Corona-Pandemie

Der Non-Waiver

Warum der Kompromissvorschlag für den Patent-Verzicht auf Corona-Impfstoffe für Afrika ein Problem ist. Interview mit Dr. Lauren Paremoer aus Kapstadt.

medico: Bereits im Oktober 2020 stellten die Regierungen von Südafrika und Indien bei der Welthandelsorganisation (WTO) einen Antrag auf eine global vereinbarte Verzichtserklärung („Waiver“) für Patente und andere Rechte des geistigen Eigentums auf Covid-19-Medizinprodukte. Nun liegt ein Kompromiss-Vorschlag vor. Wie schätzt das People's Health Movement den Vorschlag ein?

Lauren Paremoer: Der jetzt vorgeschlagene alternative Waiver ist aus unserer Sicht nicht wirklich ein Waiver. Die Ursprungsidee war es, ein gewisses Maß an Rechtssicherheit für den Technologietransfer, die Herstellung und den Vertrieb von Impfstoffen sowie Therapeutika und Diagnostika in der Pandemie zu schaffen. Davon ist in dem jetzt durchgesickerten Kompromiss leider nichts mehr zu erkennen.

Es gibt zwei Hauptprobleme: Erstens wird behauptet, dass Südafrika, Indien, die USA und die EU sich auf den Text geeinigt haben. Das ist aber nicht wirklich überzeugend, denn zumindest Indien und Südafrika haben den Text seit seinem Bekanntwerden nicht öffentlich unterstützt. Das könnte daran liegen, dass er vieles von dem, was die beiden Länder ursprünglich gefordert hatten, nicht enthält. Tatsächlich ist der geleakte Text eine Kombination aus der Forderung der EU nach Nutzung bestehender Spielräume mit einigen Änderungen bei den Ausfuhrbeschränkungen und der US-Position, sich auf Impfstoffe zu beschränken. Daher fragen wir uns, wie viel Konsens es tatsächlich gegeben hat.

Das andere Problem betrifft den konkreten Inhalt. Der Text ist auf Impfstoffe beschränkt, obwohl der ursprüngliche Vorschlag Südafrikas und Indiens viel umfassender war. Ich verdeutliche mal am Beispiel von Tests, warum diese Einschränkung so schwierig ist. Man braucht zum Beispiel Tests, um zu wissen, wo sich die Pandemie ausbreitet oder wie das genetische Profil des Virus aussieht, um Mutationen entdecken zu können. Der Zugang zu Tests ist auch besonders wichtig, um die Übertragung dort einzudämmen, wo Gesundheitsversorgung schwer zugänglich ist. Außerdem muss man bei den neuen Behandlungsmethoden innerhalb von fünf Tagen mit der Behandlung beginnen, damit sie wirksam sind. Man kann also nicht behandeln, wenn man sich zuvor nicht hat testen lassen. Testen, Impfen und Behandeln hängen zusammen, der aktuelle Entwurf beschränkt sich aber nur auf einen Teil des Problems, das Impfen.

Welche weiteren Abweichungen vom ursprünglichen Vorschlag gibt es und warum sind die problematisch?

Der Vorschlag ist insgesamt eine enorme Einschränkung des eigentlich geforderten Waivers, denn er gilt nur für Patente. Geistiges Eigentum, das z.B. für den Technologietransfer zur Ausweitung der Produktion benötigt wird, ist nicht eingeschlossen.

Es ist außerdem fraglich, für welchen Zeitraum das Abkommen gelten soll. Unklarheit besteht auch darüber, wer laut WTO überhaupt als Entwicklungsland zählt und damit am Ende tatsächlich von der Verzichtserklärung profitieren würde. Auch die Zusage, dass in sechs Monaten die Frage der Diagnostika und Therapeutika erneut geprüft werde, gibt uns Anlass zu großer Skepsis. Es hat ja jetzt schon so lange gedauert, bis dieser wirklich schlechte „Kompromiss“ vorgelegt wurde. Werden wir für Diagnostika und Therapeutika in sechs Monaten einen Text mit ähnlichen Einschränkungen vorgelegt bekommen? Das wäre ein großes Problem.

Wir sehen zudem die Gefahr, dass diese neue Vorgehensweise zum Präzedenzfall für künftige Pandemien wird. Viele Staaten und soziale Bewegungen haben explizit gefordert, dass das TRIPS-Abkommen (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights – handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums) der WTO bei Gesundheitskrisen von internationaler Bedeutung automatisch ausgesetzt wird. Das wäre ein viel umfassenderer Ansatz.

Welche Konsequenzen hätte der aktuelle Entwurf für die ärmeren Länder?

Für den afrikanischen Kontinent wäre es wirklich problematisch, wenn dieser Non-Waiver als Grundregel der Global Governance institutionalisiert würde. In der Erklärung von Doha aus dem Jahr 2001 beschlossen die Mitglieder der WTO nach heftigen Auseinandersetzungen den Vorrang des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gegenüber den Rechten an geistigem Eigentum. Bereits damals rang der Globale Süden vehement um dieses Zugeständnis einer ausdrücklichen Ausnahme für medizinische Notfälle.

In der Praxis ist die Regelung der Doha-Erklärung als auch die bereits vorgesehene TRIPS-Flexibilität nur schwer zu nutzen. Weil der aktuelle Vorschlag im Wesentlichen die bestehenden Konzepte bestätigt, ist das ist für den afrikanischen Kontinent wirklich schlecht. Selbst Südafrika, das über ein starkes Rechtssystem verfügt, hat sein innerstaatliches Patentrecht noch nicht so reformiert, dass es die TRIPS-Flexibilitäten voll ausschöpfen kann. Das heißt selbst wenn sich die Dinge auf globaler Ebene ändern, besteht auch auf nationaler Ebene die Notwendigkeit von Reformen, um die Flexibilitäten umzusetzen. Außerdem gehören viele Länder regionalen Blöcken an und haben regionale Vereinbarungen zur Regelung der Rechte an geistigem Eigentum (IPR), was die Sache noch komplexer macht.

Daher wäre eine Ausnahmeregelung, mit der all diese Vorschriften automatisch ausgesetzt würden, vermutlich einfacher umzusetzen als eine Regelung, die eine weitere Qualifizierungsebene in Bezug auf die Frage einführt, wer was unter welchen Umständen tun darf. Eine Maßnahme wie der ursprüngliche Waiver, die nicht nur den Verzicht auf Patente, sondern auch auf Urheberrechte, Geschmacksmuster und Geschäftsgeheimnisse vorsieht, gewährleistet zudem, dass diese anderen Aspekte der IPR nicht zu Hindernissen werden – was nach dem derzeitigen Text der Fall wäre.

Ist es so bahnbrechend, wie behauptet wird, dass Moderna sein Patent auf Impfstoffe für bestimmte Länder abgibt?

Wir wissen, dass Moderna Patente erwirbt, diese aber während der Pandemie nicht geltend macht. Es ist dabei ihre Ermessensentscheidung, wann sie mit der Durchsetzung von Patenten beginnen. Sie legen selbst fest, wann die Pandemie vorbei ist.

In Südafrika hat Moderna drei Patente angemeldet, die sehr breit gefasst sind. Das ist ein Problem, weil Südafrika im WHO-Zentrum für mRNA-Impfstoffe versucht, den Moderna-Impfstoff zu replizieren. Es könnte schwierig werden, in die kommerzielle Phase überzugehen, wenn Moderna sich entschließt, seine Patente in Südafrika durchzusetzen. In der Forschungs- und Entwicklungsphase verletzten die Forscher:innen nicht unbedingt Patentrechte. Aber sobald sie in die Kommerzialisierungsphase übergehen, könnten sie verklagt werden. Das ist ein großes Problem, denn es geht ja darum, Impfstoffe für den Markt zu entwickeln.

Warum sprechen wir hier eigentlich von einem Impfstoff, aber mehreren Patenten?

Ein Impfstoff hat Patente auf verschiedene Teilkomponenten, zudem kann es Patente auf das Verfahren geben. Wenn man zum Beispiel ein Patent auf ein Verfahren zur Herstellung eines mRNA-Impfstoffs hält, kann das auf jeden mRNA-Impfstoff angewandt werden. Wenn jemand einen Tuberkulose- oder HIV-Impfstoff entwickelt, der diese mRNA-Technologie nutzt, könnte es zu einem rechtlichen Konflikt kommen. Die Länder des Globalen Südens wären bei der Entwicklung von Impfstoffen für eine ganze Reihe von Krankheiten stark eingeschränkt.

Die Atmosphäre während des Gipfels der Europäischen mit der Afrikanischen Union im Februar war recht angespannt. Es scheint, dass die afrikanischen Regierungen zunehmend frustriert darüber sind, dass auf strukturelle Ungleichheiten immer wieder nur mit Wohltätigkeit agiert wird.

Die afrikanischen Staaten auf jeden Fall von COVAX enttäuscht worden, der Initiative bei der Weltgesundheitsorganisation, die auf dem gleichberechtigten Weiterverkauf freiwilliger Impfstoffspenden von Staaten, Pharmaindustrie und philantropischen Stiftungen basiert. Dass alle Länder für mindestens 20 Prozent der Bevölkerung bei COVAX einkaufen sollten, wurde von Ländern mit mittlerem Einkommen teilweise umgangen, um bilaterale Vereinbarungen zu treffen, aus Angst, am Ende der Warteschlange stehen zu müssen. Es gibt also definitiv ein Gefühl der Ernüchterung bei den Versuchen, durch diese multilateralen Mechanismen Solidarität zu schaffen. Angesichts dessen hat man sich dann sehr auf den Technologietransfer konzentriert.

Wie ungleich ist der Zugang zu Impfstoffen innerhalb des afrikanischen Kontinents und speziell Südafrikas?

Südafrika hat schon relativ früh ein bilaterales Abkommen geschlossen, um Impfstoffe von Pfizer und Johnson & Johnson zu beschaffen. Ein Großteil des Geldes für diese Geschäfte kam aus inländischen Quellen. Im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern hatten wir damit Glück. Aber so hat sich auch Südafrika schuldig gemacht, indem es COVAX umgangen hat. Es war abzusehen, dass COVAX unter Druck geraten könnte, Impfstoffe zu kaufen, wenn der gesamte Vorrat bereits durch diese bilateralen Geschäfte aufgebraucht war. Wir haben recht früh in der Pandemie genügend Impfstoffe beschafft, so dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung geimpft werden konnten.

In Südafrika ist der Impfstoff kostenlos. Das Problem ist jedoch, dass Menschen, die sich impfen lassen wollen, Kosten für die Anfahrt aufbringen müssen oder einen Internetzugang benötigen, um herauszufinden, wo Impfzentren geöffnet sind. Außerdem gibt es in ärmeren Gemeinden weniger Impfzentren. Es gibt definitiv eine Ungleichheit bei der Impfung entlang von Klassen- und Rassengrenzen, obwohl die Impfung selbst kostenlos ist.

Derzeit heißt es zunehmend, Covid-19 werde endemisch. Würdest du sagen, dass die Welt aus der Pandemie langsam zur „Normalität“ zurückkehrt?

Solange die Menschen keinen gleichberechtigten Zugang zu all den verschiedenen Technologien, Impfstoffen, Diagnostika und Therapeutika haben, gibt es keine Rückkehr zur Normalität. Ja, eine Bevölkerung mit hohem Impfschutz verfügt über ein gewisses Maß an Schutz gegen Covid-19, was bedeutet, dass die Menschen das Virus schneller aus ihrem Körper entfernen und die Wahrscheinlichkeit einer Mutation geringer ist. Ist das Virus jedoch in wenig geimpften oder immungeschwächten Bevölkerungsgruppen endemisch, haben die Menschen viel mehr Schwierigkeiten, das Virus zu bekämpfen, sodass das Risiko von Mutationen steigt. Mit dem Virus an Orten zu leben, an denen die Menschen nicht geimpft sind und über keine starken Abwehrkräfte verfügen, bedeutet etwas ganz anderes als in Bevölkerungsgruppen, die über starke Immunabwehrkräfte verfügen.

Solange diese Ungleichheit anhält, ist die Wahrscheinlichkeit weiterer Mutationen hoch und das wiederum ist ein globales Problem. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Impfung auf nationaler oder sogar regionaler Ebene einen ausreichenden Schutz vor einem weiteren Worst-Case-Szenario bietet.

Außerdem war vieles auch vor Covid schon nicht „normal“ – zum Beispiel das Wohlstandsgefälle, systemischer Rassismus und die durch den Klimawandel ausgelösten Katastrophen. Daher ist es problematisch, dass die Diskussion über „building back better“, die wir auf dem Höhepunkt der Pandemie geführt haben, jetzt völlig ignoriert wird. An ihre Stelle tritt nun zunehmend das Ziel eben dieser „Rückkehr zur Normalität“, als ob nicht schon die Zeit vor der Pandemie im Hinblick auf gesundheitliche Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit völlig problematisch gewesen wäre.

Interview: Anna Pagel und Julia Manek

Veröffentlicht am 30. März 2022

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