Nahost

Die Einsamkeit der israelischen Linken

22.05.2025   Lesezeit: 10 min  
#gesundheit  #autoritarismus 

Über die Arbeit der medico-Partnerorganisation "Physicians for Human Rights – Israel" in Zeiten völlig enthemmter Gewalt.

Von Katja Maurer

Es gibt keine Stadt in der Welt, in der man die Welt so gut vergessen kann, wie in Tel Aviv. Die Weiße Stadt ist wieder hergerichtet, soweit sie als Bauhaus-Monument unter das Weltkulturerbe fällt. Der Rest der Stadt unterliegt einem ständigen Bauboom. Wohnhochhäuser mit geschwungenen Fassaden und Balkonen in schwindelerregender Höhe schießen aus dem Boden. Die fünfgeschossigen Plattenbauten – auf quadratischen Säulen fußend, sodass im Erdgeschoss Cafés, Geschäfte oder Gemeinschaftseinrichtungen einziehen konnten – waren ebenfalls einst Bauhaus-Idee. Doch auch sie verschwinden Schritt für Schritt und an ihrer Stelle werden neue Häuser mit einem Vielfachen an Wohnungen gebaut. Tel Aviv verspricht mit seinen Cafés und Restaurants, seiner Jeunesse dorée, die ihren Tag mit Surfen am Strand beginnt, einen endlosen Fortschritt in sonniger Mittelmeeratmosphäre.

Dieser bedingungslose Fortschrittsglaube endet an der Tür der Physicians for Human Rights – Israel, den Ärzt:innen für Menschenrechte. Das Büro liegt im Erdgeschoss eines älteren Wohnhauses, in dem früher kleine Läden waren. Es steht in Jaffa, jener antiken Hafenstadt, die noch vor der Staatsgründung Israels im April 1948 von zionistischen Milizen angegriffen und am 14. Mai schließlich eingenommen wurde. Heutzutage gehört sie zu Tel Aviv. Guy Shalev ist Direktor der Organisation. Seine Abschlussarbeit als Anthropologe schrieb er über palästinensisches Personal im israelischen Gesundheitswesen. Das Gespräch mit ihm war wie ein Gang durch die Hölle. Tür für Tür.

Am Abend zuvor waren die Physicians wie jeden Samstag auf der Protestdemonstration gegen Netanjahu. Sie hatten insbesondere Ärzt:innen und medizinisches Personal aufgerufen, im Namen der ärztlichen Ethik gegen den israelischen genozidalen Krieg in Gaza zu protestieren. „Wir waren fast 100 Leute“, sagt Shalev. „Das war mehr als wir erwartet hatten.” An regierungskritischen Demonstrationen beteiligen sich jeden Samstag Zehntausende – mit einer beeindruckenden Beharrlichkeit, aber auch mit einer beeindruckenden Ignoranz gegenüber dem israelischen Vorgehen in Gaza. Erfolg ist für die israelische Linke ein relatives Kriterium. Sie passe in eine Telefonzelle, hatte der Historiker Moshe Zuckermann schon vor Jahren gesagt.

Glaubt Shalev, dass diese Demonstrationen etwas erreichen können? „Ich habe gar keine Hoffnung", sagt er geradeheraus. Die Zeit des Schönredens sei in Israel schon lange vorbei. Es sei wichtig auf die Straße zu gehen und in ihrem Fall die medizinische Gemeinde für die Unterstützung ihrer Kolleg:innen in Gaza zu gewinnen. Aber: „Wir befinden uns an einem Punkt der israelischen Politik, da diese Proteste der Regierung vollkommen egal sind. Seit der Entlassung des Generalstabschefs und des Geheimdienstchefs haben die äußerst Rechten die endgültige Kontrolle. Ich bin nicht einmal sicher, ob es noch einmal freie Wahlen in Israel geben wird.”

Zielscheibe Gesundheit

Die Frage der medizinischen Ethik beschäftigt die Menschenrechtsorganisation seit ihrer Gründung. Die Psychoanalytikerin Ruchama Marton hatte sie 1988 mit der Berufung auf die ärztliche Ethik gegründet, und damals die Beteiligung von israelischen Ärzt:innen an Folterpraktiken gegen Palästinenser:innen öffentlich gemacht. Ärzt:innen hatten in medizinischen Gutachten festgestellt, dass der Gesundheitszustand von Gefangenen eine weitere Folter erlaube. Das brachte den Physicians den Vorwurf der Nestbeschmutzung ein. Ihre Arbeit bewegt sich bis heute im Rahmen dieser historischen Tradition. So auch der gerade vorgelegte Bericht über Folter an medizinischem Personal aus Gaza in israelischen Gefängnissen. Auf den Punkt gebracht bestünden die Bedingungen ihrer Inhaftierung, so Shalev, aus „Folter, Aushungern und Verweigern medizinischer Hilfe.“ 

Drei Ärzte und ein Gesundheitsarbeiter sind seit dem Gaza-Krieg in israelischen Gefängnissen ums Leben gekommen. Bei zwei Ärzten hätten gesundheitliche Probleme bereits vorgelegen. Der dritte sei offenkundig gefoltert und möglicherweise auch sexuell missbraucht worden, sagt Shalev. Die Angehörigen hätten aber einer Autopsie seines Leichnams durch israelische Behörden nicht zugestimmt, sondern eine unabhängige internationale Untersuchung gefordert. Die systematischen Folterpraktiken in israelischen Gefängnissen belegen die Zeugenaussagen, die in dem Bericht zu Wort kommen. 

150 Gesundheitsarbeiter befinden sich noch in Haft. Darunter auch der Direktor des Kamal Adwan Krankenhauses aus Gaza, Hussam Abu Safiya. Seine Verhaftung nach der Zerstörung des Krankenhauses ging durch die Weltpresse. Ein gebeugter und zugleich unbeugsamer Mann in weißem Kittel, der allein durch die Trümmer Gazas auf das israelische Militär zugeht. Seit seiner Verhaftung Ende Dezember 2024 sind unter anderem die Physicians for Human Rights und die palästinensische Menschenrechtsorganisation Al Mezan – beides Partner von medico international – immer wieder  auf der Suche nach dem Ort seines jeweiligen Gefängnisaufenthalts gewesen.

Monatelang konnten sie lediglich in Erfahrungen bringen, dass er die berüchtigtsten Gefängnisse hat durchlaufen müssen, in denen Misshandlungen und Verweigerung medizinischer Hilfe auf der Tagesordnung stehen. Shalev geht davon aus, dass man ihn unter Druck setzen wollte, um ihn zu einem “Geständnis” zu zwingen. Offenbar sei das nicht gelungen. Immerhin wüssten sie jetzt, wo sich Hussam Abu Safiya aufhalte. Das habe die internationale Aufmerksamkeit für seinen Fall erreichen können.

In einem anderen Fall, der durch die Weltpresse ging, konnten die die Physicians for Human Rights für Aufklärung sorgen. An der Autopsie des 17-jährigen Teenagers Walid Ahmad nahm in ihrem Auftrag Dr. Solomon teil, der das Befürchtete bestätigte. Der wegen Steinewerfens in der Westbank festgenommene Teenager verbrachte sieben Monate in Administrativhaft, eine Haft ohne Anklage, bevor er starb. Solomon berichtete nach seiner Autopsie, dass der Körper Ahmads, der jüngste unter den palästinensischen Toten in israelischen Gefängnissen, Anzeichen extremer Unterernährung, Muskelschwund und Entzündungen an der Wirbelsäule sowie Krätze aufwies. Der extreme Gewichtsverlust deute auf einen seit Monaten anhaltenden Krankheitsverlauf hin. Sein Vater Khalid Ahmad hat bis heute nicht die Leiche erhalten. „Mein Sohn war ein Gymnasiast, der Fußball liebte”, sagte er. „Im israelischen Gefängnis zählt ein Menschenleben nichts.” 

Eine Gewalt, die sich nicht mehr rechtfertigen muss

„Das Böse”, sagt Shalev, „ist gerade dabei, in Israel zu gewinnen.” Fortan müssen jene, die Böses tun, ihre eigenen Verbrechen nicht mehr legitimieren. Sie hätten ohnehin keine rechtlichen Konsequenzen zu befürchten. Das zeige sich auch an den 15 durch die israelische Armee ermordeten und verscharrten palästinensischen Sanitätern Ende März. Seit Trump in den USA wieder Präsident ist, fühle sich die Regierung in Israel sicherer als zuvor. 

Für Shalev befinden wir uns in einem äußerst kritischen Moment. Dass Nethanjahu trotz des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofes nach Ungarn reiste und möglicherweise auch nach Deutschland komme, macht alle Bemühungen, wenigstens das Allerschlimmste zu verhindern, zunichte. Nie seien sie so allein gewesen wie heute, meint Shalev. Niemand verbreite mehr ihre Stimmen. „Es gibt keine internationale Gemeinschaft mehr, auf die wir vertrauen können.” Die Physicians müssten sich die Frage stellen, wie sie weiterarbeiten werden in dem Bewusstsein, dass sie nichts erreichen könnten, dass all die Berichte, die sie veröffentlichten, keine Wirkung hätten, weil es kein globales Rechtssystem mehr gäbe. 

Schon der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf den Süden Israels stellte die Physicians vor eine nie gekannte Herausforderung. Von den 39 Mitarbeiter:innen, aber auch im ehrenamtlichen Vorstand sind jeweils die Hälfte Palästinenser:innen und Jüd:innen aus Israel. Es sei eine harte Erfahrung gewesen. Damals habe es im Team sehr unterschiedliche Trauerprozesse gegeben. „Wir mussten uns sehr stark mit uns selbst beschäftigen.” Der Prozess aber habe die Organisation gestärkt. „Wir praktizieren hier keine Ko-Existenz, sondern Ko-Resistenz”, sagt Shalev. Das ist einer der wenigen optimistischen Sätze von ihm an diesem Nachmittag. Tatsächlich haben die Physicians nach dem 7. Oktober eine der wichtigsten Erklärungen herausgegeben, in der es unter anderem heißt, dass sich ein Verbrechen nicht durch ein anderes rechtfertigen lasse.

Ihre Arbeit bewegt sich zwischen der Klarheit über die Aussichtslosigkeit des politischen Prinzips, das sie trotzdem unter allen Umständen verteidigen, und dem Weitermachen in der konkreten Hilfe, die unter allen Umständen Sinn macht. Das Weitermachen zeigt sich unter anderem in den Mobilen Kliniken im Westjordanland, zu deren Unterstützung medico 2003 im Rahmen des Aufrufs "Zeichen paradoxer Hoffnung" Spenden gesammelt hatte. Zwei Mal die Woche sind diese Kliniken noch immer unterwegs, noch immer gemeinsam organisiert mit der Hilfsorganisation Palestinian Medical Relief, aber meist direkt mit den palästinensischen Gemeinden, die die medizinischen Bedarfe vorher feststellen.

Diese Mobilen Kliniken seien wichtiger denn je, meint Shalev, denn es gäbe einfach nicht genug medizinische Versorgung im Westjordanland. Im Pool der Freiwilligen sind über 500 jüdische und palästinensische Kolleg:innen, die daran teilnehmen könnten. Lange, so Shalev, seien die Touren berechenbar gewesen. Man sei um 8 Uhr losgefahren und um 17 Uhr wieder zu Hause gewesen. Nun aber eskaliere auch im Westjordanland die Besatzung derart, dass man ständig auf neue Checkpoints stoße und oft erst spät am Abend zurückkehre. „Dann geraten viele Ärzt:innen, die das neben ihrer Arbeit im Krankenhaus machen, an ihre Grenzen.” Nichtsdestotrotz laufen sie weiter.

Verrohung der Mehrheitsgesellschaft

Zu schaffen machen der Organisation die Angriffe auf palästinensische Ärzt:innen und Gesundheitsarbeiter:innen in Israel. „Seit dem 7. Oktober haben sie kein Recht auf Meinungsfreiheit”, sagt Shalev verzweifelt. Dass einigen Kolleg:innen wegen eines Posts in den sozialen Medien gekündigt worden sei habe genügt, um die ganze Community zum Schweigen zu bringen. Dabei sei das israelische Gesundheitssystem von den palästinensischen Mediziner:innen abhängig.

Doch wenn man sich vorstelle, dass 80 israelische Ärzt:innen explizit zur Zerstörung der Krankenhäuser in Gaza aufgerufen hätten, dann bekomme man eine Vorstellung von der gegenwärtigen Atmosphäre, sagt Shalev. Auch weigerten sich israelische Krankenhäuser, palästinensische Gefangene zu behandeln. Einen gefolterten Gefangenen habe man seinen Folterern zurückgebracht mit der Begründung, er sei eine Gefahr für die Sicherheit. Das unterlaufe alle Standards der Medizin-Ethik, wie die Physicians in einem Offenen Brief an die Unterzeichnenden antworteten. Die Verrohung der israelischen Mehrheitsgesellschaft, in der die Dehumanisierung der Palästinenser:innen eine neue Dimension erreicht hat, zeigt sich in diesem moralischen Versagen.

Trotzdem muss sich die medizinische Menschenrechtsorganisation schon auf die nächsten Hürden einstellen. Gerade wird in der Knesset ein Gesetz zur Abstimmung vorbereitet, das vorsieht, dass staatliche Zuschüsse aus dem Ausland an NGOs in Israel mit einer Steuer in Höhe von 80 Prozent belegt werden. Da das Gesetz nur für NGOs gelten soll, die nicht auch staatliche Mittel des israelischen Staates bekommen, beträfe es im Grunde ausschließlich menschenrechtlich orientierte Organisationen. Regierungsnahe Organisationen werden ausgenommen. Vor zwei Jahren wurde das Gesetz noch aufgrund internationalen Drucks auf Eis gelegt.

Jetzt aber ist die Zeit des Anything Goes, die Zeit, in der sich das Böse für sein Tun nicht mehr rechtfertigen muss. Trotz allem lässt sich Guy Shalev davon nicht aus der Ruhe bringen: „Wir stehen in Kontakt mit medizinischen Menschenrechtsorganisationen in Osteuropa und lernen von ihnen, wie man auch in diesen enger werdenden Räumen weiter arbeitet.” Trotzig sagt er, dass ihn das eher motiviere. „Ich habe das Gefühl, dass ich etwas tue, was so wichtig ist wie noch nie. Wenn wir das nicht tun, wird niemand es tun. Ich hoffe nur, dass wir auf diesem Weg nicht auch noch im Gefängnis landen.”

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Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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