Türkei

Katerstimmung

Nach der Präsidentschaftswahl: In der Türkei sitzt Erdoğan weiter fest im Sattel, Nationalismus und extreme Rechte sind gestärkt.

Von Anita Starosta

Es waren wenige Wochen, in denen politische Exilant:innen die leise Hoffnung hegten, ihre Familie in der Türkei wieder besuchen zu können; in denen vorsichtig ausgesprochen wurde, dass die Tausenden politischen Gefangenen eine Chance auf Freilassung haben und es wieder möglich sein könnte, sich ohne Repression für Frauenrechte und Minderheiten einzusetzen. Kurz schien es vorstellbar, der Drohnenkrieg gegen Nordostsyrien könne enden und hunderttausend kurdische Flüchtlinge könnten in ein freies Afrin zurückkehren.

Auch im medico-Büro wurde verhalten spekuliert, ob wir unsere türkischen und kurdischen Partner:innen vielleicht bald ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen besuchen und öffentlich über ihre Arbeit sprechen könnten – ohne die Sorge, sie damit zu gefährden. All das speiste der Blick auf die Parlaments- und Präsidentschaftswahl am 14. Mai. Die Voraussetzungen für einen politischen Wandel schienen infolge des Jahrhunderterdbebens, des staatlichen Versagens bei der Nothilfe und der schlechten Wirtschaftslage günstig. Eine breite Opposition hatte sich auf den CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu als einzigen Präsidentschaftskandidaten geeinigt, bei Weitem kein Wunschkandidat aller. Doch der kurze Moment der Hoffnung ist großer Enttäuschung gewichen.

Zwar verfehlte Erdoğan beim ersten Wahlgang knapp die absolute Mehrheit. Doch schon am Abend des 14. Mai war klar geworden: Die türkische Bevölkerung hat mehrheitlich rechts gewählt. Sowohl das islamistisch-nationale wie auch das rechtsextreme Lager gingen deutlich gestärkt aus der Wahl hervor und dominieren weiterhin das Parlament. Es folgte ein zweiwöchiger Wahlkampf, in dem besonders Erdoğans Herausforderer Kılıçdaroğlu um die Wählerstimmen des rechten Ultranationalisten Sinan Oğan buhlte und die rassistische Hetze gegen syrische Flüchtlinge auf die Spitze trieb. Am Abend der Stichwahl setzte sich Erdoğan durch, auch eine große Mehrheit der im Ausland lebenden Türk:innen votierten für ihn. Seine Anhänger:innen feierten hier wie dort, selbst auf den Trümmern im Erdbebengebiet wurde gejubelt.

Unfaire Wahlen

Dass nicht einmal die Erdbebenkatastrophe – in der Millionen Menschen auch vom staatlichen Versagen unmittelbar betroffen sind – sowie eine extreme Wirtschaftskrise im Land mit einer Teuerungsrate von über 40 Prozent zur Abwahl des autoritären Herrschaftsapparats führt, wirft Fragen auf. Wie lässt sich der Wahlsieg des Autokraten Erdoğan erklären? Ansätze gibt es viele. Die Wettbewerbsbedingungen waren nicht gleichwertig, befand auch die Beobachtermission der OSZE des Europarates. Die Medien sind voreingenommen, 95 Prozent der Fernsehsender stehen unter Kontrolle des Staatsapparates. Die Meinungsfreiheit im Land ist eingeschränkt. Rassistische und kurdenfeindliche Übergriffe, homophobe Hetze und gezielte Desinformation waren Teil der Medienstrategie von Erdoğan und seinem Institutionenapparat. Bei der Wahl kam es zu den üblichen Unstimmigkeiten, Tweets und Meldungen über falsch gestempelte Stimmzettel, Übergriffe in Wahlbüros oder Behinderung der Wahlbeobachtung machten die Runde. Von fairen, freien Wahlen konnte keine Rede sein. All das ist bedeutsam und muss aufgeklärt werden. Dennoch lässt sich der Sieg des Autokraten und das Erstarken des Ultranationalismus sowie des politischen Islams damit nicht erklären.

Offensichtlich ist es Erdoğan gelungen, die Verantwortung für die Krisen zu externalisieren und damit von sich fernzuhalten. Eine altbekannte Strategie. An der Wirtschaftskrise seien diejenigen schuld, die eine große, starke Türkei verhindern wollen. Und das Erdbeben habe ein Ausmaß gehabt, dem kein Staat der Welt gewachsen gewesen wäre. Gleichzeitig konnte sich Erdoğan mit Versprechen für Wiederaufbau, Soforthilfen und Geldverteilung als großzügiger und fürsorglicher Landesvater inszenieren. Dass der Wiederaufbau sich über Jahre hinziehen wird, Betroffene sich für neue Wohnungen verschulden müssen und auch monetäre Hilfen nur über Kredite mit absurden Zinsen vergeben werden, wird dabei übersehen.

Der Sozialwissenschaftler Hamit Bozarslan erklärt den Wahlausgang mit Phänomenen, die sich in den Jahren der Erdoğan-Autokratie in der Gesellschaft verfestigt haben. Er sieht einen Verlust rationaler Fähigkeiten, ja eine „Verdummung“ in der Gesellschaft, die etwa in dem Erdbeben und seinen Folgen nur Schicksal erkennen kann. In affektgeladenen Krisenzeiten halten Bozarslan zufolge viele aus Angst an Altbewährtem fest. Eben das bedient auch der von Erdoğan postulierte neoosmanische Kurs unter Stärkung des politischen Islams. Die Berufung auf den türkischen Nationalismus – historisch eng verknüpft mit dem Genozid an den Armenier:innen und der Unterdrückung anderer Minderheiten, insbesondere der Kurd:innen – als Stabilitätsfaktor erkläre denn auch das strikte Festhalten an antikurdischen und rassistischen Grundhaltungen. In Bozarslans Perspektive bedarf es einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation, die über Wahlen alleine nicht erreicht werden kann. Zur Überwindung des Konservatismus und des radikalen Nationalismus sei eine „demokratische Befreiungspädagogik“ nötig. Es brauche neue Freiräume, für das Denken, die Sprache, die Kritik und den Körper – eine demokratische Revolution. Keine leichte Sache, aber für weniger sind Demokratie und Freiheit in der Türkei wohl nicht zu haben.

Psychosoziale Hilfe Im Erdbebengebiet

Die Schrecken des Erdbebens haben die Menschen in der Region traumatisiert. Die Katastrophe wirkt nach und belastet bis heute. Hunderttausende leben in notdürftigen Zeltlagern oder Containern. Die Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen der neuen medico-Partnerorganisation ROSA aus Diyarbakir berichten von zahllosen Problemen und Konflikten. Und wie so oft sind es die Frauen, die einen Großteil der Lasten tragen, sich um Kinder und die Bewältigung des Alltags kümmern und dabei ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellen. Sie zu unterstützen hat sich die Frauenorganisation zur Aufgabe gemacht. Mit medico-Unterstützung schafft ROSA in einem Zeltlager in Adiyaman Rückzugsorte für Frauen. In eigens ausgestatteten Containern bieten sie dort psychosoziale Beratung sowie Workshops zu Frauenrechten und -Gesundheit an. Leicht ist diese Arbeit nicht. Immer wieder steht ROSA sowie viele andere zivilgesellschaftliche Organisationen – im Fokus staatlicher Repressionsorgane.

Selbstkritik

Für die linke Opposition ist der Wahlausgang eine Niederlage. Unter Führung der progressiven und prokurdischen HDP musste sie unter extrem schwierigen Bedingungen Wähler:innen mobilisieren. Um einem anstehenden Parteiverbot zu entgehen, hatten sie in den Monaten zuvor unter Hochdruck an dem Aufbau der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti) gearbeitet – ein Kraftakt, zumal knapp 4.000 Parteimitglieder sowie führende -funktionär:innen in Haft sind (seit 2016 sind über 25.000 Parteimitglieder kurz-, mittel- oder langfristig inhaftiert worden). Hinzu kommt, dass das Kerngebiet der Partei nach dem Erdbeben in der Südosttürkei quasi in Trümmern liegt und fast alle Aktiven in den Monaten vor der Wahl in zivilgesellschaftliche Hilfsmaßnahmen eingebunden waren.

Dass Kılıçdaroğlu bei der Stichwahl in vielen der kurdischen Städte über 70 Prozent der Stimmen erhielt – mehr als in den Gebieten seiner Stammwählerschaft im Westen des Landes –, zeigt, wie groß der Wunsch nach Abwahl Erdoğans dort ist. Die Grüne Linkspartei kam landesweit jedoch nur auf knapp neun Prozent der Stimmen, drei Prozent weniger als die HDP fünf Jahre zuvor. Mit ihrem auf Demokratisierung setzenden Ansatz hat sie die Gesellschaft nicht erreicht. Der ehemalige Parteivorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, dessen unrechtmäßige Inhaftierung vom Europäischen Gerichtshof erst kürzlich einmal mehr festgestellt wurde, fasste es nach der Wahl so zusammen: „Wenn man der Bevölkerung, die der kapitalistischen Moderne verfallen ist, die demokratische Moderne nicht erklären und keine Alternative für ein gutes und ehrenvolles Leben anbieten kann, ist der gesellschaftliche Zusammenbruch unausweichlich.“ Einige Tage später erklärte er seinen vorläufigen Rücktritt aus der aktiven Parteipolitik. Auch die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP, Pervin Buldan und Mithat Sancar, kündigten an, nicht mehr für den Parteivorsitz anzutreten.

Bedrohte Zivilgesellschaft

Die Unterstützung zivilgesellschaftlicher und humanitärer Arbeit in der Türkei wird weiter extrem schwierig bleiben. Die lokalen Partner:innen von medico stehen nach der Wahl mehr denn je unter Druck der staatlichen Repression und müssen Behinderungen fürchten. Dabei ist ihr Einsatz besonders in den stark vom Erdbeben betroffenen Gebieten für viele überlebenswichtig. Vier Monate nach der Katastrophe hat sich an der Notlage hunderttausend obdachlos Gewordener wenig geändert. Container wurden aufgestellt und Zeltlager errichtet. Doch vor allem in den zerstörten Dörfern der Alevit:innen und Kurd:innen kommt kaum staatliche Unterstützung an. Es sind weiterhin lokale Helfer:innen, die Essenspakete packen und Trinkwasser verteilen, auch mit Unterstützung von medico-Spenden. Zwar sei der unmittelbare Schock bei den Betroffenen überwunden und gelinge es, das Überleben zu organisieren, berichten sie. Die Frustration über die Perspektivlosigkeit der Situation sei jedoch extrem. Der versprochene Wiederaufbau findet nur dort statt, wo er staatlichen Nutzen bringt. Obdachlosen Dorfbewohner:innen wird angetragen, ihre Dörfer zu verlassen, um in neue Wohnkomplexe in Städte zu ziehen und sich für die neuen Wohnungen zu verschulden, auch um eine demografische Veränderung in der Region voranzubringen.

Längst ist klar: Das Regime nutzt das Erdbeben. Mancherorts wird Hilfe gezielt geleistet, um Zustimmung zu erzeugen. Andernorts wird Hilfe verzögert oder verwehrt, um lokale Strukturen aufzuweichen und widerständige Gebiete zu schwächen bis hin zu entvölkern. Die Katastrophe ist noch lange nicht vorbei, weder die Not in den Erdbebengebieten noch der politische Spuk in Ankara.

Die medico-Partner:innen in der Südosttürkei leisten seit dem Erdbeben und bis heute Nothilfe, verteilen Essenspakte, Wasser und kümmern sich um die Unterbringung. Mit ROSA unterstützt medico nun auch ein psychosoziales Projekt im Erdbebengebiet.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 29. Juni 2023

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Türkei, Nordsyrien und den Irak zuständig.

Twitter: @StarostaAnita


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