medico: Seit zwei Jahren begleitet ihr schwangere Menschen, wenn sie über einen Abbruch nachdenken oder sich bereits dazu entschlossen haben. Wie ist Aborteras del Norte (dt.: Abtreiber:innen des Nordens) entstanden?
Aborteras del Norte*: Entstanden ist die Initiative nach einem Workshop zu reproduktiver Gesundheit, bei dem Genoss:innen der Marea Verde Chihuahua, einer Lokalgruppe der lateinamerikaweiten Bewegung für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, ihre Erfahrungen und ihr Wissen zu Abbrüchen weitergegeben haben. Dort haben wir uns kennengelernt und schnell gemerkt, dass wir in Ciudad Juárez Strukturen für die Begleitung von Schwangerschaftsabbrüchen brauchen, denn zwar waren in der Stadt immer wieder Kollektive und Gruppen aktiv, aber die Arbeit kann sehr herausfordernd sein. Viele Gruppen lösen sich aus unterschiedlichen Gründen wieder auf oder werden kriminalisiert. Davon haben wir aber erst nach und nach erfahren. Es gibt zwar einzelne Personen, die Abbrüche begleiten, wir sind jedoch die einzigen, die hier in der Gegend die Begleitung als Kollektiv organisieren. Obwohl wir nur zu sechst sind, haben wir haben in den letzten zwei Jahren 700 Fälle begleitet.
Warum habt ihr das Kollektiv gegründet?
Es gibt eine große Leerstelle, nicht nur bezüglich der Begleitung der Abbrüche selbst, sondern auch was den Zugang zu Informationen betrifft. Es gibt sehr viel falsche Informationen über Schwangerschaft, Abbrüche und alles weitere, was reproduktive Gesundheit umfasst. Wir wollen auch verhindern, dass Menschen in solch einer Situation, die durchaus überfordernd sein kann, an eines der unzähligen „pro life“-Netzwerke geraten, die den Schwangeren einreden, dass Abtreibungen inakzeptabel und sündhaft seien. Letztlich geht es darum, den Schwangeren die Angst zu nehmen, damit sie möglichst selbstbestimmt Entscheidungen treffen können.
Wie kann ich mir eure Arbeit konkret vorstellen?
Erstmal haben wir alle das Recht, über unsere Körper zu entscheiden. Das sollten alle tun können. Das bedeutet auch, dass wir nichts Verwerfliches tun, wie es oft dargestellt wird, sondern wir einfach nur dafür sorgen, dass diejenigen, die uns kontaktieren, von diesem Recht Gebrauch machen können, wenn ihnen andere Wege verwehrt sind. Obwohl das Oberste Gericht in Mexiko den Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs innerhalb der ersten drei Monate als verfassungswidrig erklärt hat, haben viele Schwangere dennoch kaum Zugang zu Abbrüchen und den relevanten Informationen. Die Risiken eines medikamentösen Abbruchs sind sehr überschaubar, jedoch für viele emotional und psychisch eine komplexe Situation. Wir wollen, dass die Menschen in dem gesamten Prozess all die Medikamente und Informationen erhalten, um darin selbstbestimmt handeln können.
Die meisten Fälle, die uns erreichen, sind zwischen der fünften und der zehnten Woche. Wir versorgen die Personen dann mit den nötigen Infos und stellen ihnen, wenn nötig, die Medikamente zur Verfügung. Dabei begleiten wir ausschließlich virtuell und bis zur zwölften Schwangerschaftswoche. Abbrüche nach der zwölften Woche sind medizinisch weitaus komplizierter und dafür sind wir nicht ausgebildet, obwohl einige von uns Medizinerinnen sind. Wenn uns Fälle jenseits der zwölften Woche erreichen, leiten wir sie an andere Beratungsstellen weiter und sorgen dafür, dass sie eine angemessene Begleitung bekommen.
Häufig erreichen uns Anfragen von Schwangeren, die sich einen Abbruch nicht leisten können. Beim medikamentösen Abbruch, den die meisten wählen, betrifft das vor allem die Kosten für die Medikamente Mifepriston und Misoprostol, aber auch Produkte für die Nachsorge. Für sie haben wir immer kleine Pakete vorrätig, die all die Produkte enthalten, die während eines Abbruchs Zuhause notwendig sein können. Neulich haben wir bei einem feministischen Basar mitgemacht und konnten mit den Einnahmen eine Reihe neuer Medikamenten-Kits zusammenstellen.
Man kann am besten über Social Media mit euch Kontakt aufnehmen. Wer schreibt euch an und nimmt eure Begleitung in Anspruch?
Die Schwangeren, die uns anschreiben, kommen aus allen Schichten. Mittlerweile erhalten wir auch deutlich mehr Anfragen aus den USA. Uns schreiben auch Migrant:innen an, die auf dem Weg in die USA sind. Die Menschen aus Juárez, die uns kontaktieren, gehören allen Altersklassen an, aber die meisten sind eher jung. Genaue Zahlen dazu haben wir nicht, weil wir abgesehen von Vorerkrankungen, Blutgruppe und Allergien keine Daten erheben. Wenn jemand anonym bleiben will, muss das möglich sein. Viele erzählen uns dennoch ihre Geschichte. Häufig sind das junge Frauen, die noch zur Schule gehen und kein Geld für eine Abtreibung haben. Nicht selten kommen Betroffene sexualisierter Gewalt auf uns zu und wollen den Abbruch ohne das Wissen des Täters durchführen. In diesen Fällen klären wir ausführlich über das Recht auf medizinische Versorgung und juristische Möglichkeiten auf. Die meisten sehen aber von Anzeigen ab und wollen auch keinen operativen Abbruch beantragen – was ihnen rechtlich zustünde –, um nicht auch noch stigmatisiert oder gar kriminalisiert zu werden.
Diese praktische Unterstützung bei Schwangerschaftsabbrüchen hat eine lange Tradition in feministischen Kämpfen. Auch hier in Europa gibt es Netzwerke, die ungewollt Schwangere unterstützen, so zum Beispiel in Polen. Was wisst ihr über die Geschichte solcher Netzwerke?
In den 1980er Jahren haben Schwarze Frauen in Brasiliens Favelas herausgefunden, dass Misoprostol, das eigentlich als Magenmedikament zugelassen ist, auch für einen sicheren und wirksamen Schwangerschaftsabbruch eingesetzt werden kann, weil es bestimmte Hormone blockiert. Es waren also weder Forschung noch Pharmaunternehmen, die diese günstige und relativ simple Methode entdeckt haben, sondern diejenigen, die am wenigsten Zugang zum Gesundheitssystem haben.
Dieses Wissen hat sich von dort aus schnell verbreitet, bis nach Mexiko und in die ganze Welt. Die Arbeit der Netzwerke zeichnet sich auch dadurch aus, Wissen und Erfahrungen zugänglich zu machen. Das ist auch ein wichtiger Grundsatz der Arbeit von Aborteras del Norte. Wir vernetzen uns kontinuierlich mit anderen Kollektiven und Gruppen, fragen nach und werden angefragt. Es gibt immer Besonderheiten bei Fällen. Seien es juristische Fragen oder logistische Herausforderungen in der Begleitung. Es geht darum, Wissen zu kollektivieren – das zeichnet unsere Arbeit im Kollektiv und die Arbeit der Netzwerke bis heute aus. Das ist auch insofern besonders relevant, weil es in der Forschung eine große Leerstelle bei Themen der reproduktiven Gesundheit gibt. In den meisten Ländern sind Schwangerschaftsabbrüche nicht einmal fester Bestandteil des Medizinstudiums.
Ihr habt bereits darauf verwiesen: In Mexiko hat der Oberste Gerichtshof 2021 entschieden, dass die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen verfassungswidrig ist. Argentinien hat ungefähr zur gleichen Zeit eines der progressivsten Abtreibungsgesetze der Welt verabschiedet. Diese Errungenschaften wären ohne den Druck einer strategisch breit aufgestellten feministischen Bewegung in Lateinamerika nicht möglich gewesen, die Ni una menos-Bewegung ist zum weltweiten Bezugspunkt geworden. Ein Jahr später wurde in den USA Roe v. Wade gekippt, die über 50 Jahre alte Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs zum Recht auf Schwangerschaftsabbrüche. Wie erklärt ihr euch diese gegensätzlichen Richtungsentscheidungen?
Neulich haben wir gelesen, dass Trump Frauen mit einer Ehrenmedaille auszeichnen will, wenn sie viele Kinder bekommen. Das ist fast surreal. Wir haben, schon nachdem Roe v. Wade gekippt worden ist, vermehrt Anrufe aus den USA bekommen. Wir denken, hier an der Grenze wird unsere Arbeit komplexer. In Mexiko haben wir zwar mit dem Urteil des Gerichtshofs die rechtliche Grundlage für Abtreibungen, aber der Zugang zu ihnen fehlt. Neben den bürokratischen Hürden erleben die Betroffenen zusätzlich eine Reviktimisierung und Demütigungen auf den Ämtern und in Kliniken. Die meisten wissen das und entscheiden sich deshalb für den selbstbestimmten Abbruch Zuhause.
Wir arbeiten vor allem im nördlichen Bundesstaat Chihuahua, der an Texas in den USA grenzt. Die Gegend hier ist extrem konservativ, der Einfluss evangelikaler Gruppen ist enorm, und die Landesregierung von Chihuahua stellt sich offen gegen das Recht, selbst über den eigenen Körper entscheiden zu können, gegen die Ehe für alle und auch gegen Grundrechte für Migrant:innen. Im Bereich reproduktiver Rechte oder der sexuellen Selbstbestimmung queerer Menschen machen wir häufig einen Schritt vor, erkämpfen wichtige Errungenschaften, um dann wieder zwei Schritte zurückgedrängt zu werden. Hier in Chihuahua wurde zwar im vergangenen Jahr ein Gesetz zur Legalisierung von Abbrüchen verabschiedet. Aber danach folgte eine Welle von Desinformationskampagnen und die extrem konservative Landesregierung hat chaotische Verfahren eingeführt, die absichtlich nur Verwirrung schaffen.
Die Entwicklung in den USA und in Mexiko ist trotz allem eng miteinander verbunden, was es für Kollektive wie uns und Initiativen, die zu reproduktiven Rechten arbeiten, komplizierter macht: In Mexiko werden Mittel gestrichen und zivilgesellschaftliche Organisationen geraten zunehmend unter Druck. Während das früher mit Unterstützung aus den USA abgefedert werden konnte, ist dieser Zugang heute komplett blockiert. Es ist also eine sehr besorgniserregende Lage. Gleichzeitig gibt es spannende Entwicklungen: Inzwischen kommen Menschen aus den USA nach Mexiko, um den Abbruch vornehmen zu lassen, weil es hier sicherer ist. Zwar gibt es viele Webseiten in den USA, die auch Medikamente für den Schwangerschaftsabbruch verschicken. Manche liefern allerdings nicht in Städte oder Bundesstaaten, in denen es komplett verboten ist, wie in Texas.
Wie geht es für euch weiter?
Wir gehen davon aus, dass wir in Zukunft noch mehr zu tun haben werden. Es ist aber kein Moment, um den Mut zu verlieren – im Gegenteil. Entlang der gesamten Grenze gibt es starke Netzwerke, die Schwangerschaftsabbrüche begleiten – und wir werden unsere Arbeit fortsetzen, uns besser vorbereiten, uns besser vernetzen. Frauen und gebärfähige Personen treiben seit Tausenden von Jahren ab – und sie werden es auch weiterhin tun. Auch wenn der Staat, die Kirche oder wer auch immer es verbieten will – wir werden Wege finden, sie dabei zu unterstützen.
*An dem Gespräch nahmen mehrere Mitglieder von Aborteras del Norte teil. Sie antworten als Kollektiv.
Das Interview führte Jana Flörchinger.
Übersetzung: Oscar Herzog Astaburuaga