstverwaltung Nordostsyrien und waren an diesem Tag unterwegs, um Gefängnisse in der Region zu besuchen.

Seit Monaten führt die Türkei einen Krieg „niederer Intensität“ in Nordostsyrien, dabei kommen oft Drohen zum Einsatz, die militärisches und ziviles Personal der Selbstverwaltung gezielt töten. Ebenso oft werden auch einfache Zivilist:innen Opfer dieser Angriffe.

Bei meinem letzten Besuch in der Region im April dieses Jahres traf ich Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero und habe sehr von unserem intensiven Austausch über die Entwicklung und Perspektiven von medico-Projekten profitiert.

Zeyneb Sarokhan

Zeyneb Sarokhan arbeitete lange als Frauenbeauftragte für die Region und war zuständig für ein Waisenhaus, das medico seit 2019 unterstützt und das ihr besonders am Herzen lag. In diesem Waisenhaus finden Kinder Zuflucht, deren jesidische Mütter versklavt und von IS-Schergen missbraucht worden waren. Den Frauen war es nach ihrer Befreiung oft nicht möglich, ihre Kinder mit zurück in ihre Gemeinden zu nehmen. Sarokhan sorgte dafür, dass Mütter und Kinder Kontakt halten können. Zudem gelang es ihr in den letzten Jahren, mehrere Zusammenführungen von jesidischen Müttern, die inzwischen im Irak leben, und ihren Kindern zu organisieren. Dazu verhandelte sie mit US-Diplomaten, Vertretern der jesidischen Gemeinde, den entsprechenden Personen in Nordostsyrien und Nordirak – kein leichtes Unterfangen bei solch einem hochsensiblen Thema. Sarokhan leitete dabei in ihrem Handeln insbesondere das Wohl der Kinder.

Das von medico unterstützte Waisenhaus war Sarokhan ein besonderes Anliegen, sie begleitete den Umbau einer alten Schule in Hasakeh intensiv mit und war selbst beim Umzug der Kinder von Remilan in das neue Gebäude dabei. Hier besuchte sie die Kinder fast täglich und pflegte eine enge Beziehung zu ihnen. Im April verbrachte ich einen Nachmittag mit ihr im Waisenhaus, wo mir insbesondere ihr herzlicher Umgang mit den Kindern auffiel.

Zeyneb Sarokhan setzte sich aber auch für weitere frauenspezifische Belange ein, für Frauenhäuser und anonyme Wohnungen, in denen verfolgte und von Gewalt betroffene Frauen Zuflucht finden. Der Bedarf in Nordostsyrien ist hoch und bisher gibt es wenige Anlaufstellen, es war ihr wichtig, auch hier weiter zu kommen. Wir unterhielten uns lange über die Ursachen der Gewalt gegen Frauen und mögliche Präventionsarbeit. Zeyneb Sarokhan setzte Frauenrechte und feministische Anliegen, für die die Region immer als besonders progressiv bezeichnet wird, praktisch um – so wird sie uns bei medico in Erinnerung bleiben.

Seit Juni arbeitete Sarokhan in ihrer neuen Funktion als Vorsitzende Verwaltungsabteilung Justizreformen für die Region Cizîrê. Dort war sie gemeinsam mit Yilmaz Şero unter anderem für die Überführung der Gefängnisse in die zivilen Verwaltungsstrukturen zuständig.

Yilmaz Şero

Als ich Yilmaz Şero im April traf, leitete er das Gefängnis in Qamişlo, in dem Sozialarbeiter:innen der medico-Partnerorganisation Purity dreißig inhaftierte Jugendlichen begleiten, die unter dem IS groß geworden sind. Mit Şero konnte ich damals die schwierige Situation dieser Jugendlichen besprechen und ihre Zelle im Gefängnis besuchen. Zuletzt setzte er sich für den Umzug dieser inhaftierten Jugendlichen in sogenannte Rehabilitationszentren ein. Erst letzte Woche nahmen Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero an einem Training von Purity für fünfzig Mitarbeiter:innen eines neuen Rehabilitationszentrums teil, in dem der besondere Schutz von Kindern und ihre Rechte unterrichtet wurde.

Mit Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero sind zwei Menschen durch eine türkische Drohne getötet worden, die sich für die zivile und demokratische Weiterentwicklung der Region eingesetzt haben und deren Tod eine große Lücke hinterlässt. So beschreiben es die medico-Partner:innen vor Ort, mit denen wir gemeinsam um den Verlust zweier Persönlichkeiten trauern. Dieser Angriff macht einmal mehr deutlich, dass auch unsere Partner:innen nicht sicher sind. „Jetzt sind wir alle Ziele. Sie machen keinen Unterschied mehr zwischen militärischem Personal und zivilen Mitarbeiter:innen der Selbstverwaltung oder der Zivilgesellschaft“, schreibt mir ein enger Vertrauter. In die Trauer und die Wut über den Tod von Zeyneb und Yilmaz mischt sich die permanente psychische Belastung, der hier alle seit Monaten ausgesetzt sind.

Konferenz 10 Jahre Rojava - Bedrohtes Rojava: Von Rüstungsexporten bis Drohnenkrieg

Diskussion mit Jan van Aken (arbeitet zu internationalen Konflikten bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung), Matthias Monroy (Wissensarbeiter, Aktivist und Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP), Chloé Troadec [Rojava Information Center] Aufzeichnung auf der Konferenz 10 Jahre Rojava am 11.09.2022 im medico-Haus, Frankfurt

Außenpolitische Standards?

Laut Rojava Information Center war der Angriff auf Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero der 81. Drohnenangriff dieses Jahr in Nordostsyrien. Dabei kamen 66 Menschen (darunter 23 Zivilist:innen) ums Leben. Systematisch tötet die Türkei militärische und politische Verantwortliche in der Region und schwächt damit gezielt die Selbstverwaltung, die sich für die demokratische Entwicklung in der Region einsetzt.

Diese permanenten Angriffe der Türkei auf Nordostsyrien sind völkerrechtswidrig, finden hierzulande jedoch kaum Öffentlichkeit. Das diskutieren Expert:innen zuletzt auf der medico-Konferenz „10 Jahre Rojava“. Das Schweigen zu diesem völkerrechtswidrigen Verhalten der Türkei muss endlich durchbrochen werden. Die Bundesregierung sollte diese Angriffe öffentlich verurteilen. Eine feministische und menschenrechtsbasierte Außenpolitik müsste die Arbeit von Menschen wie Zeynep Sarokhan und Yilmaz Şero wertschätzen, absichern und sich aktiv gegen die türkische Politik in der Region stellen. Stattdessen ein Schweigen, das im Kontrast zur einhelligen Verurteilung der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine umso unerträglicher wirkt und die Glaubwürdigkeit der deutschen außenpolitischen Standards in Frage stellt.

Veröffentlicht am 28. September 2022

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Türkei, Nordsyrien und den Irak zuständig.

Twitter: @StarostaAnita


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