Globale Gesundheit

Kein bisschen weise

Eine Bilanz globaler Gesundheitspolitik vier Jahre nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Im Gespräch mit der südafrikanischen Gesundheitswissenschaftlerin Dr. Lauren Paremoer.

Corona hat offengelegt, dass der Kampf gegen eine globale Pandemie nur durch global gerechte Maßnahmen gelingt. Sei es eine flächendeckende Basisgesundheitsversorgung, ausreichende Produktion und gerechte Verteilung von Arzneimitteln oder Wissens- und Technologietransfer – vier Jahre nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie sind die nötigen Veränderungen globaler Gesundheitspolitik noch immer uneingelöst.

Was das mit der WHO in Zeiten geopolitischer Machtverschiebungen zu tun hat und welche Potenziale ein internationales Pandemieabkommen hätte – darüber sprachen wir mit Lauren Paremoer, Dozentin an der Universität in Kapstadt und Mitglied des People's Health Movement South Africa.

medico: Unser letztes gemeinsames Gespräch war vor 2 Jahren. Damals war die Welt mitten in der Omikron-Welle. Die Kampagne zur Aufhebung der Patente und der damit verbundene global gerechtere Zugang zu Arzneimittel und Impfstoffe gegen Covid19 war noch nicht komplett verloren. Gesundheit war täglich in den Schlagzeilen. Inzwischen ist es in Deutschland (wieder) in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit gerutscht. Beobachtest du diese Entwicklung auch in Südafrika?

Lauren: Nein. In Südafrika gibt es eine große Diskussion über das Gesundheitswesen. Einer der Gründe dafür ist, dass Südafrika seit Jahrzehnten an der Einführung einer universellen Gesundheitsversorgung und einer staatlichen Krankenkasse, arbeitet. Letztes Jahr wurde sie endlich gesetzlich verankert. Aus diesem Grund ist der Zugang zu Gesundheitsdiensten ein großes Thema. Der zweite Grund ist, dass dieses Jahr nationale Wahlen anstehen. Der Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten, Medikamenten, aber auch der Zugang zu Grundnahrungsmitteln und Sozialleistungen sind politisch wichtig, weil viele Menschen - ich vermute, das ist in Europa genauso – Probleme haben, sich ihre Lebenshaltungskosten zu leisten. Das nächste Problem ist Austerität. Die Regierung will die Staatsverschuldung so gering wie möglich halten. Das führt zu vielen Kürzungen im Haushalt. Davon betroffen sind die Löhne der Beschäftigten im Gesundheitswesen, aber auch andere Kürzungen bei den Gesundheitseinrichtungen. Erst kürzlich schickten Mediziner:innen einen offenen Brief an die Regierung, in dem sie diese aufforderten, ihre Sparmaßnahmen zu überdenken.

Eine lange Auseinandersetzungslinie für globale Gesundheit bildet der Kampf gegen Patente und damit der Beschränkung der Herstellung und des Zugangs von lebenswichtigen Arzneimitteln durch Konzerne. Mit der Corona Pandemie wurde die Notwendigkeit dafür offensichtlicher denn je. Die Kampagne für einen TRIPS-Waiver zur weltweiten Bereitstellung von Impfstoffen gegen Covid-19 scheiterte trotz dessen, nicht zuletzt an dem Verhalten Deutschlands. Wie hat die südafrikanische Öffentlichkeit das aufgenommen?

Die Tatsache, dass die Regierung Impfstoffe gekauft hatte und diese deswegen verfügbar waren, hat die Bedeutung der Waiver-Kampagne in den Augen einiger Südafrikaner:innen minimiert. Natürlich waren sie mit anderen Problemen beschäftigt, aber der Waiver war sozusagen ein Nicht-Thema: Wir hatten Impfstoffe, warum also für einen Waiver kämpfen?

Auf kontinentaler Ebene bleibt die Gesundheitsversorgung aber sehr wohl ein politisches Thema. Es gibt Institutionen wie das Africa CDC, die sich sehr intensiv mit den Folgen der Pandemie befassen. Es wird darüber nachgedacht, wie ein Forschungs-Innovationssystem geschaffen werden kann, dass den Bedürfnissen des öffentlichen Gesundheitswesens gerecht wird. Und es geht darum, wie eine Produktionsstruktur geschaffen werden kann, die es ermöglicht, auf globaler Ebene konkurrenzfähig gegenüber multinationalen Pharmakonzernen zu sein.

Auch die Weltgesundheitsorganisation hat scheinbar aus der Pandemie ihre Schlüsse gezogen und versucht sich neusauzurichten. Welche Rolle spielt hierbei der mRNA-Hub in Kapstadt?

Der Hub ist eine Initiative der WHO, die durch Technologie- und Wissenstransfer Länder des globalen Südens dazu befähigen soll unabhängiger von multinationalen Pharmakonzernen eigenständig mRNA-Impfstoffe herstellen zu können. Der Hub hat meines Erachtens gezeigt, dass Wissenschaftler:innen in den Entwicklungsländern, wenn sie über die richtigen Ressourcen verfügen, erfolgreiche Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln durchführen können.

Der wichtigste Erfolg war, dass es dem Hub ohne die Unterstützung der Patentinhaber gelungen ist, innerhalb eines Jahres zumindest die Konzeptversion eines mRNA-Impfstoffs zu entwickeln. Das liefert eine empirische Grundlage für die Zurückweisung von Argumenten, dass es in den sogenannten Entwicklungsländern keine Kapazitäten gibt. Und es schafft eine epistemische Gemeinschaft von Wissenschaftler:innen, die zusammenarbeiten und Informationen austauschen. Aber auch der Hub arbeitet im Rahmen des bestehenden Systems des geistigen Eigentums und stellt den Patentschutz nicht in Frage. Das schränkt die Möglichkeiten im Bereich der Forschung und der Vermarktung ein. Besonders in Südafrika wurde Moderna ein umfassendes Bündel von Patenten erteilt, das alle Arten von Impfstoffen abdeckt, die mRNA als Grundlage verwenden. Das heißt, selbst wenn der Hub mRNA als Plattform für die Herstellung von Tuberkulose-Impfstoffen verwendet, könnten diese unter den Patentschutz von Moderna fallen und können nicht lokal nachproduziert werden. Das ist ein Problem.

Der mRNA-Hub ist nur einer der Vorschläge, die die WHO als Reaktion auf die Misserfolge während der Pandemie entwickelt hat. Umfassender ist das internationale Pandemie-Abkommen, bei dem sich die WHO-Mitgliedsstaaten zu umfassenden Regelungen im Bereich Pandemieprävention, -vorsorge und -reaktion verpflichten wollen. In den laufenden Verhandlungen über das Abkommen spiegeln sich aber die zwischenstaatlichen Kontroversen beim Umgang mit der Corona-Pandemie eindrücklich wieder - etwa wie stark der Fokus auf Präventions- und Früherkennungsmaßnahmen gelegt wird oder inwiefern ein gerechter Zugang zu Impfstoffen und Arzneimitteln im Vordergrund steht. Welche Art von Abkommen wäre aus deiner Perspektive notwendig, um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen?

Das Abkommen wurde von der EU zu Beginn der TRIPS-Waiver-Kampagne vorgeschlagen. Die Antwort der EU auf die Kampagne war eigentlich, dass die Flexibilität des geistigen Eigentums nicht wirklich das Problem sei. Vielmehr Das solle ein verbindlicher Vertrag aufgesetzt werden, der sich angeblich mit allen Dimensionen der Gerechtigkeit bei Pandemien befasst. Was wir jetzt allerdings sehen, ist, dass die von vielen afrikanischen Ländern, Bangladesch und anderen - auch Equity-Block genannt - vorgeschlagenen Punkte bezüglich Gerechtigkeit vernachlässigt werden und sich nicht im Text wiederfinden. Vielmehr zeichnet sich ab, dass durch Europa der Schwerpunkt auf Früherkennungssystemen und den Zugang zu Krankheitserregern legt, während der gleichberechtigte Zugang zu medizinischen Produkten, Garantien für Technologietransfer, die Aussetzung der Rechte an geistigem Eigentum während Pandemien und die Finanzierung an den Rand gedrängt werden, weil sie ein no-go für den globalen Norden sind. Außerdem sollten die Bemühungen um die Institutionalisierung von Kontrollmaßnahmen nicht dazu führen, dass die Entwicklungsländer Investitionen tätigen oder Haushaltsmittel des öffentlichen Gesundheitswesens für den Aufbau von Kontrollsystemen verwenden müssen, die nicht ausreichend finanziell kompensiert werden. Dies würde die Gefahr mit sich bringen, dass Mittel von Investitionen in Basisgesundheitsdienste abgezogen werden, um in die Überwachung von Erregern mit Pandemiepotenzial zu investieren. Aktuell bleibt nur noch sehr wenig Zeit für die Verhandlungen um den Pandemievertrag. Das Risiko ist hoch, dass der Kompromiss ein hohles Abkommen wird, wenn wir nicht für bindende Regelungen eintreten.

Gleichzeitig ist zu befürchten, dass die zunehmende Polarisierung zwischen den WHO-Mitgliedsstaaten die künftige Arbeit der WHO als evidenzbasierte Einrichtung behindern wird.

Ja, die Tagung des Executive Boards (EB) zur Vorbereitung der Weltgesundheitsversammlung Ende Januar war beispielsweise eine Bühne auf der die Geopolitisierung von Gesundheitsfragen beobachtet werden konnte. So schlug Russland am Eröffnungstag der diesjährigen EB-Tagung vor, den Klimawandel von der Tagesordnung zu streichen. Ein anderes Beispiel ist die Tatsache, dass die WHO Akkreditierung des Center for Reproductive Rights verhindert wurde, weil seine Arbeit von manchen Ländern als zu politisch angesehen wurde. Die WHO als Institution, die für die Beratung in globalen Gesundheitsfragen zuständig ist, wird so zum Austragungsort von geopolitischen Machtpolitiken und in ihrer eigentlichen Funktion blockiert.

Angefangen mit Covid über den Ukraine-Krieg bis hin zum Gaza-Krieg: die internationalen Machtverschiebungen sind spürbar.

Das war schon vor Covid so, aber es hat sich verschärft. Die Geopolitik steht mehr auf der Tagesordnung als noch vor einem Jahrzehnt. Vor Covid war es das Thema Handel: Der Streit der Trump-Regierung mit China und die Abhängigkeit der USA von bestimmten wichtigen Importen aus China. Und davor gab es das ganze Thema der Energiesicherheit, das auch eine geopolitische Dimension hatte. Die Auseinandersetzungen um die Einflussnahme von Hegemonialmächten wie Russland, China und der EU auf dem afrikanischen Kontinent gab es auch vor Covid, etwa im Rahmen der Seidenstraßen-Initiative. China hat also schon zuvor in großem Umfang auf dem afrikanischen Kontinent investiert. Wir sollten beobachten wie das neue erweiterte BRICS-Bündnis mit diesen geopolitischen Spannungen umgehen wird. Die ursprüngliche Position des Bündnisses war es, die Interessen der Entwicklungsländer gegenüber dem globalen Norden eher zurückhaltend zu vertreten. Ich denke, es ist interessant, wie sich die BRICS in Zukunft positionieren werden.

Deutest du die südafrikanische Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof IGH als eine Manifestierung dieser neuen Positionierung? Bisher ist noch kein westliches Land dort wegen Völkermord verklagt worden. Ist das ein weiterer Beleg für den Niedergang der westlichen Hegemonie und die zunehmende geopolitische Macht der BRICS?

Ich sehe den IGH-Fall nicht so sehr als eine geopolitische Verschiebung. Ich bin skeptisch, wie viel politischen Einfluss er Südafrika verleiht. Wichtig ist, dass er die gleiche Frage aufwirft, die durch die TRIPS-Waiver-Kampagne gestellt wurde: Wollen wir als Staatengemeinschaf alle nach den festgeschriebenen Regeln des multilateralen Systems handeln? Die Entwicklungsländer haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass die Regeln ungleichmäßig angewandt werden. In Bezug auf den TRIPS-Waiver hieß das: Können wir uns als Staatengemeinschaft das Versprechen geben, die Flexibilität, die bereits im TRIPS-Abkommen anerkannt und in der DOHA-Erklärung gebilligt wurden, anzuwenden? Wenn wir an den bereits bestehenden Vereinbarungen festhalten, können wir dann sicher sein, dass es nicht zu einem politischen Backlash kommt? Die Entwicklung der Waiver-Kampagne hat eine ganz klare Antwort gegeben: Nein, das können wir nicht. Ähnlich verhält es sich mit dem IGH-Fall: Können wir das Recht anwenden, das die internationale Gemeinschaft formuliert hat, und sicherstellen, dass es nicht zu einem Völkermord kommt? Die Antwort auf diese Frage zeichnet sich gerade ab.

Dasselbe gilt für COVAX, wo die Länder versprachen, Impfstoffe weltweit zu beschaffen und 20 Prozent an die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen in jedem Land zu verteilen, was ebenfalls nicht geschah. Die Regeln wurden von wohlhabenden Ländern umgangen, die es sich leisten konnten, bilaterale Vereinbarungen mit Herstellern zu treffen, aber auch von Ländern mit mittlerem Einkommen. Auch Südafrika hat bilaterale Vereinbarungen getroffen. Während die Medikamente andernorts gar nicht so schnell verbraucht werden konnten, wie sie gebunkert wurden, waren Impfstoffe für besonders arme Länder somit defacto nachranging und nicht oder erst mit Verzögerung zugänglich.

Ausgehend von der Erfahrung, dass erfolgreiche Bemühungen gegen die Pharmaindustrie auf multilateraler Ebene sehr unwahrscheinlich sind, vertreten Gesundheitsaktivist:innen des People’s Health Movement die Auffassung, dass die Sache selbst in die Hand genommen werden muss. Sie fordern unter anderem pharmazeutische Forschung und Produktion zum öffentlichen Gut zu machen. Welches Potenzial hat eine solche Initiative aus deiner Sicht?

Gesundheitsversorgung ist eine genuine Aufgabe des Staates, dazu sollte auch eine öffentliche Pharmaindustrie gehören. Das PHM will mit ihrer Initiative einer Pharmaforschung, - entwicklung und Produktion zeigen, dass eine gemeinwohlorientierte Pharmaindustrie möglich ist. Solche Initiativen sind wichtig, denn selbst wenn es um so etwas wie TRIPS-Flexibilitäten geht, haben wir es immer mit der privaten Pharmaindustrie zu tun, die der wichtigste Innovator und Produzent ist. Es ist interessant, dass es in der EU selbst eine Art politische Öffnung gibt, etwa indem die pharmazeutische Strategie neu überdacht wird, getrieben etwa von den hohen Kosten für die Gesundheitssysteme, wenn Arzneimittel mit riesigen Gewinnspannen verkauft werden. Die Struktur der Pharmaproduktion zu verändern ist die richtige Initiative, zur richtigen Zeit: Während Deutschland sich als Verfechter des Patenschutzes offenbart und die Enttäuschung über die verlorene TRIPS-Waiver-Kampagne groß ist. Es wird kein einfacher Kampf sein, aber ein grundlegender.

So ist es auch möglich weitergehende Fragen aufzuwerfen: Wenn der mRNA-Hub Kapazitäten für die Herstellung von Arzneimitteln auf der Grundlage von Technologie- und Wissenstransfer entwickelt hat, wollen wir dann sicherstellen, dass die kommerzielle Phase mithilfe einer staatlichen Pharmaindustrie stattfindet, oder wollen wir die Gewinne privatisieren, etwa durch Public Private Partnerships? Wir sollten für eine Produktionsstrategie in öffentlicher Hand kämpfen. Denn dann haben wir wirklich die Macht zu entscheiden, welche Krankheitserreger vorrangig behandelt werden sollen, welche Art von Medikamenten produziert werden sollen und wie man sie verabreicht, oral oder per Injektion, je nach Zweck. Wenn nicht die Gewinnspanne, sondern das öffentliche Interesse der wichtigste Bezugspunkt ist, dann entstehen Produkte, die für den jeweiligen Kontext besser geeignet sind und auch im Hinblick auf die Bedürfnisse der öffentlichen Gesundheit eine höhere Priorität haben.

Die gleiche Debatte haben wir auch in Deutschland. Pharmazeutische Unternehmen versäumen es, grundlegende Arzneimittel für Kinder wie Ibuprofen oder Antibiotika zu liefern. Es gibt genau einen Hersteller, der in Deutschland noch Paracetamol-Sirup produziert. Alle anderen haben sich vom Markt zurückgezogen, weil sich der Verkauf für sie nicht lohnt. Und gleichzeitig ist die Produktion in Deutschland zu teuer. Der Weltmarkt wird von einigen wenigen Herstellern dominiert und die Quadratur des Kreises soll sein, wie man den Zugang und die Verteilung von Medikamenten sicherstellen kann, ohne zu viel Geld für die Herstellung vor Ort auszugeben und gleichzeitig Abhängigkeiten abzubauen.

Wenn das Ziel weiterhin Gewinn vor Nutzen ist, dann gibt es keine tragfähige Lösung. Die Covid-Pandemie hat gezeigt, dass man im Nachteil ist, wenn man in einer Region nicht über genügend Fachwissen und Infrastruktur verfügt, um grundlegende medizinische Produkte herzustellen, wenn es nicht einmal eine Fabrik gibt, die man für die Herstellung von Medikamenten zweckentfremden könnte: dann ist man gezwungen zu importieren. Ein gutes und sehr konkretes Beispiel für die öffentliche Pharmaindustrie ist Brasilien.

Du meinst die Forschung, Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln im Rahmen des staatlichen Programms Fiocruz?

Ja, und Bangladesch und weitere Länder des Equity-Blocks haben sich zum Beispiel während der Verhandlungen des Pandemievertrags für die Einrichtung von Produktionsstätten für Pandemieprodukte weltweit und insbesondere in Regionen des globalen Südens eingesetzt. Diese Art von Vorschlägen ist aus regionaler Sicht wichtig, und es bedeutet auch, dass es mehr für alle gibt, und das ist ein Nettogewinn.

Das Gespräch führte medico-Gesundheitsreferent Felix Litschauer.

Veröffentlicht am 20. März 2024

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